Die Entscheidung des Arbeitgebers über die Anrechnung von förderlichen Zeiten bei der Stufenzuordnung nach § 5 Abs. 2 Satz 3 Tarifvertrag Versorgungsbetriebe (TV‑V) ist nach billigem Ermessen gemäß § 315 Abs. 3 Satz 1 BGB zu treffen.

Nach § 5 Abs. 2 Tarifvertrag Versorgungsbetriebe (TV‑V) ‑vom 05.10.2000 in der Fassung des 10. Änderungstarifvertrags vom 01.04.2014- sind die Entgeltgruppen 2–15 in sechs Stufen aufgeteilt. Beginnend mit der Stufe 1 erreicht der Arbeitnehmer die jeweils nächste Stufe innerhalb seiner Entgeltgruppe unter Berücksichtigung der Betriebszugehörigkeit (§ 4) nach den im folgenden festgelegten Stufenlaufzeiten. Die Stufe 2 wird nach zwei Jahren in der Stufe 1 erreicht, die Stufe 3 ebenfalls nach zwei Jahren in der Stufe 2. Nach § 5 Abs. 2 Satz 3 TV‑V können förderliche Zeiten für die Stufenzuordnung berücksichtigt werden. Schließlich sieht § 5 Abs. 2 Sätze 4 und 5 TV‑V vor, dass die Stufenlaufzeit bei erheblich über dem Durchschnitt liegenden und unter dem Durchschnitt liegenden Leistungen entweder verkürzt oder verlängert werden kann. Vergleichbare Bestimmungen enthalten auch die vergleichbaren Tarifwerke des öffentlichen Dienstes, so z.B. der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder in § 16 Abs. 2 und § 17 Abs. 2 TV‑L.
Aus der Systematik des Tarifvertrags folgt, dass die bei demselben Arbeitgeber zurückgelegten Berufserfahrungszeiten gegenüber den bei anderen Arbeitgebern erworbenen Zeiten privilegiert werden. So ist nach § 4 TV‑V nur die Betriebszugehörigkeit bei demselben Arbeitgeber auf die Stufenlaufzeiten uneingeschränkt anzurechnen. Soweit Berufserfahrungszeiten bei anderen Arbeitgebern zurückgelegt wurden, können diese nur dann berücksichtigt werden, wenn es sich um sogenannte förderliche Zeiten im Sinne des § 5 Abs. 2 Satz 3 TV‑V handelt.
Bedenken, ob diese Differenzierung einer rechtlichen Prüfung standhält, bestehen für das Bundesarbeitsgericht im Hinblick auf sein Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 23.02.20171 nicht.Nach dem zu § 16 Abs. 2 TV‑L ergangenen Urteil verstößt es nicht gegen die unionsrechtlichen Freizügigkeitsvorschriften in Art. 45 AEUV und Art. 7 der Verordnung (EU) 492/2011, dass die besagte Vorschrift die beim selben Arbeitgeber erworbene einschlägige Berufserfahrung gegenüber entsprechenden Zeiten bei anderen Arbeitgebern privilegiert.
Ob dieses Urteil uneingeschränkt auf den hiesigen Tarifvertrag übertragen werden kann, bedarf keiner weiteren Erörterung. Denn es folgt bereits aus § 5 Abs. 2 Satz 3 TV‑V, dass die Arbeitgeberin die von der Arbeitnhemerin vom 21.05.2012 bis 31.03.2013 als Leiharbeitnehmerin zurückgelegte Zeit bei der Stufenzuordnung berücksichtigen muss. Bei der genannten Zeit handelte es sich um eine „förderliche Zeit“ im Sinne des § 5 Abs. 2 Satz 3 TV‑V. Im Rahmen billigen Ermessens musste die Arbeitgeberin diese Zeit bei der Stufenzuordnung berücksichtigen.
Wie das Bundesarbeitsgericht zum vergleichbaren § 16 Abs. 2 Satz 4 TV‑L entschieden hat2, dient § 5 Abs. 2 Satz 3 TV‑V dazu, Berufserfahrung zu berücksichtigen, die dem Arbeitnehmer und damit auch seinem Arbeitgeber in der Tätigkeit, für die er neu eingestellt wurde, zugute kommt. Inhaltlich kommen als förderliche Zeiten in erster Linie gleichartige und gleichwertige Tätigkeiten, die der Arbeitnehmer bei einem anderen öffentlichen oder privaten Arbeitgeber ausgeübt hat, in Betracht. Sie können insbesondere vorliegen, wenn die frühere berufliche Tätigkeit mit der auszuübenden Tätigkeit in sachlichem Zusammenhang steht und die dabei erworbenen Kenntnisse, Fertigkeiten und Erfahrungen für die Erfüllung der auszuübenden Tätigkeit offenkundig von Nutzen sind. Der Begriff der förderlichen Tätigkeit ist somit weiter als der Begriff der einschlägigen Berufserfahrung, der etwa in § 16 Abs. 2 Sätze 2 und 3 TV‑L verwendet wird.
Im hier vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Fall war die als Leiharbeitnehmerin zurückgelegte Zeit als förderliche Zeit anzusehen. Die Arbeitnhemerin war während dieser Zeit unstreitig mit denselben Tätigkeiten betraut, die sie später im Rahmen des Arbeitsverhältnisses mit der Arbeitgeberin verrichtet hat. Die Parteien streiten ausschließlich darüber, ob die Arbeitgeberin auf der Rechtsfolgenseite nach freiem Ermessen über die Anrechnung der förderlichen Zeit befinden konnte.
Hierzu hat das Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg mit Urteil vom 16.01.20093 zur ähnlich, aber nicht identisch formulierten Vorschrift des § 16 Abs. 2 Satz 4 TV‑L entschieden, dass die Anrechnung förderlicher Zeiten im freien Ermessen des Arbeitgebers stehe. Die Vorschrift enthalte ein einseitiges Bestimmungsrecht, das nicht dem Prüfungsmaßstab des billigen Ermessens unterfalle. Hierfür spreche bereits der Wortlaut. Auch der Sinn und Zweck der Anrechnungsregelung spreche für ein einseitiges Bestimmungsrecht. Die Regelung solle es ‑in Anbetracht der Tatbestandsvoraussetzung „Deckung des Personalbedarfs“- den Dienststellen erleichtern, etwaigen Personalgewinnungsschwierigkeiten flexibel zu begegnen. Schließlich spreche auch die Systematik des § 16 Abs. 2 TV‑L für diese Auslegung. Verfügten die Beschäftigten über eine einschlägige Berufserfahrung, werde diese differenziert nach den Tatbeständen der Sätze 2 und 3 im Rahmen einer gebundenen Entscheidung angerechnet. Hingegen handele es sich bei der Anrechnung nach § 16 Abs. 2 Satz 4 TV‑L, aber auch bei der Regelung in § 16 Abs. 5 TV‑L um ausschließlich im Interesse der Allgemeinheit liegende Ausnahmetatbestände. Dementsprechend stehe den Gerichten keine ersetzende Entscheidungsbefugnis zu.
In seiner Revisionsentscheidung zu dem zitierten Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg hat das Bundesarbeitsgericht die Frage dahinstehen lassen4. Auch im Entscheidungsfall vom 05.06.20145 hat das Bundesarbeitsgericht die Frage offen gelassen. Im Schrifttum finden sich keine konkreten Stellungnahmen zur vorliegenden Frage6.
Hingegen hat sich das Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung zur Zulage wegen höherer Lebenshaltungskosten nach § 16 Abs. 5 TV‑L7 dafür ausgesprochen, dass das dort geregelte Leistungsbestimmungsrecht nach billigem Ermessen gemäß § 315 Abs. 3 Satz 1 BGB auszuüben sei. Zur Begründung hat das Bundesarbeitsgericht angeführt, die Prüfung des Vorliegens höherer Lebenshaltungskosten betreffe die Tatbestandsseite, während die Ermessensausübung auf der Rechtsfolgenseite anfalle. Damit hat das Bundesarbeitsgericht seine Erwägungen aus dem bereits zitierten Urteil vom 05.06.2014 aufgegriffen, wonach es sich bei der Förderlichkeit der vorherigen beruflichen Tätigkeit um eine Tatbestandsvoraussetzung handele. Erst wenn diese Voraussetzung objektiv erfüllt sei, werde dem Arbeitgeber auf der Rechtsfolgenseite Ermessen eröffnet.
Unter Berücksichtigung der neueren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann sich das Landesarbeitsgericht der zuvor vertretenen Rechtsauffassung, , wonach dem Arbeitgeber ein freies Ermessen auf der Rechtsfolgenseite eingeräumt werde, nicht anschließen. Es kommt hinzu, dass der zwar ähnlich, aber nicht identisch gefasste Wortlaut des § 5 Abs. 2 Satz 3 TV‑V gerade nicht dafür spricht, die Norm regele einen ausschließlich im Interesse der Allgemeinheit liegende Ausnahmetatbestand. Anders als in § 16 Abs. 2 Satz 4 TV‑L fehlt nämlich in § 5 Abs. 2 Satz 3 TV‑V die Tatbestandsvoraussetzung der „Deckung des Personalbedarfs“. Zwar soll die Vorschrift sicherlich auch bezwecken, den Handlungsspielraum des Arbeitgebers bei der Gewinnung von Personal zu erhöhen8. Die Vorschrift soll es aber auch ermöglichen, dass die Arbeitnehmer davon finanziell profitieren, wenn sie nützliche Kenntnisse in das neue Arbeitsverhältnis einbringen. Hierdurch wird die Einarbeitungszeit beim neuen Arbeitgeber entweder erspart oder zumindest verkürzt. Dieser Umstand soll nach der Einschätzung der Tarifvertragsparteien finanziell honoriert werden, weil der Arbeitgeber die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers besser nutzen kann.
Bei dieser Sachlage drängt es sich geradezu auf, dass der Arbeitgeber bei der Abwägung der Interessen billiges Ermessen zu wahren hat. Auf der einen Seite steht das Interesse des Arbeitgebers an einer wirtschaftlichen und sparsamen Haushaltsführung, auf der anderen Seite das Interesse des Arbeitnehmers an einer leistungsgerechten Vergütung. Diese Abwägung kann nicht „frei“, sondern nur unter Abwägung der wechselseitigen Interessen nach verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Wertentscheidungen, den allgemeinen Wertungsgrundsätzen der Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit sowie der Verkehrssitte und Zumutbarkeit9.
Nach diesem Prüfungsmaßstab war die als Leiharbeitnehmerin zurückgelegte Zeit in vollem Umfang als förderliche Zeit zu berücksichtigen. Auf Seiten der Arbeitnhemerin ist hierzu anzuführen, dass sie nicht nur nützliche Kenntnisse in das neue Arbeitsverhältnis mitgebracht hat, sondern die gewonnene Berufserfahrung sogar einschlägig in dem Sinne war, dass die frühere Tätigkeit im Wesentlichen unverändert fortgesetzt wurde. Die Arbeitgeberin konnte in vollem Umfang auf eine Einarbeitung der Arbeitnhemerin nach dem 1.04.2013 verzichten, weil diese bereits mit ihrer Arbeitsaufgabe vertraut war.
Gesichtspunkte, die im Rahmen der Ermessensausübung zu ihren Gunsten berücksichtigt werden könnten, hat die Arbeitgeberin nicht vorgetragen. Soweit sie angeführt hat, es habe sich nach dem Beginn des Arbeitsverhältnisses herausgestellt, dass die Leistungen der Arbeitnhemerin unterdurchschnittlich seien, vermengt die Arbeitgeberin die Tatbestände des § 5 Abs. 2 Sätze 4 und 5 TV‑V mit dem Tatbestand des § 5 Abs. 2 Satz 3 TV‑V. Die Frage, ob förderliche Zeiten bei der Stufenzuordnung berücksichtigt werden können, stellt sich zu Beginn des Arbeitsverhältnisses. Die Arbeitgeberin hätte somit zum damaligen Zeitpunkt prüfen müssen, ob die als Leiharbeitnehmerin zurückgelegten Zeiten angerechnet werden. Die Frage, ob die Stufenlaufzeiten verlängert oder verkürzt werden, stellt sich hingegen erst im Laufe des Arbeitsverhältnisses. Im Allgemeinen muss die jeweilige Stufenlaufzeit zu einem gewissen Teil verstrichen sein, bevor sich die Frage einer Leistungsbeurteilung innerhalb der Stufenlaufzeit und damit einer Verlängerung oder Verkürzung stellt10. Mit der Frage der Anrechnung förderlichen Zeiten steht die Verkürzung oder Verlängerung von Stufenlaufzeiten in keinem inneren Zusammenhang.
Landesarbeitsgericht Baden ‑Württemberg, Urteil vom 24. April 2017 – 1 Sa 27/16
- BAG 23.02.2017 – 6 AZR 843/15[↩]
- BAG 5.06.2014 – 6 AZR 1008/12, Rn 30[↩]
- LAG Baden-Württemberg, 16.01.2009 – 7 Sa 75/08, Rn 30 ff.[↩]
- BAG 23.09.2010 ‑6 AZR 174/09, Rn 17[↩]
- BAG 05.06.2014 – 6 AZR 1008/12, Rn 21[↩]
- Sponer/Steinherr, TV‑L, Stand: 15.07.2015, § 16 Rn. 40; Breier/Dassau, TV‑L, Stand 7/2016, § 16 Rn. 66; Clemens/Scheuring, TV‑L, Stand Juli 2016 Rn. 60[↩]
- BAG 31.07.2014 – 6 AZR 822/12, Rn 13 ff.[↩]
- vgl. dazu auch BAG 12.09.2013 – 6 AZR 512/12, Rn. 52; BAG 21.11.2013 – 6 AZR 23/12, Rn. 47[↩]
- BAG 31.07.2014 aaO Rn 30[↩]
- vgl. Durchführungshinweise des Finanzministeriums Baden-Württemberg zu § 17 TV‑L unter Anm. 2.5[↩]