Schätzung – und die Grundlage richterlicher Überzeugungsbildung

Im Unterschied zu den strengen Anforderungen des § 286 Abs. 1 ZPO genügt für eine Schätzung eine erhebliche, auf gesicherter Grundlage beruhende Wahrscheinlichkeit für die richterliche Überzeugungsbildung.

Schätzung – und die Grundlage richterlicher Überzeugungsbildung

Der revisionsrechtlichen Überprüfung unterliegt dabei, ob das Tatsachengericht alle wesentlichen Bemessungsfaktoren berücksichtigt oder der Schätzung unrichtige oder unbewiesene Anknüpfungstatsachen zugrunde gelegt hat und damit die Schätzung mangels konkreter Anhaltspunkte völlig „in der Luft hängt“, also willkürlich ist1.

Daran gemessen hängt in dem hier vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Streitfall die in der Berufungsinstanz vom Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg2 vorgenommene Schätzung völlig „in der Luft“. Das Landesarbeitsgericht hat im angefochtenen Urteil keinerlei belastbare Anknüpfungstatsachen für seine Schätzung dargetan. Es mag nach der allgemeinen Lebenserfahrung wenig glaubhaft erscheinen, dass die Klägerin über Wochen hinweg täglich 24 Stunden Arbeitsleistung – und sei es teilweise in Form von Bereitschaft – erbracht hat. Das Landesarbeitsgericht legt aber nicht offen, aufgrund welcher festgestellten Tatsachen oder konkreten Anhaltspunkte es annimmt, die Klägerin habe sich täglich für eine Stunde innerhalb der Wohnung der zu betreuenden Person der jederzeitigen Arbeitsaufnahme entziehen und täglich zwei Stunden die Wohnung ohne die zu betreuende Person zum Zwecke der Freizeit verlassen können. Soweit es ausführt, es gehe um die Möglichkeit der Klägerin, sich sowohl innerhalb der Wohnung beispielsweise für ein ausgiebiges Bad oder Telefongespräche der jederzeitigen Arbeitsaufnahme zu entziehen oder auch die Wohnung für eine beschränkte Zeit zu verlassen, etwa um sich mit Bekannten oder Freunden zu treffen oder einen Spaziergang zu machen, gibt es hierfür im Sachvortrag der Parteien keinerlei Tatsachengrundlage. Die Schätzung hängt damit völlig „in der Luft“. Eine nicht fernliegende Anhörung der Klägerin hierzu (§§ 141, 137 Abs. 4 ZPO) ist nicht erfolgt.

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Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 24. Juni 2021 – 5 AZR 505/20

  1. vgl. BAG 31.03.2021 – 5 AZR 148/20, Rn. 34; 26.10.2016 – 5 AZR 168/16, Rn. 37, BAGE 157, 116; BGH 12.07.2016 – KZR 25/14, Rn. 49, BGHZ 211, 146[]
  2. LAG Berlin-Brandenburg 17.08.2020 – 21 Sa 1900/19[]