Tarifvertragliche Ausschlussfristen – und die erst später entstandenen Ansprüche

Die (erstmalige) Geltendmachung von arbeits- oder tarifvertraglichen Ansprüchen durch den Arbeitnehmer wahrt eine tarifvertragliche Ausschlussfrist auch für später fällig gewordenen oder entstandenen Ansprüche.

Tarifvertragliche Ausschlussfristen – und die erst später entstandenen Ansprüche

Dies entschied das Bundesarbeitsgericht im vorliegenden Fall für die in § 12 des Manteltarifvertrags für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie in Mecklenburg-Vorpommern vom 02.06.2009 (MTV) enthaltene Ausschlussfrist. Nach § 12 MTV müssen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis innerhalb einer Ausschlussfrist von drei Monaten seit ihrer Entstehung geltend gemacht werden.

Eine Forderung ist im Allgemeinen dann entstanden, wenn der von der Norm zu ihrer Entstehung vorausgesetzte Tatbestand verwirklicht ist, auch wenn der Gläubiger die Leistung zu diesem Zeitpunkt noch nicht verlangen kann, also die Fälligkeit der Forderung hinausgeschoben ist. Der Lauf der Ausschlussfrist beginnt aber nicht vor Fälligkeit, dh. nicht vor dem Zeitpunkt, zu dem der Gläubiger vom Schuldner die Leistung verlangen (§ 271 BGB) und im Weg der Klage durchsetzen kann1.

Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 MTV ist die monatliche Entgeltzahlung bis zum letzten Werktag des jeweiligen Monats auf das Konto des Arbeitnehmers zu überweisen. Variable Entgeltbestandteile, zu denen auch die streitgegenständlichen Nachtarbeitszuschläge gehören, sind nach § 7 Abs. 1 Satz 2 MTV spätestens bis zum letzten Werktag des Folgemonats abzurechnen und auszuzahlen. Die Nachtarbeitszuschläge sind damit jeweils erst am letzten Werktag des Folgemonats nach Leistung der Nachtarbeit fällig geworden. Der älteste Anspruch auf Nachtarbeitszuschläge aus November 2018 war somit am 31.12.2018, einem Montag, fällig. Die dreimonatige Ausschlussfrist begann am 1.01.2019 zu laufen.

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Dem Vortrag der Arbeitnehmerin, sie habe ihre Ansprüche mit Schreiben vom 22.03.2019 innerhalb der Ausschlussfrist geltend gemacht, ist die Arbeitgeberin nicht entgegengetreten.

Diese erstmalige Geltendmachung genügt nach § 12 MTV auch für später entstandene Ansprüche.

Eine Geltendmachung von Ansprüchen setzt zwar grundsätzlich voraus, dass der Anspruch bereits entstanden ist. Eine Besonderheit liegt aber vor, wenn bei unveränderter rechtlicher und tatsächlicher Lage ein Anspruch aus einem bestimmten Sachverhalt hergeleitet werden kann. Dies ist etwa der Fall, wenn ein bestimmter Anspruch jeweils aus einem ständig gleichen Grundtatbestand entsteht. Durch einmalige ordnungsgemäße Geltendmachung kann die Ausschlussfrist dann auch im Hinblick auf noch nicht entstandene Ansprüche gewahrt sein. Auch wenn die jeweilige Tarifbestimmung dies nicht ausdrücklich vorsieht, kommt eine entsprechende Auslegung in Betracht, wenn der mit der Ausschlussfrist verfolgte Zweck, dem Schuldner zeitnah Gewissheit zu verschaffen, mit welchen Ansprüchen er zu rechnen hat, durch die einmalige Geltendmachung erreicht wird. Die einschränkende Auslegung ist insbesondere dann geboten, wenn lediglich über die stets gleiche Berechnungsgrundlage von im Übrigen unstreitigen Ansprüchen gestritten wird; hier reicht im Zweifel die einmalige Geltendmachung der richtigen Berechnungsmethode auch für später entstehende Zahlungsansprüche aus. Steht allein ein bestimmtes Element einer bestimmten Art von Ansprüchen in Streit, erfüllt die Aufforderung, dieses zukünftig in konkreter Art und Weise zu beachten, die Funktion einer Inanspruchnahme. Für den Schuldner kann kein Zweifel bestehen, was von ihm verlangt wird, und der Gläubiger darf ohne Weiteres davon ausgehen, dass er seiner Obliegenheit zur Geltendmachung Genüge getan hat2.

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Nach diesen Grundsätzen genügt vorliegend die einmalige Geltendmachung auch für später entstehende Differenzansprüche zwischen dem geleisteten Zuschlag für Nachtschichtarbeit nach § 5 Abs. 2 Alt. 3 MTV und dem Zuschlag für Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit nach § 5 Abs. 2 Alt. 2 MTV. Der Wortlaut des § 12 MTV schließt die Geltendmachung künftiger Ansprüche nicht von vornherein aus. Der Umfang der geleisteten Nachtarbeit stand und steht zwischen den Parteien außer Streit. Umstritten ist einzig die Rechtsfrage, ob die tarifliche Differenzierung bei der Höhe der Nachtarbeitszuschläge rechtswirksam ist und welche Rechtsfolgen an eine Unwirksamkeit ggf. geknüpft sind. Die Arbeitgeberin musste vor diesem Hintergrund nach der erstmaligen Geltendmachung deshalb damit rechnen, dass diese Streitfrage sich auch bei in den Folgemonaten geleisteter Nachtschichtarbeit stellt und sie konnte ihr Verhalten darauf einstellen.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 22. März 2023 – 10 AZR 499/20

  1. BAG 25.01.2023 – 4 AZR 171/22, Rn. 35; 27.06.2018 – 10 AZR 290/17, Rn. 55 mwN, BAGE 163, 144[]
  2. vgl. BAG 19.02.2020 – 10 AZR 19/19, Rn. 61, BAGE 170, 24; umfassend BAG 16.01.2013 – 10 AZR 863/11, Rn. 31, BAGE 144, 210[]