§ 8 Ziff. 5 Buchst. a des Manteltarifvertrags für den Berliner Einzelhandel, wonach für Nachtarbeit ein Zuschlag von 50 %, jedoch für Nachtarbeit im Rahmen von Schichtarbeit nur ein Zuschlag von 20 % zu gewähren ist, verstößt unter den besonderen branchentypischen Bedingungen des Einzelhandels nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG.

In der von den Tarifvertragsparteien vorgenommenen Differenzierung zwischen Nachtarbeit im Allgemeinen und Nachtarbeit im Rahmen von Schichtarbeit, die zu einem geringeren Zuschlag führt, liegt unter den branchentypischen Bedingungen im Geltungsbereich der Tarifverträge des Einzelhandels kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.
Es kann dahinstehen, ob die Tarifvertragsparteien als Normgeber bei der tariflichen Normsetzung unmittelbar grundrechtsgebunden sind. Aufgrund der Schutzpflichten der Grundrechte haben sie aber den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG sowie die Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG zu beachten1. Die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie gewährt ihnen einen weiten Gestaltungsspielraum. Ihnen kommt eine Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und betroffenen Interessen zu2. Sie sind nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund vorliegt3. Ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz ist erst dann anzunehmen, wenn die Tarifvertragsparteien es versäumt haben, tatsächliche Gemeinsamkeiten oder Unterschiede der zu ordnenden Lebensverhältnisse zu berücksichtigen, die so bedeutsam sind, dass sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise hätten beachtet werden müssen4.
Bei der Überprüfung von Tarifverträgen anhand des allgemeinen Gleichheitssatzes ist dabei nicht auf die Einzelfallgerechtigkeit abzustellen, sondern auf die generellen Auswirkungen der Regelung5.
Ausgehend von diesen Grundsätzen überschreitet die von den Tarifvertragsparteien vorgenommene Differenzierung deren Einschätzungsprärogative im Hinblick auf die branchentypischen Bedingungen nicht.
Nach § 8 Ziff. 1 MTV ist Nachtarbeit im Tarifsinn die in der Zeit zwischen 20:00 Uhr und 06:00 Uhr geleistete Arbeit; bei Zuendebedienen und ähnlichen Tagesabschlussarbeiten beginnt die Nachtzeit ab 20:10 Uhr. Nach der tariflichen Regelung beginnt damit die Nachtzeit drei Stunden früher als nach den arbeitsschutzrechtlichen Bestimmungen des ArbZG. Gleichzeitig gewährt § 8 Ziff. 5 MTV bereits ab der ersten Stunde der Nachtarbeit grundsätzlich einen Ausgleich in Form eines 50%igen Zuschlags zum Entgelt, wobei nach § 8 Ziff. 8 MTV die – unter Arbeitsschutzgesichtspunkten vorzugswürdige – Möglichkeit des Freizeitausgleichs besteht. Wird die Nachtarbeit im Rahmen von Schichtarbeit geleistet, beträgt der Zuschlag hingegen lediglich 20 %. Insoweit behandeln die Tarifvertragsparteien Arbeitnehmer, die Nachtarbeit im tariflichen und/oder gesetzlichen Sinne leisten, differenziert danach, in welchem Kontext die Nachtarbeit geleistet wird. Während Nachtarbeit im Rahmen von Schichtarbeit lediglich mit 20 % zusätzlich vergütet wird, besteht sowohl bei gelegentlich anfallender Nachtarbeit, ohne dass dies in einem bestimmten Schichtplan vorgesehen ist, als auch im Fall dauerhafter Nachtarbeit außerhalb von Schichtsystemen ein Zuschlagsanspruch in Höhe von 50 %. Keinen Zuschlag erhalten nach § 8 Ziff. 7 MTV Arbeitnehmer/innen, bei denen die Nachtarbeit berufsüblich ist. Nicht unterschieden wird nach dem Tarifvertrag zwischen den Stunden, die lediglich tariflich als Nachtarbeit gelten und den Nachtarbeitsstunden iSd. ArbZG. Ebenso wenig setzt der Anspruch auf die entsprechenden Nachtzuschläge voraus, dass es sich beim Arbeitnehmer um einen Nachtarbeitnehmer iSd. § 2 Abs. 5 ArbZG handelt.
Die Annahme der Tarifvertragsparteien, dass für die Differenzierung zwischen Nachtarbeit innerhalb und außerhalb von Schichtarbeit im Geltungsbereich der Tarifverträge des Einzelhandels ein sachlicher Grund besteht, überschreitet deren Spielraum nicht. Insbesondere haben sie dabei keine gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit (§ 6 Abs. 1 ArbZG; vgl. zum Begriff ErfK/Wank 14. Aufl. § 6 ArbZG Rn. 4) verkannt.
Nachtarbeit ist grundsätzlich für jeden Menschen schädlich und hat negative gesundheitliche Auswirkungen6. Die Belastung und Beanspruchung der Beschäftigten steigt nach bisherigem Kenntnisstand in der Arbeitsmedizin durch die Anzahl der Nächte pro Monat und die Anzahl der Nächte hintereinander, in denen Nachtarbeit geleistet wird, wie sich ua. aus einer Expertise der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin vom 24.02.2012 ergibt. Insgesamt ist anerkannt, dass Nachtarbeit umso schädlicher ist, in umso größerem Umfang sie geleistet wird. Entsprechende Gestaltungsempfehlungen für Arbeitszeitmodelle setzen hier an7. Dies gilt unabhängig davon, dass typabhängig die Anpassung an Nachtarbeit von Mensch zu Mensch unterschiedlich gut erfolgt8.
Für Schichtarbeit gilt das nicht gleichermaßen; insbesondere bringen normale Schichtwechsel zwischen Früh- und Spätschicht nicht dieselben Gefahren mit sich wie der Wechsel zu und von Nachtarbeit9. Davon geht auch das ArbZG aus, das die Nachtzeit erst ab 23:00 Uhr und damit nach dem üblichen Ende der Arbeit in 2-Schicht-Systemen beginnen lässt.
Nach dem unwidersprochenen Vortrag der Arbeitgeberin leistet die übergroße Mehrheit der im Einzelhandel Beschäftigten (einschließlich des Logistikbereichs) keine reinen Nachtschichten, auch wenn sie im Schichtdienst arbeiten. Dies erklärt sich im Verkauf schon aus den typischen Ladenöffnungszeiten, die weit überwiegend nicht in der Nachtzeit liegen. Auch für die anderen Bereiche, die unter die Geltung der Tarifverträge des Einzelhandels fallen, ist weder erkennbar noch vom Arbeitnehmer dargelegt, dass typischerweise Nachtarbeiten in größerem Umfang oder gar ausschließlich geleistet werden. Dies ist nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts im Unternehmen der Arbeitgeberin ebenso nicht der Fall.
Vor diesem Hintergrund durften die Tarifvertragsparteien berücksichtigen, dass sich Arbeitnehmer, die nach einem Schichtplan tätig sind, auf diesen einstellen können. Damit werden die sozialen Folgen („soziale Desynchronisation“), die mit jeder Arbeit außerhalb der üblichen Arbeitszeiten der Mehrheit der Arbeitnehmer und damit außerhalb des üblichen Tagesablaufs verbunden sind, gemindert10. Gleichzeitig reduziert und begrenzt der Einsatz in Wechselschichtsystemen die Anzahl ggf. anfallender Nachtschichten oder Arbeitsstunden in der tariflichen oder gesetzlichen Nachtzeit.
Deshalb überschreitet die Annahme, dass derjenige Arbeitnehmer, der keiner solchen Regelmäßigkeit unterliegt, durch die Heranziehung zur Nachtarbeit höher belastet wird, den Spielraum der Tarifvertragsparteien nicht. Insbesondere ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass eine unregelmäßige und ungeplante Heranziehung in sehr viel höherem Maße in das Familienleben und Freizeitverhalten des Betroffenen eingreift.
Soweit das Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung vom 22.10.200311 nicht tragend eine Regelung des ab 1.01.2000 geltenden Manteltarifvertrags des bayerischen Einzelhandels (MTV Bayern) unter dem Gesichtspunkt von Art. 3 Abs. 1 GG als problematisch angesehen hatte, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Die Besonderheit der dortigen Tarifregelung lag darin, dass sich der Zuschlag nach dem Verständnis des Bundesarbeitsgerichts auch beim Zusammentreffen von Wechselschichtarbeit und gelegentlicher Nachtarbeit vermindert hätte und im Übrigen dieser Zuschlag noch geringer war als ein „spätöffnungsbedingter“ Zuschlag für die Zeit ab 18:30 Uhr bzw. samstags ab 14:00 Uhr. Das Bundesarbeitsgericht hat deshalb angenommen, § 8 Ziff. 6 MTV Bayern regle Fälle, „in denen die Erschwernisse der Wechselschicht mit Nachtarbeit gerade wegen der Erschwernis der Wechselschicht mit einem Zuschlag ausgeglichen werden sollen, nicht dagegen die bloße Erschwernis der Nachtarbeit“. Er hat daraus die Schlussfolgerung gezogen, die Zuschläge für Nacht- und Wechselschichtarbeit stünden grundsätzlich gleichberechtigt nebeneinander und eine automatische Verdrängung finde nicht statt. Die Ausgangssituation unterscheidet sich damit deutlich von der vorliegenden Tariflage.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 11. Dezember 2013 – 10 AZR 736/12
- BAG 27.05.2004 – 6 AZR 129/03, BAGE 111, 8; 30.10.2008 – 6 AZR 712/07, Rn. 14, BAGE 128, 219; zuletzt zB 23.03.2011 – 10 AZR 701/09, Rn. 21[↩]
- BAG 24.02.2010 – 10 AZR 1038/08, Rn. 21[↩]
- BAG 27.10.2010 – 10 AZR 410/09, Rn. 22; 30.10.2008 – 6 AZR 712/07, Rn. 15, aaO; 25.10.2007 – 6 AZR 95/07, Rn. 24, BAGE 124, 284[↩]
- BAG 23.03.2011 – 10 AZR 701/09, Rn. 21 mwN[↩]
- BAG 19.07.2011 – 3 AZR 398/09, Rn. 25 mwN, BAGE 138, 332[↩]
- vgl. dazu BVerfG 28.01.1992 – 1 BvR 1025/82, 1 BvL 16/83, 1 BvL 10/91, zu C I 2 der Gründe, BVerfGE 85, 191; Neumann/Biebl ArbZG 16. Aufl. § 6 Rn. 4[↩]
- vgl. dazu zB Schliemann ArbZG 2. Aufl. § 6 Rn. 14[↩]
- P. Knauth in Triebig/Kentner/Schiele Arbeitsmedizin 3. Aufl. S. 554 ff.; vgl. insgesamt dazu Habich Sicherheits- und Gesundheitsschutz durch die Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit und die Rolle des Betriebsrates, Diss.2004 S. 3 ff., Gestaltungsempfehlungen S. 184 ff.[↩]
- Neumann/Biebl ArbZG § 6 Rn. 5; kritisch Habich aaO S. 16 mwN auch zur gegenteiligen Auffassung[↩]
- kritisch hierzu Wolfhard Kothe FS Buschmann S. 76 ff.[↩]
- BAG 22.10.2003 – 10 AZR 3/03, zu II 1 b der Gründe[↩]