Tarifvertragliche Höhergruppierung der Servicekräfte beim Amtsgericht – und die Verfassungsbeschwerde des Landes Berlin

Ein Bundesland kann sich auch insoweit nicht auf Grundrechte und grundrechtsgleiche Rechte berufen, wie es zivilrechtlich – als Arbeitgeber – tätig geworden ist.

Tarifvertragliche Höhergruppierung der Servicekräfte beim Amtsgericht – und die Verfassungsbeschwerde des Landes Berlin

Das Bundesverfassungsgericht hat eine Verfassungsbeschwerde des Landes Berlin und der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) nicht zur Entscheidung angenommen, mit der sich diese gegen zwei Urteile des Bundesarbeitsgerichts wendeten, in denen es um die Eingruppierung von Servicekräften eines Amtsgerichts in eine höhere Entgeltstufe des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) ging1. Das Land Berlin kann sich jedoch nicht auf die hier in Betracht kommenden Grundrechte und grundrechtsgleiche Rechte berufen. Die Arbeitgebervereinigung ist nicht beschwerdebefugt, weil sie nicht Partei des fachgerichtlichen Verfahrens war; zudem hätte sie den Inhalt der tarifvertraglichen Regelung zunächst vor den Fachgerichten klären lassen müssen.

Der Ausgangssachverhalt

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen zwei Urteile des Bundesarbeitsgerichts, in denen die Auslegung des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) vom 12.10.2006 in der Fassung des Änderungstarifvertrages Nr. 11 vom 02.03.2019 zwischen der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) und ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft sowie der dbb beamtenbund und tarifunion streitig war. Gegenstand war insbesondere § 12 TV-L in Verbindung mit Anlage A – Entgeltordnung zum TV-L – Teil II Abschnitt 12 Beschäftigte im Justizdienst – Unterabschnitt 12.1 Beschäftigte bei Gerichten und Staatsanwaltschaften mit der Frage, was tarifrechtlich als Arbeitsergebnis zu verstehen sei.

Weiterlesen:
Gleichstellungsabreden in Arbeitsverträgen - und die Abgrenzung von Neu- und Altverträgen Tags

Ausgangspunkt war in beiden fachgerichtlichen Verfahren ein Eingruppierungsrechtsstreit jeweils einer Beschäftigten in einer Serviceeinheit bei einem Amtsgericht. Sie machten rückwirkend Differenzzahlungsansprüche zwischen der Entgeltgruppe 6 und der Entgeltgruppe 9 beziehungsweise 9a sowie für die Zukunft eine Vergütung nach der Entgeltgruppe 9a geltend. Das Bundesarbeitsgericht sprach beiden Beschäftigten eine Vergütung nach der Entgeltgruppe 9 beziehungsweise 9a zu. Alle Tätigkeiten in der Serviceeinheit seien ihnen einheitlich zugewiesen und führten zu einem Arbeitsergebnis. Die gesamte Tätigkeit diene dem Arbeitsergebnis der Betreuung der Aktenvorgänge in der Serviceeinheit; vom Eingang bis zum Abschluss des Verfahrens.
3

Die Verfassungsbeschwerde

Beschwerdeführer ist zum einen das Land Berlin als Arbeitgeber, das nach Wiedereintritt mit Wirkung vom 01.01.2013 Mitglied der tarifschließenden Arbeitgebervereinigung, der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL), ist. Die zweite Beschwerdeführerin ist die TdL. Sie hat den hier verfahrensgegenständlichen Tarifvertrag auf Arbeitgeberseite geschlossen, war aber an den fachgerichtlichen Ausgangsverfahren nicht beteiligt.

Mit der Verfassungsbeschwerde wird eine Verletzung der in Art. 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich garantierten Tarifautonomie geltend gemacht. Das Bundesarbeitsgericht habe zudem die spezifischen Grenzen der zulässigen Auslegung von tarifvertraglichen Regelungen überschritten, was Art. 9 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 und Art.20 Abs. 2 und 3 GG verletze. Das Land sei als tariffähiger Arbeitgeber beschwerdefähig; der Abschluss von Tarifverträgen sei kollektiv ausgeübte Privatautonomie, weshalb das Land insoweit nicht hoheitlich handele. Der tarifschließende Arbeitgeberverband sei ausnahmsweise durch die Urteilsgründe der Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts drittbeschwert.

Weiterlesen:
Corona - und die Bayerische Verordnung über befristete Ausgangsbeschränkungen

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Die Verfassungsbeschwerde wurde vom Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen. Die Sache habe keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung und eine Annahme sei auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt (§ 93a Abs. 2 BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde sei insgesamt unzulässig:

Die Verfassungsbeschwerde des Landes Berlin ist unzulässig, denn das Land ist nicht beschwerdeberechtigt.

Juristische Personen des öffentlichen Rechts können materielle Grundrechte grundsätzlich nicht geltend machen2, sondern sich nur auf die justiziellen Rechte aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und aus Art. 103 Abs. 1 GG berufen3. Der Staat kann nicht gleichzeitig Adressat und Berechtigter der Grundrechte sein4. Anderes gilt für jene juristischen Personen des öffentlichen Rechts, die unmittelbar einem durch bestimmte Grundrechte geschützten Lebensbereich zugeordnet sind oder ihm kraft ihrer Eigenart von vornherein zugehören, wie Rundfunkanstalten, Universitäten und deren Fakultäten oder Kirchen und sonstige öffentlich-rechtliche Weltanschauungsgemeinschaften5.

Danach kann sich das Land Berlin weder auf Art. 9 Abs. 3 GG noch auf Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art.20 Abs. 3 GG berufen. Sie ist insoweit nicht beschwerdeberechtigt. Zwar ist das Land als Arbeitgeberin zum Abschluss von Tarifverträgen berechtigt. Das tarifvertragliche Handeln und die damit bewirkte Normsetzung sind ungeachtet der normativen Wirkung, die Tarifnormen nach § 1 Tarifvertragsgesetz zukommt, auch als kollektiv ausgeübte Privatautonomie zu verstehen6. Soweit das Land Berlin Personen auf arbeitsrechtlicher Grundlage beschäftigt, betätigt sie sich ebenfalls als Privatrechtssubjekt7. Doch ergibt sich daraus keine Ausnahme von dem Grundsatz der fehlenden Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts. Das Land ist hier keine eigenständige; vom Staat unabhängige oder jedenfalls distanzierte Einrichtung, die unmittelbar dem durch ein spezifisches Grundrecht geschützten Lebensbereich zuzuordnen wäre und in diesem Lebensbereich den Bürgerinnen und Bürgern zur Verwirklichung ihrer Grundrechte diente8. Eine darüber hinausgehende Ausdehnung der Grundrechtsfähigkeit auf juristische Personen des öffentlichen Rechts wäre grundsätzlich mit dem primären Sinn der Grundrechte, den Schutz der Einzelnen vor Eingriffen der staatlichen Gewalt zu gewährleisten, nicht mehr vereinbar. Sie könnte dazu führen, dass die Grundrechte in ihr Gegenteil verkehrt werden, wenn Grundrechtsschutz zugunsten der öffentlichen Hand damit letztlich gegen die Bürgerinnen und Bürger gewendet wird9. Damit wird die Parität der Tarifvertragsparteien zur Gestaltung von Arbeitsverhältnissen mit staatlichen Arbeitgebern nicht aufgehoben, denn diesen steht bei unlösbaren Konflikten der fachgerichtliche Rechtsweg und dessen verfassungsgerichtliche Überprüfung anhand der Prozessgrundrechte zur Verfügung.

Weiterlesen:
Erhöhter Urlaubsanspruch für ältere Arbeitnehmer

Auch die Verfassungsbeschwerde der Tarifgemeinschaft deutscher Länder ist unzulässig. Sie ist nicht beschwerdebefugt und ihre Verfassungsbeschwerde wahrt nicht den Grundsatz der Subsidiarität (§ 90 Abs. 2 BVerfGG).

Die Beschwerdebefugnis setzt die Behauptung voraus, durch Akte der öffentlichen Gewalt in Grundrechten verletzt zu sein. Der angegriffene Akt muss geeignet sein, die Beschwerdeführenden selbst, unmittelbar und gegenwärtig in ihren grundrechtlich geschützten Rechtspositionen zu beeinträchtigen10.

Das ist hier nicht der Fall. Die Tarifgemeinschaft deutscher Länder ist durch die angegriffenen Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts nicht unmittelbar adressiert, da sie weder Partei noch Beteiligte des Ausgangsverfahrens war. Sie hat zwar den verfahrensgegenständlichen Tarifvertrag abgeschlossen, doch bindet die gerichtliche Entscheidung rechtlich nur im Verhältnis zwischen den Prozessparteien (§ 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG, § 495 ZPO i.V.m. § 322 Abs. 1 ZPO). Zwar wirken die hier angegriffenen Entscheidungen mittelbar auf das Tarifgeschehen ein. Das genügt jedoch für die Beschwerdebefugnis nicht.

Darüber hinaus genügt die Verfassungsbeschwerde der Tarifgemeinschaft deutscher Länder nicht dem Grundsatz der Subsidiarität. Danach müssen vor Einlegung einer Verfassungsbeschwerde alle zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergriffen werden, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern11. Eine Verfassungsbeschwerde ist folglich unzulässig, wenn in zumutbarer Weise Rechtsschutz durch die Anrufung der Fachgerichte erlangt werden kann.

Weiterlesen:
Ratgeber: Tipps zum Thema Entrümpelung

Das ist hier der Fall. Die Tarifgemeinschaft deutscher Länder hätte den Inhalt des verfahrensgegenständlichen Tarifvertrages nach § 9 TVG gerichtlich mit verbindlicher Wirkung für die Normunterworfenen losgelöst vom Einzelfall klären lassen können. Eine Verbandsklage ist auch dann zulässig, wenn sie lediglich die Gültigkeit oder Auslegung einer einzelnen Tarifnorm betrifft12. Die Tarifgemeinschaft deutscher Länder hätte ihre Argumente zur Auslegung von § 12 Abs. 1 TV-L in Verbindung mit der Protokollerklärung Nr. 1 zu § 12 Abs. 1 (Aufspaltungsverbot) und des Unterabschnitts 1 von Teil II Abschnitt 1 der Entgeltordnung zum TV-L13 in einem solchen Verfahren vorbringen können. Hier ist nicht erkennbar, weshalb dies unzumutbar sein sollte. Die Beschreitung des Rechtswegs würde auch hier vielmehr verhindern, dass das Bundesverfassungsgericht über eine solche fachliche Frage auf ungesicherter Tatsachen- und Rechtsgrundlage entscheidet14.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 4. Oktober 2022 – 1 BvR 382/21

  1. BAG, Urteile vom 09.09.2020 – 4 AZR 195/20 und 4 AZR 196/20[]
  2. vgl. BVerfGE 143, 246 <313 Rn. 187> m.w.N.; zuletzt BVerfG, Beschluss vom 15.12.2020 – 1 BvR 1395/19, Rn. 31[]
  3. vgl. BVerfGE 61, 82 <104> 138, 64 <83 Rn. 55> m.w.N.[]
  4. vgl. BVerfGE 15, 256 <262> 21, 362 <370>[]
  5. vgl. BVerfGE 143, 246 <313 f. Rn. 188 f.>[]
  6. vgl. BVerfGE 146, 71 <120 Rn. 147>[]
  7. vgl. BVerfGE 88, 103 <116>[]
  8. vgl. BVerfGE 21, 362 <373 f.> 68, 193 <207> m.w.N.; dazu BVerfG, Beschluss vom 29.05.2007 – 2 BvR 695/07, Rn. 22; stRspr[]
  9. vgl. BVerfGE 59, 231 <254 f.>[]
  10. vgl. BVerfGE 1, 97 <101 ff.> 53, 30 <48> 115, 118 <137> stRspr[]
  11. vgl. BVerfGE 123, 148 <172> 134, 242 <285 Rn. 150> stRspr[]
  12. vgl. BAG, Urteil vom 28.09.1977 – 4 AZR 446/76, AP Nr. 1 zu § 9 TVG 1969[]
  13. Beschäftigte bei Gerichten und Staatsanwaltschaften[]
  14. vgl. BVerfGE 123, 148 <173> 138, 261 <271 f.> m.w.N.[]
Weiterlesen:
Tarifvertragliche Leistungen an Gewerkschaftsmitglieder - und der Interessenausgleich

Bildnachweis: