Tarifliche Urlaubsvergütung – für Zeiten der Arbeitsunfähigkeit

Arbeitstage, an denen ein Arbeitnehmer arbeitsunfähig erkrankt und zugleich von der Arbeitspflicht freigestellt ist, sind nicht als „gearbeitet“ iSd. § 10 Nr. 4.4 Satz 1 des Manteltarifvertrags für die Metallindustrie im Nordwestlichen Niedersachsen (MTV) in der Fassung vom 17.12.2018 zu werten.

Tarifliche Urlaubsvergütung – für Zeiten der Arbeitsunfähigkeit

Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags, die in der Revisionsinstanz in vollem Umfang überprüfbar ist, folgt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Dabei sind der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien berücksichtigt werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt. Außerdem sind Tarifnormen, soweit sie dies zulassen, grundsätzlich so auszulegen, dass sie nicht im Widerspruch zu höherrangigem Recht stehen und damit Bestand haben. Gesetze sind wiederum – soweit Unionsrecht umgesetzt wird – unionsrechtskonform auszulegen, wenn dies möglich ist. Die richtlinienkonforme Auslegung eines nationalen Gesetzes kann sich demnach auf die Auslegung eines Tarifvertrags auswirken1.

Nach diesen Grundsätzen gelten bei gesetzeskonformem Verständnis des Begriffs „gearbeitet“ in § 10 Nr. 4.4 MTV Zeiten der Inanspruchnahme von Urlaub als Arbeitsleistung, nicht aber Zeiten der Arbeitsunfähigkeit während der Freistellung von der Arbeitspflicht während eines Modells zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit.

Der Wortlaut der Tarifnorm verlangt für das Entstehen des Anspruchs auf Mehrurlaub eine Arbeitsleistung im Austrittsjahr. Gemäß § 10 Nr. 4.01.3 MTV haben Arbeitnehmer bei Ausscheiden nach erfüllter Wartezeit Anspruch auf ein Zwölftel des Jahresurlaubs für jeden vollen Monat des Bestehens des Arbeitsverhältnisses. Davon abweichend erhält ein ausscheidender Beschäftigter nach § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV den vollen Jahresurlaub, sofern er wegen der Inanspruchnahme einer Alters- oder Erwerbsunfähigkeitsrente ausscheidet und dem Betrieb zehn Jahre ununterbrochen angehört hat, jedoch höchstens so viele Tage, wie er im Urlaubsjahr „gearbeitet“ hat.

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Systematisch handelt es sich bei § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV damit um eine privilegierende Spezialnorm für langjährig beschäftigte Arbeitnehmer. Diese erhalten im Falle eines Ausscheidens wegen Inanspruchnahme von Alters- oder Erwerbsunfähigkeitsrente im Ausscheidensjahr statt eines bloßen Teilurlaubsanspruchs den vollen Jahresurlaub, sofern im Austrittsjahr eine Arbeitsleistung erbracht wird. Voll- statt Teilurlaub soll nur Arbeitnehmern zugutekommen, bei denen im Jahr des Ausscheidens keine erhebliche Störung des Austauschverhältnisses von Leistung und Gegenleistung eingetreten ist. Das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung ist aber in einer dem Anspruch auf den vollen Jahresurlaub nach § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV entgegenstehenden Weise gestört, wenn der Arbeitnehmer im Austrittsjahr durchgängig arbeitsunfähig und daher nicht in der Lage ist, eine Arbeitsleistung zu erbringen. Auch eine vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit vereinbarte Freistellung von der Arbeitspflicht ändert nichts daran, dass der Arbeitnehmer im Austrittsjahr keine Arbeitsleistung erbringt und auch nicht erbringen kann.

Auch eine gesetzeskonforme Auslegung verlangt ein solches Verständnis nicht. Im Ausgangspunkt zutreffend hat das Landesarbeitsgericht den Tarifbegriff „gearbeitet“ in § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV allerdings zu Recht nicht im Wortverständnis abschließend verstanden, sondern gesetzeskonform erweiternd ausgelegt.

Die Tarifvertragsparteien können Urlaubsansprüche, die den von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG gewährleisteten und von §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG begründeten Anspruch auf Mindestjahresurlaub von vier Wochen übersteigen, weitgehend frei regeln2. Sie dürfen deshalb die Gewährung von tariflichem Mehrurlaub grundsätzlich von einer tatsächlichen Arbeitsleistung abhängig machen. Soweit allerdings die tarifvertraglichen Bestimmungen (auch) die Inanspruchnahme gesetzlichen Mindesturlaubs gefährden können, muss die Tarifnorm – soweit möglich – gesetzeskonform ausgelegt und angewandt werden.

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Danach ist die Inanspruchnahme von gesetzlichem Mindesturlaub als Arbeitsleistung iSv. § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV zu werten. Gölten Urlaubszeiten nicht als „gearbeitet“, könnten Konstellationen entstehen, in denen sich der Arbeitnehmer im Jahr seines Ausscheidens aus wirtschaftlichen Gründen gehalten sähe, auch auf den gesetzlichen Mindesturlaub zu verzichten, um auf diese Weise seinen Anspruch auf Abgeltung des Mehrurlaubs nicht zu gefährden. Dies wäre dann der Fall, wenn er bis zu seinem Ausscheiden nur auf diese Weise an genügend Tagen tatsächlich arbeitet, um auch den Mehrurlaub abgegolten zu erhalten. Die Schaffung jedes wirtschaftlichen Anreizes, den Erholungsurlaub nicht zu nehmen, wäre aber mit den Zielen von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG nicht zu vereinbaren3. Dem ist durch eine gesetzeskonforme Auslegung zu begegnen, der zufolge auch Urlaubszeiten als „gearbeitet“ gelten.

Die weitergehende Auslegung des Landesarbeitsgerichts, auch Zeiten einer Freistellung von der Arbeitspflicht bei gleichzeitig bestehender Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers als „gearbeitet“ iSv. § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV anzusehen, verlangt das Gesetz nicht.

Eine Freistellung von der Arbeitspflicht im Rahmen eines „Modells zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit“ steht nicht Zeiten tatsächlich geleisteter Arbeit gleich. Anders als Zeiten der Inanspruchnahme von Urlaub, bei denen es mit den Zielen von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG unvereinbar wäre, wenn man sie nicht als „gearbeitet“ im Tarifsinne ansähe, gebietet es der Zweck des Modells, die erwirtschafteten Zeitguthaben in den letzten Monaten des Arbeitsverhältnisses durch Vereinbarung einer bezahlten Freistellung in Natur einzulösen, nicht, die Freistellung Zeiten tatsächlicher Arbeitsleistung gleichzustellen. Für die Altersteilzeit im Blockmodell hat das Bundesarbeitsgericht bereits entschieden, dass die Arbeitsvertragsparteien eine Vereinbarung über die Verteilung der Arbeitszeit treffen, die den Arbeitnehmer von der Arbeitspflicht entbindet und sich auf die Berechnung des Urlaubsanspruchs auswirkt4. Auch wenn – im Gegensatz zur Altersteilzeit im Blockmodell – Regelungsgegenstand der Freistellungsvereinbarung nicht die Verteilung der regelmäßigen Arbeitszeit, sondern die Verwendung eines außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit liegenden Wertguthabens ist, bestehen auch vorliegend keine gesetzlichen Vorgaben, die Freistellungzeiten im Anwendungsbereich der privilegierenden Spezialnorm des § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV als Arbeitszeit zu bewerten. Den Tarifvertragsparteien war bei der Ausgestaltung der Tarifnorm nicht verwehrt, für den Anspruch auf den vollen tarifvertraglichen Urlaub weitere Anspruchsvoraussetzungen vorzusehen und ihn grundsätzlich von der Erbringung einer tatsächlichen Arbeitsleistung abhängig zu machen. Der ungekürzte Teilurlaubsanspruch des Arbeitnehmers bleibt durch § 10 Nr. 4.1 MTV unberührt. Der Anspruch auf den durch §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG eingeräumten gesetzlichen Mindesturlaub bei einem Ausscheiden nach erfüllter Wartezeit in der zweiten Jahreshälfte wird durch die in § 13 Abs. 1 Satz 3 BUrlG angeordnete Unabdingbarkeit des durch das BUrlG vermittelten Mindestschutzes sichergestellt5, ohne dass es einer gesetzeskonformen Auslegung des § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV bedürfte.

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In der Beschränkung des Anspruchs auf Mehrurlaub im Austrittsjahr auf die Anzahl der gearbeiteten Tage liegt keine gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßende Schlechterstellung von arbeitsunfähigen gegenüber Arbeitnehmern, die ihre arbeitsvertragliche Leistung tatsächlich erbringen können.

Der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG begrenzt als fundamentale Gerechtigkeitsnorm auch die Tarifautonomie. Dementsprechend ist Tarifregelungen die Durchsetzung zu verweigern, die zu gleichheitswidrigen Differenzierungen führen. Bei der Erfüllung ihres verfassungsrechtlichen Schutzauftrags haben die Gerichte jedoch zu beachten, dass den Tarifvertragsparteien als selbstständigen Grundrechtsträgern bei ihrer Normsetzung aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zusteht. Sie bestimmen in diesem Rahmen nicht nur den Zweck einer tariflichen Leistung. Ihnen kommt zudem eine Einschätzungsprärogative zu, soweit die tatsächlichen Gegebenheiten, die betroffenen Interessen und die Regelungsfolgen zu beurteilen sind und ein Beurteilungs- und Ermessensspielraum hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung der Regelung. Die Tarifvertragsparteien sind nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund besteht. Art. 3 Abs. 1 GG verlangt nicht, dass die Tarifvertragsparteien bei der Festlegung der Voraussetzungen für die Wahrnehmung eines tariflichen Anspruchs jeder Besonderheit gerecht werden und im Tarifvertrag entsprechende Ausnahmen vorsehen. Ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ist erst dann anzunehmen, wenn die Tarifvertragsparteien es versäumt haben, tatsächliche Gemeinsamkeiten oder Unterschiede der zu ordnenden Lebensverhältnisse zu berücksichtigen, die so bedeutsam sind, dass sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise hätten beachtet werden müssen. Die in einer Tarifregelung vorgesehenen Differenzierungsmerkmale müssen allerdings im Normzweck angelegt sein und dürfen ihm nicht widersprechen6.

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Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hält sich die Regelung des § 10 Nr. 4.4 Satz 1 MTV, den Anspruch auf Mehrurlaub als zusätzliche tarifliche Leistung nur Arbeitnehmern zugutekommen zu lassen, die im Austrittsjahr Arbeitsleistung erbracht haben, in den Grenzen, die Art. 3 Abs. 1 GG auch den Tarifvertragsparteien bei der Normsetzung nach Art. 9 Abs. 3 GG setzt. Die vorgenommene Differenzierung, die sich auf die Entstehung und auf den Umfang des tariflichen Anspruchs auf Mehrurlaub im Austrittsjahr erstreckt, ist nicht unverhältnismäßig. Bei gleicher Gewichtung der Interessen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer lässt sich der angestrebte Zweck nicht durch ein milderes Mittel erreichen. Die Differenzierung ist nicht unangemessen. Die Zweck-Mittel-Relation lässt die Schwere des Eingriffs im Verhältnis zur Bedeutung des Ziels zurücktreten. Als Ergebnis kollektiv ausgehandelter Tarifvereinbarungen hat die Begrenzung der Höhe des Mehrurlaubs die Vermutung der Angemessenheit für sich7.

Ein anderes Ergebnis ergibt sich nicht mit Blick auf das Verbot einer Benachteiligung von Arbeitnehmern mit Behinderung nach § 7 Abs. 1 AGG. Eine mittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 2 Halbs. 1 AGG kann vorliegen, wenn eine Regelung – wie hier – zwar neutral formuliert ist, in ihrer Anwendung aber wesentlich mehr Inhaber der geschützten persönlichen Eigenschaft betrifft als vergleichbare Personen, die diese Eigenschaft nicht besitzen, es sei denn, mit der Regelung oder Maßnahme wird ein rechtmäßiges Ziel verfolgt und das hierfür eingesetzte Mittel ist verhältnismäßig, dh. angemessen und erforderlich8. Auch insoweit gilt, dass sich die Begrenzung des tariflichen Anspruchs auf Mehrurlaub als gerechtfertigt erweist und die Tarifvertragsparteien ihren Regelungsspielraum nicht überschritten haben.

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Weitergehende Ansprüche ergeben sich weder aus dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz noch aus betrieblicher Übung.

Wegen seines Schutzcharakters gegenüber der Gestaltungsmacht des Arbeitgebers greift der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz nur dort ein, wo der Arbeitgeber durch gestaltendes Verhalten ein eigenes Regelwerk bzw. eine eigene Ordnung schafft, nicht hingegen bei bloßem – auch vermeintlichem – Normenvollzug9. Um Letzteren geht es hier. Daher kann sich der Arbeitnehmer nicht mit Erfolg auf den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz stützen.

Ein weiterer Anspruch auf Urlaubsabgeltung ergibt sich schließlich auch nicht unter dem Gesichtspunkt der betrieblichen Übung. Ein Anspruch aus betrieblicher Übung setzt voraus, dass sich für den Arbeitnehmer aus den Gesamtumständen der Eindruck ergibt, der Arbeitgeber wolle sich über die bisher vereinbarten vertraglichen und tarifvertraglichen Pflichten hinaus zu einer weiteren Leistung verpflichten10. Der Arbeitnehmer konnte hier nach den Umständen nicht annehmen, dass die Arbeitgeberin übertarifliche Leistungen gewähren wollte.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 28. März 2023 – 9 AZR 219/22

  1. BAG 16.11.2022 – 10 AZR 210/19, Rn. 13[]
  2. vgl. BAG 11.12.2018 – 9 AZR 161/18, Rn. 18; 19.02.2019 – 9 AZR 321/16, Rn. 52; 22.01.2019 – 9 AZR 328/16, Rn. 33[]
  3. EuGH 13.01.2022 – C-514/20 – [Koch Personaldienstleistungen] Rn. 32[]
  4. vgl. BAG 24.09.2019 – 9 AZR 481/18, Rn. 26, BAGE 168, 70[]
  5. vgl. BAG 5.07.2022 – 9 AZR 341/21, Rn. 49 f.[]
  6. BAG 29.09.2020 – 9 AZR 364/19, Rn. 47, BAGE 172, 313[]
  7. vgl. BAG 7.07.2020 – 9 AZR 323/19, Rn. 33; 3.07.2019 – 10 AZR 300/18, Rn. 15; 21.05.2014 – 4 AZR 50/13, Rn. 29, BAGE 148, 139[]
  8. vgl. BAG 29.09.2020 – 9 AZR 364/19, Rn. 61, BAGE 172, 313[]
  9. BAG 12.12.2012 – 10 AZR 718/11, Rn. 44[]
  10. vgl. BAG 20.08.2002 – 9 AZR 261/01, Rn. 68, BAGE 102, 251[]
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