Tariflicher Nachteilsausgleich – und seine geltungserhaltende Auslegung

Ein Tarifverständnis, das sich über die Wirkungsanordnung des § 4 Abs. 1 Satz 2 iVm. Satz 1 TVG hinwegsetzen würde, verbietet sich aus gesetzlichen Gründen.

Tariflicher Nachteilsausgleich – und seine geltungserhaltende Auslegung

Tarifverträge sind – sofern die Tarifnorm dies zulässt – grundsätzlich gesetzeskonform und damit ggf. geltungserhaltend einschränkend so auszulegen, dass sie nicht in Widerspruch zu höherrangigem Recht stehen und damit Bestand haben.

Entsprechendes gilt, wenn – wie vorliegend – einer tariflichen Regelung nur bei einem eingeschränkten Verständnis eine für ihre Geltung allein mögliche (und von den Tarifvertragsparteien auch beabsichtigte) normative Wirkung zukommen kann1.

Die Regelung betriebsverfassungsrechtlicher Fragen iSd. § 1 Abs. 1 TVG, zu denen auch Bestimmungen gehören, die – wie der hier streitgegenständliche, zwischen Air Berlin und ver.di geschlossene „Tarifvertrag Personalvertretung“ (TVPV) – die Errichtung einer Vertretung für Arbeitnehmer des Flugbetriebs vorsehen und die Beziehungen zwischen dieser Interessenvertretung und dem Arbeitgeber näher ausgestalten, kann in einem Tarifvertrag nur durch Bestimmungen erfolgen, denen Rechtsnormcharakter zukommt. Schuldrechtliche Vereinbarungen der Tarifvertragsparteien scheiden als rechtliche Grundlage aus, da es ihnen an der erforderlichen unmittelbaren und zwingenden – mithin normativen – Wirkung fehlt. Betriebsverfassungsrechtliche Regelungen iSv. § 1 Abs. 1 TVG können nach § 4 Abs. 1 Satz 2 iVm. Satz 1 TVG allerdings nur im Geltungsbereich des jeweiligen Tarifvertrags normativ wirken. Aus § 3 Abs. 2 TVG folgt nichts Gegenteiliges2.

Beschränken die Tarifvertragsparteien – wie hier in § 2 Abs. 1 TVPV – im Rahmen ihrer Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) den Geltungsbereich des von ihnen vereinbarten Tarifvertrags über betriebsverfassungsrechtliche Normen in personeller Hinsicht auf eine bestimmte Gruppe von Arbeitnehmern („Kabinenpersonal“), müssen sie die von ihnen selbst gesetzte Grenze auch bei der Ausgestaltung derjenigen Normen beachten, die die Kompetenzen der Arbeitnehmervertretung und damit die rechtlichen Beziehungen zwischen dieser und dem Arbeitgeber gestalten. Einer Interessenvertretung, die auf der Grundlage von § 117 Abs. 2 Satz 1 BetrVG durch einen Tarifvertrag errichtet ist, dessen persönlicher Geltungsbereich nur eine bestimmte Gruppe von Arbeitnehmern erfasst, kann wegen § 4 Abs. 1 Satz 2 iVm. Satz 1 TVG nicht (mit normativer Wirkung) das Recht eingeräumt werden, Vereinbarungen mit dem Arbeitgeber abzuschließen, die einen Sachverhalt gestalten, der auch nicht vom Geltungsbereich des Tarifvertrags erfasste Arbeitnehmer betrifft. Entsprechend kann der Arbeitgeber nicht (wirksam) normativ verpflichtet werden, den Abschluss einer solchen Vereinbarung zu versuchen3.

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Diese gesetzlichen Grenzen würden bei einem uneingeschränkten Verständnis der Regelungen in §§ 80, 81 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 2 TVPV überschritten. Der Inhalt des mit der Personalvertretung Kabine zu verhandelnden – und dementsprechend von der Schuldnerin zu versuchenden – Interessenausgleichs würde das „Ob“, „Wann“ und „Wie“ der Stilllegung der organisatorischen Einheit „Flugbetrieb“ umfassen. Ein solcher Interessenausgleich beträfe keinen auf das Kabinenpersonal beschränkten Sachverhalt, sondern wirkte sich gleichermaßen auf das von der Stilllegung dieser organisatorischen Einheit ebenfalls betroffene Cockpitpersonal aus. Die inhaltliche Reichweite des in § 81 Abs. 1 Satz 1 TVPV vorgesehenen Interessenausgleichs überstiege damit die Reichweite der normativen Geltung des Tarifvertrags. Dementsprechend könnte die Schuldnerin auch nicht rechtswirksam normativ verpflichtet werden, den Abschluss eines solchen Interessenausgleichs mit Hilfe einer Einigungsstelle nach § 81 Abs. 2 Satz 2 TVPV zu versuchen4.

Angesichts dessen müssen die Regelungen in §§ 80, 81 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 2 TVPV im Wege einer geltungserhaltenden Interpretation einschränkend ausgelegt werden. Der Verhandlungsanspruch der Personalvertretung Kabine, dessen Einhaltung normativ rechtswirksam gesichert und dessen Verletzung entsprechend sanktioniert ist, bezieht sich lediglich auf solche Maßnahmen der Schuldnerin, die ausschließlich das vom Geltungsbereich des TVPV erfasste Kabinenpersonal betreffen. Möglicher Inhalt des ggf. durch Anrufung der Einigungsstelle zu versuchenden Interessenausgleichs sind nur Bestimmungen zum „Ob“, „Wann“ und „Wie“ derartiger personenbezogener Maßnahmen5. Unionsrechtliche Vorgaben stehen dieser Auslegung nicht entgegen. Eine die Grenzen des § 4 Abs. 1 Satz 2 iVm. Satz 1 TVG übersteigende Normwirkung kann den Bestimmungen des TVPV nach dem nationalen Recht nicht beigemessen werden6.

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Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19. Mai 2020 – 1 AZR 333/19

  1. BAG 21.01.2020 – 1 AZR 149/19, Rn. 50[]
  2. vgl. ausf. BAG 21.01.2020 – 1 AZR 149/19, Rn. 51 ff.[]
  3. BAG 21.01.2020 – 1 AZR 149/19, Rn. 54[]
  4. vgl. BAG 21.01.2020 – 1 AZR 149/19, Rn. 55[]
  5. vgl. BAG 21.01.2020 – 1 AZR 149/19, Rn. 56[]
  6. ausf. dazu BAG 21.01.2020 – 1 AZR 149/19, Rn. 58 ff.[]

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