Tarifvertragliche Ausschlussfrist – und der unionsrechtliche Staatshaftungsanspruch wegen unionsrechtswidriger Zuvielarbeit

Der unionsrechtliche Staatshaftungsanspruch wegen unionsrechtswidriger Zuvielarbeit ist ein Anspruch „aus dem Arbeitsverhältnis“ iSd. § 37 TVöD-V.

Tarifvertragliche Ausschlussfrist – und der unionsrechtliche Staatshaftungsanspruch wegen unionsrechtswidriger Zuvielarbeit

§ 37 TVöD-V erfasst alle Ansprüche „aus dem Arbeitsverhältnis“, unabhängig davon, auf welcher Rechtsgrundlage sie beruhen. Bereits aus dem Wortlaut wird deutlich, dass Anspruchsgrundlage für den Anspruch nicht der Arbeitsvertrag sein muss. Erforderlich ist lediglich, dass das Arbeitsverhältnis die Grundlage für den Anspruch bildet. Erfasst sind daher alle Ansprüche, welche die Arbeitsvertragsparteien aufgrund ihrer durch den Arbeitsvertrag begründeten Rechtsbeziehung gegeneinander haben. Maßgeblich ist dabei der Entstehungsbereich des Anspruchs, nicht aber die materiell-rechtliche Anspruchsgrundlage1. Es ist demnach unerheblich, ob der Anspruch aus gesetzlichen Vorschriften, Rechtsverordnungen, Tarifverträgen, Dienst-/Betriebsvereinbarungen oder anderen Rechtsquellen abgeleitet wird. Entscheidend ist die enge Verknüpfung eines Lebensvorgangs mit dem Arbeitsverhältnis2. Erfasst werden daher auch die vorliegend vom Arbeitnehmer geltend gemachten Haftungsansprüche wegen Zuvielarbeit, die dem Einzelnen durch einem Mitgliedstaat zuzurechnende Verstöße gegen das Unionsrecht entstehen. Diese entspringen als Gegenleistung für zu viel geleistete Dienste3 der durch den Arbeitsvertrag begründeten Rechtsbeziehung der Parteien.

Die Anwendung der Ausschlussfrist des § 37 Abs. 1 TVöD-V auf den unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch ist mit Unionsrecht vereinbar.

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist es mangels einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung Sache der nationalen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und das Verfahren für die Klagen auszugestalten, die den vollen Schutz der dem Einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen. Daher hat der Staat die Folgen des entstandenen Schadens im Rahmen des nationalen Haftungsrechts zu beheben, wobei die im Schadensersatzrecht der einzelnen Mitgliedstaaten festgelegten materiellen und formellen Voraussetzungen nicht ungünstiger sein dürfen als bei ähnlichen Klagen, die nur nationales Recht betreffen (Grundsatz der Äquivalenz bzw. Gleichwertigkeit), und nicht so ausgestaltet sein dürfen, dass sie es praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren, die Entschädigung zu erlangen (Grundsatz der Effektivität)4.

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Der Grundsatz der Äquivalenz ist gewahrt.

Die Wahrung des Äquivalenzgrundsatzes setzt voraus, dass die streitige Regelung in gleicher Weise für Klagen gilt, die auf die Verletzung des Unionsrechts gestützt sind, wie für solche, die auf die Verletzung des innerstaatlichen Rechts gestützt sind, sofern diese Klagen einen ähnlichen Gegenstand und Rechtsgrund haben5. Um festzustellen, ob der Grundsatz der Äquivalenz gewahrt ist, hat allein das nationale Gericht die Gleichwertigkeit der Klagen im Hinblick auf den Gegenstand, den Rechtsgrund und die wesentlichen Merkmale zu prüfen6.

Die streitgegenständliche Zahlungsklage aus dem Anspruchsgrund des unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs ist mit sonstigen Zahlungsklagen des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber, insbesondere mit einer Klage auf finanziellen Ausgleich geleisteter Überstunden vergleichbar. Für diese gilt § 37 Abs. 1 TVöD-V in gleicher Weise. Aus dem Verweis in Abschnitt D.2 Nr. 2 Abs. 1 der Anlage D TVöD-V auf die beamtenrechtlichen Bestimmungen zur Arbeitszeit folgt nichts anderes. Durch die in Abschnitt D.2 Nr. 2 Abs. 1 der Anlage D TVöD-V erfolgte Inbezugnahme der beamtenrechtlichen Vorschriften, hier der BbgAZVPFJ, wurden diese in das Tarifrecht inkorporiert. Die Befugnis, in Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes auf die für Beamte geltenden gesetzlichen Bestimmungen zu verweisen, sofern diese Bestimmungen eindeutig sind und mit der tariflichen Regelung in einem engen sachlichen Zusammenhang stehen – was vorliegend der Fall ist, ist von der den Tarifvertragsparteien durch Art. 9 Abs. 3 GG übertragenen Aufgabe, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder sinnvoll zu ordnen, umfasst7. Die Bezugnahme in Abschnitt D.2 Nr. 2 Abs. 1 der Anlage D TVöD-V auf die Bestimmungen für die entsprechenden Beamten, welche statt der §§ 6 bis 9 und § 19 TVöD-V auf Beschäftigte im kommunalen feuerwehrtechnischen Dienst Anwendung finden sollen, wirkt wie eine wörtliche Übernahme dieser Regelungen in den TVöD-V und inkorporiert diese in den Tariftext. Die in Bezug genommenen Bestimmungen sind daher integraler Bestandteil des Tarifrechts und entfalten deshalb im Bereich des TVöD-V auch Wirkung als Tarifrecht8. Durch die einzelvertragliche Inbezugnahme wurden sie im vorliegenden Fall ungeachtet ihres eigentlichen Rechtscharakters Bestandteil des Arbeitsvertrags des Arbeitnehmers9.

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Die Ausschlussfrist des § 37 Abs. 1 TVöD-V macht die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte zudem weder praktisch unmöglich noch erschwert sie sie übermäßig (Grundsatz der Effektivität).

Die Frage der Effektivität ist unter Berücksichtigung der Stellung der zu prüfenden nationalen Vorschrift im gesamten Verfahren sowie des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen. Dabei sind gegebenenfalls die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie zB der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens10. Die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen ist grundsätzlich mit dem Erfordernis der Effektivität vereinbar, weil eine solche Festsetzung ein Anwendungsfall des grundlegenden Prinzips der Rechtssicherheit ist. Derartige Fristen sind nicht geeignet, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren. Es ist daher Sache der Mitgliedstaaten, für nationale Regelungen, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, Fristen festzulegen, die insbesondere der Bedeutung der zu treffenden Entscheidungen für die Betroffenen, der Komplexität der Verfahren und der anzuwendenden Rechtsvorschriften, der Zahl der potentiell Betroffenen und den anderen zu berücksichtigenden öffentlichen oder privaten Belangen entsprechen11.

Danach steht die insbesondere dem Grundsatz der Rechtssicherheit verpflichtete Ausschlussfrist des § 37 Abs. 1 TVöD-V mit dem Erfordernis der Effektivität im Einklang. Es ist nicht ersichtlich, dass die Länge dieser Sechs-Monats-Frist als solche die Ausübung der vom Unionsrecht verliehenen Rechte unmöglich machen oder übermäßig erschweren könnte12. Sie ist angemessen in dem Sinne, dass sie es dem Arbeitnehmer erlaubt, zu beurteilen, ob ein Anspruchsgrund besteht und diesen gegenüber dem Arbeitgeber schriftlich geltend zu machen. Auch beginnt die Ausschlussfrist mit der Fälligkeit des Anspruchs, dh. der Kenntnis des Arbeitnehmers von den anspruchsbegründenden Tatsachen. Der Arbeitnehmer kann sich mithin nicht in einer Situation befinden, in der die Ausschlussfrist zu laufen beginnt oder sogar abgelaufen ist, ohne dass ihm die anspruchsbegründenden Tatsachen überhaupt bekannt sind13.

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Da es sich bei dem unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch bei Zuvielarbeit letztlich um eine nicht in Monatsbeträgen festgelegte Gegenleistung für zu viel geleistete Dienste handelt, ist die Fälligkeitsregelung des § 24 Abs. 1 Satz 4 TVöD-V anzuwenden. Mit Ableistung der aus Sicht des Arbeitnehmers unionsrechtswidrigen Zuvielarbeit hatte er jeweils Kenntnis von den anspruchsbegründenden Tatsachen. Das gilt unabhängig davon, dass unionsrechtswidrig geleistete Zuvielarbeit primär durch Freizeit auszugleichen ist. Ist ein solcher aus vom Arbeitnehmer nicht zu vertretenden Gründen nicht möglich, geht er nicht unter, sondern wandelt sich in einen Anspruch auf Geldentschädigung um14.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 11. April 2019 – 6 AZR 104/18

  1. BAG 17.10.2018 – 5 AZR 538/17, Rn. 34[]
  2. BAG 21.01.2010 – 6 AZR 556/07, Rn.19 mwN[]
  3. vgl. BGH 14.12 2017 – III ZR 117/17, Rn. 5; BFH 26.08.2016 – VI B 95/15, Rn. 16[]
  4. vgl. EuGH 25.11.2010 – C-429/09 – [Fuß] Rn. 62, 72, jeweils mwN; 24.03.2009 – C-445/06, Rn. 31 mwN[]
  5. EuGH 8.07.2010 – C-246/09 – [Bulicke] Rn. 26 mwN[]
  6. EuGH 8.07.2010 – C-246/09 – [Bulicke] Rn. 28 mwN; 29.10.2009 – C-63/08 – [Pontin] Rn. 45[]
  7. BAG 18.03.2010 – 6 AZR 434/07, Rn. 22[]
  8. vgl. BAG 18.03.2010 – 6 AZR 434/07, Rn. 25[]
  9. vgl. für den Tarifvertrag BAG 7.12 1977 – 4 AZR 474/76 13; ErfK/Franzen 19. Aufl. TVG § 3 Rn. 32[]
  10. EuGH 7.03.2018 – C-494/16 – [Santoro] Rn. 43; 8.07.2010 – C-246/09 – [Bulicke] Rn. 35[]
  11. EuGH 8.07.2010 – C-246/09 – [Bulicke] Rn. 36[]
  12. vgl. für eine Frist von zwei Monaten EuGH 8.07.2010 – C-246/09 – [Bulicke] Rn. 39 [zu § 15 Abs. 4 AGG]; 6.10.2009 – C-40/08, Rn. 42 ff.[]
  13. vgl. in diesem Sinne EuGH 6.10.2009 – C-40/08, Rn. 45[]
  14. vgl. hierzu BVerwG 20.07.2017 – 2 C 31.16, Rn. 50 ff., BVerwGE 159, 245; 26.07.2012 – 2 C 29.11, Rn. 34 ff., 40, 48, BVerwGE 143, 381[]
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