Tarifvertraglicher Ausschluss der Abgeltung tariflichen Mehrurlaubs

Gemäß § 12 Abschn. IV Ziff. 2 Satz 1 MTV Chemie ist der Urlaubsanspruch zwar abzugelten, soweit er bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch nicht erfüllt ist. Jedoch sind nach § 12 Abschn. IV Ziff. 2 Satz 2 MTV Chemie nicht erfüllbare Urlaubsansprüche nicht abzugelten. Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieses tariflichen Abgeltungsausschlusses liegen vor. Deshalb kann dahingestellt bleiben, ob der tarifliche Mehrurlaub aus den Jahren 2007 und 2008 gemäß § 12 Abschn. I Ziff. 11 Satz 2 MTV Chemie am 31.03.des jeweiligen Folgejahres erloschen ist. Ein dem Kläger bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch zustehender Mehrurlaub war jedenfalls im Sinne der Tarifvorschrift nicht erfüllbar. Die Arbeitsunfähigkeit des Klägers hinderte die Beklage, den Urlaubsanspruch des Klägers zu erfüllen1.

Tarifvertraglicher Ausschluss der Abgeltung tariflichen Mehrurlaubs

§ 12 Abschn. IV Ziff. 2 Satz 2 MTV Chemie enthält eine von der gesetzlichen Abgeltungsregelung in § 7 Abs. 4 BUrlG abweichende, eigenständige Tarifregelung. Diese steht einem Gleichlauf zwischen dem Anspruch auf Abgeltung des gesetzlichen Mindesturlaubs und dem Anspruch auf Abgeltung tariflichen Mehrurlaubs entgegen.

Sowohl Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG2 als auch §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG begründen einen Anspruch auf Mindestjahresurlaub im Umfang von vier Wochen. Die Tarifvertragsparteien können Urlaubsansprüche, die darüber hinausgehen, den sog. tariflichen Mehrurlaub, frei regeln3. Tarifbestimmungen können daher vorsehen, dass der Arbeitgeber den tariflichen Mehrurlaub bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht oder nur dann abzugelten hat, wenn der Arbeitnehmer arbeitsfähig ist4. Da nicht der durch die Arbeitszeitrichtlinie gewährleistete Mindestjahresurlaub von vier Wochen betroffen ist, besteht keine Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV5.

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Das Bundesarbeitsgericht hat die im Streitfall maßgeblichen Tarifvorschriften anhand des innerstaatlichen Rechts auszulegen. Nur für den Fall, dass die Tarifvertragsparteien von ihrer Regelungsmacht Gebrauch gemacht haben, unterfällt der Urlaubsanspruch, den der Kläger abgegolten haben will, der Ausschlussregelung des § 12 Abschn. IV Ziff. 2 Satz 2 MTV Chemie. Dies kann sich zum einen daraus ergeben, dass die tariflichen Abgeltungsregelungen zwischen gesetzlichem Mindesturlaub und tariflichem Mehrurlaub unterscheiden; zum anderen ist es möglich, dass sich die Tarifvertragsparteien vom gesetzlichen Abgeltungsregime gelöst und eigenständige, vom Bundesurlaubsgesetz abweichende Regelungen zur Abgeltung von Urlaubsansprüchen getroffen haben. Für einen Regelungswillen der Tarifvertragsparteien, den tariflichen Mehrurlaub einem eigenen, von dem des Mindesturlaubs abweichenden Abgeltungsregime zu unterstellen, müssen deutliche Anhaltspunkte vorliegen. Fehlen solche, ist von einem „Gleichlauf“ des Anspruchs auf Abgeltung gesetzlichen Urlaubs und des Anspruchs auf Abgeltung tariflichen Mehrurlaubs auszugehen.

Nach der Abgeltungskonzeption des MTV Chemie soll der Arbeitnehmer das Risiko tragen, dass der Anspruch auf Mehrurlaub nicht erfüllbar ist. Dies steht im Gegensatz zu der neueren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, der zufolge die fortdauernde Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers keinen Einfluss auf die Verpflichtung des Arbeitgebers hat, den Urlaub, der wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr gewährt werden kann, abzugelten6.

§ 12 Abschn. IV Ziff. 2 Satz 2 MTV Chemie ist eine Tarifnorm iSd. § 1 Abs. 1, § 4 TVG. Sie hat nicht lediglich deklaratorischen Charakter. Dies gilt unabhängig davon, dass die Tarifvertragsparteien den Abgeltungsausschluss erstmalig zu einem Zeitpunkt tarifierten, zu dem die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung Urlaubsabgeltungsansprüche mehrheitlich dem Regime der sog. Surrogatstheorie unterstellte.

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§ 12 Abschn. IV Ziff. 2 Satz 2 MTV Chemie gilt seit dem Tarifabschluss vom 24. Juni 1992. Der Ausschluss von Abgeltungsansprüchen in den Fällen, in denen der Urlaubsanspruch nicht erfüllbar ist, spiegelte im Jahr 1992 den Rechtsstand wider, der nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum damaligen Zeitpunkt von Gesetzes wegen galt. Das Bundesarbeitsgericht vertrat seit 1983 die Surrogatstheorie7. Danach setzte der Anspruch aus § 7 Abs. 4 BUrlG voraus, dass der Arbeitgeber den Urlaubsanspruch allein wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht erfüllen konnte. Der Abgeltungsanspruch, der mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses an die Stelle des Anspruchs auf Gewährung von Erholungsurlaub trete, sei – so der damals für das Urlaubsrecht allein zuständige Bundesarbeitsgericht – das Surrogat des Urlaubsanspruchs8. Als Surrogat sei der Abgeltungsanspruch hinsichtlich seiner Entstehung und Fortdauer an dieselben Voraussetzungen wie der Urlaubsanspruch gebunden. An einem erfüllbaren Anspruch fehle es, wenn der Arbeitnehmer über das Urlaubsjahr und den Übertragungszeitraum hinaus krankheitsbedingt arbeitsunfähig sei. Auf diese Weise sei sogleich sichergestellt, dass Arbeitnehmer, die aus dem Arbeitsverhältnis ausschieden, in urlaubsrechtlicher Hinsicht nicht besser gestellt seien als Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis fortbestehe.

Bei der inhaltlich unveränderten Übernahme außertariflicher Normen in den Tarifvertrag kann es allerdings am Willen der Tarifvertragsparteien fehlen, hierdurch eigene Tarifnormen zu schaffen. Zweck der Übernahme kann es sein, einen möglichst vollständigen Überblick über die geltende Rechtslage zu geben und insbesondere Missverständnisse bei der Anwendung des Tarifvertrags zu vermeiden, die sich aus einer bruchstückhaften Darstellung der Rechtslage im Tarifvertrag ergeben könnten. Erfolgt die Übernahme zu diesem Zweck, so handelt es sich nicht um eine Tarifnorm im Sinne von § 1 Abs. 1, § 4 TVG9.

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Bei tariflichen Normen, die sich inhaltlich an gesetzliche Normen anlehnen oder auf sie verweisen, ist jeweils durch Auslegung zu ermitteln, ob die Tarifvertragsparteien hierdurch eine selbstständige, in ihrer normativen Wirkung von der außertariflichen Norm unabhängige eigenständige Regelung treffen wollten. Dieser Wille muss im Tarifvertrag einen hinreichend erkennbaren Ausdruck finden. Das ist regelmäßig anzunehmen, wenn die Tarifvertragsparteien eine im Gesetz nicht oder anders enthaltene Regelung treffen oder eine gesetzliche Regelung übernehmen, die sonst nicht für die betroffenen Arbeitsverhältnisse gelten würde. Für einen rein deklaratorischen Charakter der Übernahme spricht hingegen, wenn einschlägige gesetzliche Vorschriften wörtlich oder inhaltlich übernommen werden. In einem derartigen Fall ist bei Fehlen gegenteiliger Anhaltspunkte davon auszugehen, dass es den Tarifvertragsparteien bei der wörtlichen Übernahme des Gesetzestextes darum gegangen ist, im Tarifvertrag eine unvollständige Darstellung der Rechtslage zu vermeiden. Sie haben dann die unveränderte gesetzliche Regelung im Interesse der Klarheit und Übersichtlichkeit deklaratorisch in den Tarifvertrag aufgenommen, um die Tarifgebundenen möglichst umfassend über die zu beachtenden Rechtsvorschriften zu unterrichten10.

Der Wille der Tarifvertragsparteien, eine die Rechtsverhältnisse der Tarifunterworfenen gestaltende Tarifvorschrift zu schaffen, kommt in § 12 Abschn. IV Ziff. 2 Satz 2 MTV Chemie hinreichend zum Ausdruck. Die Tarifvorschrift gab auch zum Zeitpunkt ihrer erstmaligen Vereinbarung nicht den Wortlaut des § 7 Abs. 4 BUrlG wieder; sie tarifiert vielmehr die Surrogatstheorie, die im Wortlaut des § 7 Abs. 4 BUrlG keinen Niederschlag gefunden hat. Zudem stellt § 12 Abschn. IV Ziff. 2 Satz 2 MTV Chemie anders als die Surrogatstheorie in zeitlicher Hinsicht nicht auf das Urlaubsjahr einschließlich des Übertragungszeitraums, sondern auf den Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ab. Schließlich konnten die Tarifvertragsparteien beim Tarifabschluss am 16.04.2008 nicht davon ausgehen, dass das Bundesarbeitsgericht seine bisherige Rechtsprechung zur Surrogatstheorie fortführen werde11. Zu diesem Zeitpunkt war das Vorabentscheidungsersuchen des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf in der Sache Schultz-Hoff vom 02.08.200612 bekannt. Wenn die Tarifvertragsparteien dennoch in § 12 Abschn. IV Ziff. 2 Satz 2 MTV Chemie die Regelung beibehalten haben, dass nicht erfüllbare Urlaubsansprüche nicht abzugelten sind, wird deutlich, dass sie unabhängig davon, wie die Rechtsprechung § 7 Abs. 4 BUrlG auslegt, an der Surrogatstheorie festhalten wollten.

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Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, dass die Tarifbestimmung des § 12 Abschn. IV Ziff. 2 Satz 2 MTV Chemie insoweit unwirksam ist, als sie nicht nur die Abgeltung des tariflichen Mehrurlaubs, sondern – ohne Differenzierung – auch des unionsrechtlich wie innerstaatlich verbürgten Mindesturlaubs ausschließt (§ 13 Abs. 1 Satz 1, § 1 BUrlG i.V.m. § 134 BGB). Für den vom Mindesturlaub abtrennbaren Teil der einheitlich geregelten Gesamturlaubsdauer, den Mehrurlaub, bleibt die Tarifregelung gemäß § 139 BGB wirksam13.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 13. November 2012 – 9 AZR 64/11

  1. vgl. BAG 21.02.2012 – 9 AZR 486/10, Rn. 13, NZA 2012, 750[]
  2. Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 04.11.2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung, ABl.EU L 299 vom 18.11.2003 S. 9[]
  3. vgl. EuGH 03.05.2012 – C-337/10[Neidel] Rn. 34 ff. mwN, AP Richtlinie 2003/88/EG Nr. 8 = EzA EG-Vertrag 1999 Richtlinie 2003/88 Nr. 9[]
  4. vgl. BAG 22.05.2012 – 9 AZR 618/10, Rn. 22, NZA 2012, 987[]
  5. BAG 22.05.2012 – 9 AZR 575/10, Rn. 10, PersR 2012, 411[]
  6. vgl. BAG 13.12.2011 – 9 AZR 399/10, Rn. 15, AP BUrlG § 7 Abgeltung Nr. 93 = EzA BUrlG § 7 Abgeltung Nr.20[]
  7. vgl. BAG 23.06.1983 – 6 AZR 180/80, zu 3 der Gründe, BAGE 44, 75; sodann ständige Rechtsprechung bis 27.05.2003 – 9 AZR 366/02, zu I 1 der Gründe, EzA BUrlG § 7 Abgeltung Nr. 9[]
  8. BAG 18.06.1980 – 6 AZR 328/78, zu 1 a der Gründe, AP BUrlG § 13 Unabdingbarkeit Nr. 6 = EzA BUrlG § 13 Nr 14[]
  9. vgl. BAG 27.08.1982 – 7 AZR 190/80, zu II 1 der Gründe, BAGE 40, 102[]
  10. BAG 23.09.1992 – 2 AZR 231/92, zu III a der Gründe; siehe ferner BAG 4.03.1993 – 2 AZR 355/92, zu II 1 a der Gründe, AP BGB § 622 Nr. 40 = EzA BGB § 622 nF Nr. 44; in diesem Sinne bereits BAG 27.08.1982 – 7 AZR 190/80, zu II 2 der Gründe, BAGE 40, 102; offengelassen von BAG 16.12.1998 – 5 AZR 490/98, zu II 3 der Gründe[]
  11. so zum Vertrauensschutz auf Arbeitgeberseite: BAG 24.03.2009 – 9 AZR 983/07, Rn. 76, BAGE 130, 119[]
  12. LAG Düsseldorf 02.08.2006 – 12 Sa 486/06 – LAGE BUrlG § 7 Nr. 43[]
  13. so für tarifliche Befristungsregelungen: BAG 22.05.2012 – 9 AZR 575/10, Rn. 17, PersR 2012, 411; 12.04.2011 – 9 AZR 80/10, Rn. 27, BAGE 137, 328[]
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