In einem tarifpluralen Betrieb kann die Geltung des § 4a TVG nicht nur durch eine Vereinbarung aller von der Tarifkollision erfassten Tarifvertragsparteien abbedungen werden, sondern auch dadurch, dass der tarifschließende Arbeitgeberverband mit den jeweiligen Gewerkschaften entsprechende Vereinbarungen trifft. Der Vorrang tariflicher Regelungen nach § 77 Abs. 3 Satz 1 TVG entfällt in einem tarifpluralen Betrieb nur dann, wenn alle Tarifverträge, die diese Sperrwirkung auslösen, eine entsprechende Öffnungsklausel iSv. Satz 2 der Vorschrift enthalten. Der Tarifvorbehalt in § 87 Abs. 1 Eingangshalbs. BetrVG für das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats in sozialen Angelegenheiten wird in einem solchen Betrieb durch jede zwingende tarifliche Regelung für alle Arbeitnehmer ausgelöst.

In dem hier vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Fall ging es um einen Anspruch der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) auf Unterlassung der Durchführung einer Betriebsvereinbarung gegen ein Schienenverkehrsunternehmen im Konzern der Deutschen Bahn AG, das Mitglied des Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbands der Mobilitäts- und Verkehrsdienstleister e.V. (AGV MOVE) und als solches an die von diesem Verband einerseits mit der GDL geschlossenen Tarifverträge und andererseits an die mit der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) vereinbarten Tarifverträge gebunden ist. Der AGV MOVE und die EVG verzichteten in dem am 27.05.2015 geschlossenen Tarifvertrag zur Sicherung kollisionsfreier Tarifbestimmungen (TV Kollisionsfreiheit) ebenso wie der AGV MOVE und die GDL mit dem Tarifvertrag zur Regelung von Grundsatzfragen (TV Grundsatzfragen) vom 30.06.2015 einvernehmlich auf die Anwendung von § 4a TVG. Die Laufzeit des TV Grundsatzfragen endete am 31.12.2020.
Der von dem AGV MOVE und der EVG am 14.12.2018 vereinbarte Basistarifvertrag zu den Funktionsgruppenspezifischen Tarifverträgen und Funktionsspezifischen Tarifverträgen verschiedener Unternehmen des DB Konzerns sowie die Funktionsgruppenspezifischen Tarifverträge für Tätigkeiten der Funktionsgruppe 4 – Lokfahrdienst – und für Tätigkeiten der Funktionsgruppe 5 – Bahnservice und Vertrieb – verschiedener Unternehmen des DB Konzerns enthielten Arbeitszeitregelungen, ua. zum Ausfall von Arbeit sowie zu Ruhetagen. § 11 Abs. 2 der von diesen Tarifvertragsparteien vereinbarten „Grundsatzregelung zur gemeinsamen Gestaltung der Personal, Sozial- und Tarifpolitik in den Unternehmen des DB Konzerns (DemografieTV)“ vom 14.12.2018 sah zur Arbeitszeitgestaltung der Betriebsparteien Folgendes vor:
„Die Tarifvertragsparteien stimmen überein, dass das Mitbestimmungsrecht durch die tarifvertraglichen Bestimmungen ausdrücklich gestärkt und nicht eingeschränkt wird und somit über diese Regelungen hinausgehende betriebliche soziale Gestaltung der Dienst- und Einsatzplanung vereinbart werden können. Insofern stellen diese Tarifregelungen in Verbindung mit den gesetzlichen Bestimmungen keinen abschließenden Rahmen für die betriebliche Arbeitszeit- und Personalplanung dar. Im Rahmen des betrieblichen Mitbestimmungsverfahrens können entsprechende Regelungen vereinbart werden. Es ist der Wunsch der Tarifvertragsparteien, dass die Betriebsparteien die Arbeitszeit vor dem Hintergrund der genannten Themen insgesamt passgenauer gestalten, als es auf tarifvertraglicher Ebene möglich ist.“
Der AGV MOVE und die GDL schlossen am 4.01.2019 den Bundes-Rahmentarifvertrag für das Zugpersonal der Schienenbahnen des Personen- und Güterverkehrs in der Bundesrepublik Deutschland (BuRa-ZugTV AGV MOVE/GDL), den Tarifvertrag für Lokomotivführer von Schienenverkehrsunternehmen des AGV MOVE (LfTV AGV MOVE/GDL), den Tarifvertrag für Zugbegleiter und Bordgastronomen von Schienenverkehrsunternehmen des AGV MOVE (ZubTV AGV MOVE/GDL) und den Tarifvertrag für Lokrangierführer von Schienenverkehrsunternehmen des AGV MOVE (LrfTV AGV MOVE/GDL). Die Regelung zu den Ruhetagen in § 3 Abschnitt II BuRa-ZugTV AGV MOVE/GDL sieht in ihrem Absatz 4 Folgendes vor:
„Die Ruhetage sollen in Abständen von höchstens 144 Stunden (beginnend mit der ersten Schicht nach dem vorausgehenden Ruhetag) gewährt werden. Ruhetage mit einer Ruhezeit von 36 Stunden sollen nicht mehr als zweimal hintereinander angesetzt werden. Die Betriebsparteien können im gegenseitigen Einvernehmen hiervon abweichen.“
Nach den am 1.01.2020 in Kraft getretenen § 52b Abs. 1 LfTV AGV MOVE/GDL, § 56 Abs. 1 ZubTV AGV MOVE/GDL und § 56 Abs. 1 LrfTV AGV MOVE/GDL hat der Arbeitgeber einen Jahresschichtrasterplan zu erstellen, welcher der Mitbestimmung des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG unterliegt. Der Jahresschichtrasterplan ist dem Arbeitnehmer spätestens bis zum 30.11.des Vorjahres bekannt zu geben. Er bildet die Basis für die Monatsplanung nach § 3 Abschnitt III Abs. 2 BuRa-ZugTV AGV MOVE/GDL. Nach § 52b Abs. 2 LfTV AGV MOVE/GDL, § 56 Abs. 2 ZubTV AGV MOVE/GDL und § 56 Abs. 2 LrfTV AGV MOVE/GDL kann im Rahmen der Mitbestimmung bei Bedarf von den Ruhetagen und Zeitwerten abgewichen werden.
Weiterhin unterzeichneten der AGV MOVE, die Deutsche Bahn AG und die GDL am 4.01.2019 eine „Vereinbarung zur Umsetzung der persönlichen Planungssicherheit des Zugpersonals“. Darin heißt es ua.:
„II. Sperrwirkung der tarifvertraglichen Regelungen
Die gesetzliche Systematik der Sperrwirkung tarifvertraglicher Regelungen ist bei der Anwendung der Regelungen in § 3 BuRa-ZugTV AGV MOVE sowie der diesen ergänzenden Arbeitszeitregelungen in den Haustarifverträgen LfTV, LrfTV, ZubTV und DispoTV zwingend zu beachten. Hiernach entfalten normative tarifvertragliche Regelungen zwischen den Tarifgebundenen unmittelbare und zwingende Wirkung, d. h. sie erfassen automatisch das einzelne Arbeitsverhältnis und können nicht zum Nachteil des Arbeitnehmers geändert werden. Abweichende Vereinbarungen sind gem. § 4 Abs. 3 TVG nur zulässig, soweit sie durch den Tarifvertrag gestattet sind oder eine Änderung der Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten. Daneben können gem. § 77 Abs. 3 BetrVG Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Dies gilt nicht, wenn ein Tarifvertrag den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt.
Das bedeutet insbesondere, dass die an die Tarifverträge der Parteien gebundenen Unternehmen diese Tarifverträge unabhängig von der Erfüllung der Voraussetzung des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG auf die Mitglieder der GDL als unmittelbar und zwingend geltende Normen anwenden.
Aus dieser Systematik folgt, dass die in § 3 BuRa-ZugTV AGV MOVE sowie in den diesen ergänzenden Arbeitszeitregelungen in den Haustarifverträgen LfTV, LrfTV, ZubTV und DispoTV begründeten individualrechtlichen Ansprüche der Arbeitnehmer durch die Betriebsparteien nicht kollektiv-rechtlich verschlechternd verändert werden dürfen. Abweichungen zugunsten der Arbeitnehmer können betrieblich vereinbart werden.“
Am 20.08.2019 schlossen die Arbeitgeberin und der Betriebsrat die „Betriebsvereinbarung über die Schicht- und Einsatzplanung“ (BV SEP).
Der AGV MOVE und die EVG vereinbarten am 17.09.2020 neue Tarifverträge, die mit ihrem Inkrafttreten am 1.03.2021 die Vorgängertarifverträge vom 14.12.2018 ersetzten. Die „Grundsatzregelung zur gemeinsamen Gestaltung der Personal, Sozial- und Tarifpolitik in den Unternehmen des DB Konzerns (DemografieTV)“ vom 17.09.2020 enthält die gleiche Regelung zur Arbeitszeitgestaltung der Betriebsparteien wie der vorangegangene DemografieTV.
Die GDL hat die Auffassung vertreten, sie könne nach § 1004 Abs. 1, § 823 Abs. 1 BGB iVm. Art. 9 Abs. 3 GG und nach § 23 Abs. 3 iVm. § 77 Abs. 3 BetrVG von der Arbeitgeberin die Unterlassung der Durchführung der BV SEP, hilfsweise einzelner Bestimmungen dieser Betriebsvereinbarung verlangen.
Wie zuvor bereits das Landesarbeitsgericht München1 hat nun auch das Bundesarbeitsgericht einen entsprechenden Anspruch der GDL verneint:
Die GDL kann ihr Begehren nach den Anträgen zu 1. und 3. nicht auf § 1004 Abs. 1, § 823 Abs. 1 BGB iVm. Art. 9 Abs. 3 GG stützen.
Einer Gewerkschaft steht bei einer Verletzung ihrer Koalitionsfreiheit durch tarifwidrige Betriebsvereinbarungen ein Unterlassungsanspruch nach § 1004 Abs. 1, § 823 Abs. 1 BGB iVm. Art. 9 Abs. 3 GG zu.
9 Abs. 3 GG schützt eine Koalition in ihrem Bestand, ihrer organisatorischen Ausgestaltung und ihren Betätigungen, sofern diese der Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen dienen. Der Schutz erstreckt sich auf alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen. Geschützt ist insbesondere der Abschluss von Tarifverträgen. Das schließt den Bestand und die Anwendung geschlossener Tarifverträge ein2. Die Koalitionsfreiheit wird nicht erst dann beeinträchtigt, wenn eine Koalition daran gehindert wird, Tarifrecht zu schaffen. Eine Einschränkung oder Behinderung dieses Freiheitsrechts liegt bereits in Abreden oder Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, die Wirkung des von Koalitionen geschaffenen Tarifrechts zu vereiteln oder leerlaufen zu lassen. Unschädlich ist, ob entsprechende Abreden nach Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG nichtig sind, also die tarifliche Ordnung nicht in rechtlich erzwingbarer Weise ersetzen können. Die Beeinträchtigung der Koalitionsfreiheit liegt bereits in der Eignung solcher Absprachen, aufgrund ihres erklärten Geltungsanspruchs faktisch an die Stelle der tariflichen Regelung zu treten. Darauf zielen tarifwidrige Betriebsvereinbarungen und auf deren Grundlage getroffene Vereinbarungen mit einem vom Tarifvertrag abweichenden Inhalt ab. Ihr Zweck ist es, Tarifnormen als kollektive Ordnung zu verdrängen und sie damit ihrer zentralen Funktion zu berauben3.
Geltendes Tarifrecht wird allerdings nur dann verdrängt, wenn der betreffende Tarifvertrag im Anwendungsbereich der fraglichen betrieblichen Regelung normativ gilt, sei es nach § 3 Abs. 1 TVG oder § 3 Abs. 3 TVG. Soweit es daran fehlt, besteht kein Geltungsanspruch des Tarifvertrags. Mit Beendigung der Tarifgebundenheit entfällt die Beeinträchtigung der Koalitionsfreiheit als Voraussetzung eines negatorischen Unterlassungsanspruchs, der auf die Abwehr zukünftiger Störungen gerichtet ist4.
Danach besteht die geltend gemachte Beeinträchtigung der kollektiven Koalitionsfreiheit nicht mehr. Die Arbeitgeberin ist nicht mehr an die Tarifverträge vom 04.01.2019, auf welche die GDL ihren Unterlassungsanspruch aus § 1004 Abs. 1, § 823 Abs. 1 BGB iVm. Art. 9 Abs. 3 GG stützt, gebunden. Diese sind durch die Nachfolgetarifverträge vom 24.02.2022, die zum 1.03.2021 in Kraft getreten sind, abgelöst worden. Die Berücksichtigung dieser erst nach Schluss der Anhörung in der Beschwerdeinstanz abgeschlossenen Tarifverträge unterfällt nicht dem Verbot der Berücksichtigung neuer Tatsachen aus § 559 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Derartige Normtatsachen, zu denen auch die zeitliche Geltung von Tarifnormen gehört, sind nach § 293 Satz 2 ZPO von Amts wegen zu berücksichtigen5.
Demgegenüber stützt die GDL ihren Unterlassungsanspruch nicht (auch) auf eine Beeinträchtigung der Koalitionsfreiheit im Hinblick auf die Nachfolgetarifverträge vom 24.02.2022. Das wäre als Antragsänderung in der Rechtsbeschwerdeinstanz auch nicht zulässig.
Eine Antragsänderung setzt nicht zwingend eine Änderung des konkret gestellten Antrags voraus. Der Verfahrensgegenstand ändert sich dementsprechend iSv. § 263 ZPO auch dann, wenn zwar nicht der gestellte Antrag als solcher, aber der ihm zugrundeliegende Lebenssachverhalt ein anderer geworden ist6.
Antragserweiterungen und sonstige Antragsänderungen sind im Rechtsbeschwerdeverfahren nach § 559 Abs. 1 ZPO grundsätzlich nicht mehr möglich. Hiervon hat das Bundesarbeitsgericht – abgesehen von den Fällen des § 264 Nr. 2 ZPO – aus prozessökonomischen Gründen Ausnahmen zugelassen, wenn sich der neue Sachantrag auf einen in der Beschwerdeinstanz festgestellten oder von den Beteiligten übereinstimmend vorgetragenen Sachverhalt stützen kann, sich das rechtliche Prüfprogramm nicht wesentlich ändert und die Verfahrensrechte der anderen Beteiligten durch eine Sachentscheidung nicht verkürzt werden7.
Danach wäre eine Antragsänderung unzulässig gewesen. Mit der durch die Tarifverträge vom 24.02.2022 eingetretenen Änderung des Lebenssachverhalts ändert sich – bei gleichbleibendem Antrag – das rechtliche Prüfprogramm nicht nur unwesentlich. Es wäre in jedem Fall – unabhängig von einer ggf. bestehenden Verdrängung der Tarifverträge nach § 4a Abs. 1 TVG infolge der abgelaufenen Laufzeit des TV Grundsatzfragen – die Tarifwidrigkeit der BV SEP unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der gegenüber den Vorgängerregelungen vom 04.01.2019 geänderten Tarifverträge zu prüfen. Insoweit unterscheidet sich die vorliegende Fallgestaltung von denjenigen, in denen ein Anspruch auf unveränderte tarifliche Merkmale gestützt wird8.
Ein Anspruch auf Unterlassung der Durchführung der BV SEP insgesamt oder der im Antrag zu 3. bezeichneten Bestimmungen folgt auch nicht aus § 23 Abs. 3 iVm. § 77 Abs. 3 BetrVG.
Nach § 23 Abs. 3 Satz 1 BetrVG kann eine im Betrieb vertretene Gewerkschaft dem Arbeitgeber bei groben Verstößen gegen seine Verpflichtungen aus dem Betriebsverfassungsgesetz durch das Arbeitsgericht aufgeben lassen, eine Handlung zu unterlassen. Die Regelung dient dem Schutz der betriebsverfassungsrechtlichen Ordnung gegen grobe Verstöße des Arbeitgebers. Es soll ein Mindestmaß gesetzmäßigen Verhaltens des Arbeitgebers im Rahmen der betriebsverfassungsrechtlichen Ordnung sichergestellt werden, indem der Arbeitgeber zur Erfüllung seiner betriebsverfassungsrechtlichen Pflichten angehalten wird9.
Danach sind die Unterlassungsanträge der GDL ohne Erfolg. Es kann im vorliegenden Verfahren dahinstehen, ob § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG „eine Grundnorm der betriebsverfassungsrechtlichen Ordnung“ bildet, die einen gewerkschaftlichen Unterlassungsanspruch gegen bei ihrem Abschluss tarifwidrige und daher unwirksame Betriebsvereinbarungen trägt10. Auch dann wären die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 23 Abs. 3 Satz 1 BetrVG mangels eines erforderlichen groben Verstoßes nicht erfüllt.
Die BV SEP verstößt entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts gegen § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG.
Nach dieser Bestimmung können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Das gilt nach § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG jedoch ua. dann nicht, wenn ein Tarifvertrag den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt. Die Bestimmung verdeutlicht, dass es den Tarifvertragsparteien vorbehalten bleibt, ob sie ergänzende Betriebsvereinbarungen zulassen wollen oder nicht. Eine tarifliche Regelung von Arbeitsbedingungen liegt vor, wenn diese in einem nach seinem räumlichen, betrieblichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereich einschlägigen Tarifvertrag enthalten ist und der Betrieb in den Geltungsbereich des Tarifvertrags fällt. Auf die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers kommt es nicht an. Ein Verstoß gegen die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG führt zur Unwirksamkeit der Betriebsvereinbarung11.
Die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG greift indes nicht, soweit es um Angelegenheiten geht, die nach § 87 Abs. 1 BetrVG der erzwingbaren Mitbestimmung des Betriebsrats unterliegen12. Ein solches Mitbestimmungsrecht setzt allerdings nach § 87 Abs. 1 Eingangshalbs. BetrVG voraus, dass insoweit keine zwingende tarifliche Regelung besteht, an die der Arbeitgeber gebunden ist. § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG führt daher auch im Anwendungsbereich des § 87 Abs. 1 BetrVG dann zur – vollständigen oder partiellen – Unwirksamkeit einer betrieblichen Regelung, wenn dieser eine zwingende tarifliche Regelung entgegensteht13.
Danach wird die Regelung der Wahlmodelle für die Schicht- und Einsatzplanung in §§ 2 bis 4 BV SEP von der Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG erfasst.
Der Wahlbetrieb Oberbayern wurde bei Abschluss der Betriebsvereinbarung am 20.08.2019 vom räumlichen und fachlichen Geltungsbereich des BuRa-ZugTV AGV MOVE/GDL, des LfTV AGV MOVE/GDL, des ZubTV AGV MOVE/GDL und des LrfTV AGV MOVE/GDL erfasst. Die BV SEP gilt persönlich für Arbeitnehmer iSd. § 5 Abs. 1 BetrVG, die in den persönlichen Geltungsbereich der vorgenannten Tarifverträge fallen (§ 1 Abs. 1 BuRa-ZugTV AGV MOVE/GDL, § 1 Abs. 1 LfTV AGV MOVE/GDL, § 1 Abs. 1 ZubTV AGV MOVE/GDL, § 1 Abs. 1 LrfTV AGV MOVE/GDL).
Gegenstand der §§ 2 bis 4 BV SEP sind insbesondere die Grundsätze der Schicht- und Einsatzplanung, die bei Abschluss der Betriebsvereinbarung am 20.08.2019 bereits in § 3 BuRa-ZugTV AGV MOVE/GDL vom 04.01.2019 vereinbart waren und durch § 52b Abs. 1 LfTV AGV MOVE/GDL, § 56 Abs. 1 ZubTV AGV MOVE/GDL und § 56 Abs. 1 LrfTV AGV MOVE/GDL vom 04.01.2019 mit Wirkung zum 1.01.2020 ergänzend geregelt wurden.
Der Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG steht nicht entgegen, dass sich die Geltungsbereiche der nicht inhaltsgleichen Tarifverträge der GDL und der EVG überschneiden. Dabei kann unentschieden bleiben, ob ein nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG verdrängter Minderheitstarifvertrag die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG auslöst14. Der BuRa-ZugTV AGV MOVE/GDL, der LfTV AGV MOVE/GDL, der ZubTV AGV MOVE/GDL und der LrfTV AGV MOVE/GDL konnten bei Abschluss der Betriebsvereinbarung nicht nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG verdrängt werden. Die Tarifvertragsparteien hatten die Anwendung von § 4a TVG wirksam abbedungen.
§ 4a TVG ist tarifdispositiv. Das folgt zwar nicht ausdrücklich aus dem Gesetzeswortlaut. Dafür spricht aber, dass der Gesetzgeber mit dem Tarifeinheitsgesetz in erster Linie auf eine Selbststeuerung der Tarifvertragsparteien zielt, um über die Vorwirkung dieser Regelung eine Kollision mit der Folge des Tarifverlusts zu vermeiden. § 4a TVG greift nur subsidiär ein, wenn eine autonome Verständigung der Tarifvertragsparteien nicht gelingt15. Ein solches Verständnis entspricht der grundrechtlich geschützten Koalitionsfreiheit. Es erhöht die Spielräume der Tarifvertragsparteien16.
Der Ausschluss des § 4a TVG wurde durch die Tarifvertragsparteien wirksam vereinbart.
Erforderlich für den Ausschluss ist eine Vereinbarung aller von der Kollisionsnorm des § 4a Abs. 2 TVG (positiv oder negativ) betroffenen Tarifvertragsparteien17. Das sind die in einem Betrieb kollidierend tarifierenden Gewerkschaften und der Arbeitgeber oder – im Fall des Verbandstarifvertrags – der Arbeitgeberverband.
Für diese schuldrechtliche Vereinbarung der Tarifvertragsparteien gelten keine besonderen formalen Voraussetzungen. Ein einheitlicher Vertragsschluss aller an der Tarifkollision beteiligten Tarifvertragsparteien ist nicht erforderlich. Vielmehr kann § 4a TVG auch dadurch wirksam abbedungen werden, dass – wie vorliegend – der Arbeitgeberverband mit jeder der betroffenen Gewerkschaften entsprechende Vereinbarungen trifft. Die Rechtsfolgen des Ausschlusses, die Verdrängung (§ 4a Abs. 2 Satz 2 TVG) und das Nachzeichnungsrecht (§ 4a Abs. 4 TVG) betreffen das Verhältnis zwischen dem Arbeitgeberverband und der Gewerkschaft sowie deren jeweiligen Mitgliedern. Daher ist es ausreichend, dass der Arbeitgeberverband beiden Gewerkschaften zusagt, sich nicht auf § 4a TVG zu berufen18, oder mit beiden Gewerkschaften den Ausschluss von § 4a TVG vereinbart.
Die Tarifvertragsparteien können weiterhin einen Ausschluss von § 4a TVG zeitlich begrenzen. Hat der Arbeitgeber oder der Arbeitgeberverband mit den in einem Betrieb kollidierend tarifierenden Gewerkschaften getrennte Vereinbarungen mit unterschiedlichen Laufzeiten geschlossen, ist § 4a TVG im Überschneidungszeitraum abbedungen.
Danach war die Arbeitgeberin an die von der GDL geschlossenen Tarifverträge vom 04.01.2019 bei Abschluss der Betriebsvereinbarung am 20.08.2019 unmittelbar und zwingend gebunden. Die handelnden Tarifvertragsparteien hatten die Anwendung von § 4a TVG mit dem TV Kollisionsfreiheit vom 27.05.2015 einerseits und dem TV Grundsatzfragen vom 30.06.2015 anderseits jedenfalls bis zum Ende der Laufzeit des TV Grundsatzfragen am 31.12.2020 wirksam abbedungen.
Die Regelungssperre nach § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG war nicht nach dessen Satz 2 aufgehoben.
Im tarifpluralen Betrieb entfaltet jeder Tarifvertrag im Rahmen seines Geltungs- und Regelungsbereichs die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG19. Die Sperrwirkung entfällt nach § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG nur, wenn alle Tarifverträge eine entsprechende Öffnungsklausel enthalten. Eine Öffnungsklausel in nur einem von mehreren Tarifverträgen reicht nicht aus20. Das ergibt die Auslegung der gesetzlichen Regelung21.
Der Gesetzeswortlaut ist nicht eindeutig. Nach § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG muss „ein Tarifvertrag“ den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulassen. Das Wort „ein“ kann sowohl im Sinne eines Zahlworts als auch als unbestimmter Artikel verwendet werden. Der Regelungszusammenhang lässt ebenfalls nicht erkennen, ob eine Öffnungsklausel in einem von mehreren Tarifverträgen die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG insgesamt aufhebt. Die Verwendung des Singulars in Satz 1 „durch Tarifvertrag“ und Satz 2 „ein Tarifvertrag“ könnte aber dafür sprechen, dass die Sperrwirkung eines Tarifvertrags nur von den jeweiligen Tarifvertragsparteien beseitigt werden kann.
Sinn und Zweck des § 77 Abs. 3 BetrVG stehen der Annahme entgegen, eine Öffnungsklausel in einem von mehreren Tarifverträgen könne die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG aufheben. Die Vorschrift dient der Sicherung der aktualisierten und ausgeübten Tarifautonomie sowie der Erhaltung und Stärkung der Funktionsfähigkeit der Koalitionen. Sie soll verhindern, dass Gegenstände, derer sich die Tarifvertragsparteien angenommen haben, konkurrierend – und sei es inhaltsgleich – in Betriebsvereinbarungen geregelt werden. Dazu räumt sie den Tarifvertragsparteien den Vorrang bei der Regelung von Arbeitsbedingungen ein22. Im Geltungsbereich tariflicher Bestimmungen sind betriebliche Regelungen nur zulässig, wenn die Tarifvertragsparteien ihre Regelungsbefugnis iSv. § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG ausdrücklich zurücknehmen23.
Daher setzt die Zulässigkeit betrieblicher Regelungen im tarifpluralen Betrieb voraus, dass die Sperrwirkung aller Tarifverträge aufgehoben wird. Die Entscheidung über die Öffnung „ihres“ Tarifvertrags für betriebliche Regelungen kann als eine von Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Entscheidung über die Anwendung der tariflichen Regelung nur von den Parteien des jeweiligen Tarifvertrags selbst getroffen werden. Anderen Tarifvertragsparteien steht insoweit keine Regelungskompetenz zu. Sie können nicht, selbst bei einem Verzicht auf eine eigene inhaltliche Regelung, den Betriebsparteien die Möglichkeit eröffnen, von Bestimmungen anderer Tarifvertragsparteien abzuweichen23. Das liefe dem Zweck der Sicherung der Tarifautonomie zuwider und wäre nicht mit der gesetzlichen Wertung zu vereinbaren, tariflichen Regelungen von Arbeitsbedingungen Vorrang vor betrieblichen Regelungen einzuräumen.
Danach war die Regelungssperre nach § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG nicht durch dessen Satz 2 aufgehoben. Der von AGV MOVE und EVG vereinbarte § 11 Abs. 2 DemografieTV konnte die Sperrwirkung der tariflichen Regelungen von AGV MOVE und GDL (§ 3 BuRa-ZugTV AGV MOVE/GDL, § 52b Abs. 1 LfTV AGV MOVE/GDL, § 56 Abs. 1 ZubTV AGV MOVE/GDL und § 56 Abs. 1 LrfTV AGV MOVE/GDL) nicht beseitigen. Die Regelungen über die Grundsätze der Schicht- und Einsatzplanung in §§ 2 bis 4 BV SEP waren auch nicht durch Öffnungsklauseln im Tarifwerk von AGV MOVE und GDL zugelassen.
Die Öffnungsklausel in § 3 Abschnitt II Abs. 4 BuRa-ZugTV AGV MOVE/GDL ermöglicht den Tarifvertragsparteien lediglich eine Abweichung von der zeitlichen Abfolge der Ruhetage. Die Öffnungsklauseln in § 52b Abs. 2 LfTV AGV MOVE/GDL, § 56 Abs. 2 ZubTV AGV MOVE/GDL und § 56 Abs. 2 LrfTV AGV MOVE/GDL betreffen ebenfalls nur die Festlegung von Ruhetagen.
§ 3 Abschnitt III Abs. 4 BuRa-ZugTV AGV MOVE/GDL lässt sich nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit entnehmen, der Abschluss ergänzender oder ändernder Betriebsvereinbarungen sei zulässig24. Die Bestimmung stellt nur klar, dass die tarifliche Regelung über Grundsätze der Schicht- und Einsatzplanung das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG bei der Aufstellung der einzelnen Schicht- und Einsatzpläne unberührt lässt.
Die Bestimmungen in §§ 2 bis 4 BV SEP sind auch nicht durch die von AGV MOVE, Deutsche Bahn AG und GDL getroffene „Vereinbarung zur Umsetzung der persönlichen Planungssicherheit des Zugpersonals“ vom 04.01.2019 als günstigere Regelungen zugelassen. Der Satz „Abweichungen zugunsten der Arbeitnehmer können betrieblich vereinbart werden“ bringt weder die Zulässigkeit abweichender Regelungen noch die erforderliche Bestimmung von Gegenstand und Umfang deutlich zum Ausdruck. Vielmehr lässt die Formulierung „aus dieser Systematik folgt …“ erkennen, dass lediglich die Rechtslage – der Tarifvertrag will keine Höchstarbeitsbedingungen regeln – beschrieben und klargestellt werden soll.
Die zwingende Mitbestimmung des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 BetrVG steht der aus § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG folgenden Sperrwirkung für abweichende Regelungen über Grundsätze der Schicht- und Einsatzplanung nicht entgegen. Dem Betriebsrat steht aufgrund des Tarifvorbehalts in § 87 Abs. 1 Eingangshalbs. BetrVG kein Mitbestimmungsrecht nach Nr. 2 und Nr. 5 der Bestimmung zu, soweit die Tarifverträge von AGV MOVE und GDL hierzu Regelungen treffen.
Der Tarifvorbehalt des § 87 Abs. 1 Eingangshalbs. BetrVG verlangt die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers iSv. § 3 Abs. 1 TVG25. Einer normativen Gebundenheit der betriebszugehörigen Arbeitnehmer bedarf es nicht. Das gilt auch dann, wenn es sich bei der das Mitbestimmungsrecht verdrängenden tariflichen Regelung um Inhaltsnormen handelt. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass eine bestehende tarifliche Regelung dem Schutzbedürfnis der Arbeitnehmer ausreichend Rechnung trägt und daher Mitbestimmungsrechte entbehrlich sind. Etwaige mitbestimmungsrechtliche Schutzlücken sind nach dem Zweck des jeweiligen Mitbestimmungstatbestands zu schließen26.
In einem tarifpluralen Betrieb gelten dieselben Grundsätze. Jede tarifliche Regelung, an die der Arbeitgeber gebunden ist, verdrängt das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats insgesamt auch hinsichtlich anderweitig oder nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern und nicht nur für solche, die an den die Sperrwirkung auslösenden Tarifvertrag gebunden sind27.
Die Annahme eines beschränkten Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats bezogen auf anderweitig tarifgebundene Arbeitnehmer widerspräche der gesetzlichen Konzeption. Der Zweck des § 87 Abs. 1 BetrVG, alle betriebszugehörigen Arbeitnehmer in den sozialen Angelegenheiten des § 87 Abs. 1 BetrVG vor der einseitigen Gestaltungsmacht des Arbeitgebers zur schützen, gebietet keine Begrenzung des im Eingangshalbsatz geregelten Tarifvorbehalts auf die Arbeitnehmer, die an die den Tarifvorbehalt begründenden tariflichen Regelungen normativ gebunden sind. Anderweitig tarifgebundene Arbeitnehmer, deren Tarifvertrag aufgrund einer Abbedingung des § 4a TVG nicht verdrängt wird, werden zunächst durch dessen Regelungen geschützt. Selbst wenn eine aus der spezifischen normativen Wirkung tariflicher Inhaltsnormen mitbestimmungsrechtliche Schutzlücke zu Lasten der anderweitig tarifgebundenen Arbeitnehmer angenommen werden könnte, führte dies nicht dazu, dass der Tarifvorbehalt nach § 87 Abs. 1 Eingangshalbs. BetrVG im tarifpluralen Betrieb eine beiderseitige Tarifgebundenheit voraussetzt. Eine etwaige auf Grundlage des konkurrierenden Tarifvertrags verbleibende mitbestimmungsrechtliche Schutzlücke wäre – ebenso wie eine solche zu Lasten von nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern28 – nach dem Zweck und der Reichweite des jeweiligen Mitbestimmungstatbestands zu schließen.
Dieses Verständnis von § 87 Abs. 1 Eingangshalbs. BetrVG greift – anders als die Arbeitgeberin in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesarbeitsgericht geltend gemacht hat – auch nicht in unzulässiger Weise in die Koalitionsfreiheit der Tarifvertragsparteien ein, deren Tarifvertrag eine Öffnungsklausel enthält, die aber aufgrund der abschließenden Regelung in einem anderen Tarifvertrag nicht für betriebliche Vereinbarungen zur Anwendung kommen kann. Dabei kann dahinstehen, ob sich aus der fehlenden Möglichkeit der Anwendung einer Öffnungsklausel auf betrieblicher Ebene durch die Betriebsparteien überhaupt eine Beeinträchtigung der kollektiven Koalitionsfreiheit ergeben kann29. Eine Ausnahme in Bezug auf diejenigen Arbeitnehmer, die an einen Tarifvertrag mit Öffnungsklausel gebunden sind, würde die Tarifvertragsparteien dieses Tarifvertrags und ihre Mitglieder zwar weniger belasten, wäre aber zur Erreichung des mit dem Tarifvorbehalt verfolgten Ziels nicht gleich wirksam. Vielmehr würde eine Konkurrenz von – ggf. auch inhaltsgleichen – tariflichen und betrieblichen Vereinbarungen ermöglicht, die der Tarifvorbehalt gerade verhindern soll. Den Parteien des Tarifvertrags mit einer Öffnungsklausel – hier AGV MOVE und EVG – bleibt es unbenommen, zur Regelung der Arbeitsverhältnisse ihrer Mitglieder eigene inhaltliche Regelungen zu treffen. Vorliegend ist die Nichtanwendbarkeit der von ihnen in § 11 Abs. 2 DemografieTV vereinbarten Öffnungsklausel zudem eine Folge der gewillkürten Tarifpluralität. Sie beruht damit – ungeachtet einer möglichen Verdrängungswirkung nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG – auf ihrer eigenen Entscheidung, die Anwendung des § 4a TVG abzubedingen.
Danach war die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG nicht unter dem Gesichtspunkt einer mitbestimmungspflichtigen Angelegenheit aufgehoben. Dem Betriebsrat stand hinsichtlich der Festlegung der Grundsätze der Schicht- und Einsatzplanung sowie der Urlaubsplanung aufgrund des Tarifvorbehalts in § 87 Abs. 1 Eingangshalbs. BetrVG und der Tarifgebundenheit der Arbeitgeberin an die zwingenden und insoweit abschließenden inhaltlichen Regelungen in § 3 BuRa-ZugTV AGV MOVE/GDL, § 52b Abs. 1 LfTV AGV MOVE/GDL, § 56 Abs. 1 ZubTV AGV MOVE/GDL und § 56 Abs. 1 LrfTV AGV MOVE/GDL kein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 BetrVG in diesem Umfang zu.
Der Verstoß der Regelungen in §§ 2 bis 4 BV SEP gegen die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG führt zur Unwirksamkeit der gesamten Betriebsvereinbarung.
§§ 2 bis 4 BV SEP sind infolge des Verstoßes gegen die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG unwirksam. Das Außerkrafttreten des BuRa-ZugTV AGV MOVE/GDL, des LfTV AGV MOVE/GDL, des ZubTV AGV MOVE/GDL und des LrfTV AGV MOVE/GDL infolge der Ablösung durch die Nachfolgetarifverträge lässt die Unwirksamkeit dieser Regelungen der BV SEP nicht entfallen.
Die Unwirksamkeit der genannten Bestimmungen der BV SEP bedingt nach dem Rechtsgedanken des § 139 BGB30 die Unwirksamkeit der gesamten BV SEP. Der verbleibende Teil der Betriebsvereinbarung stellt ersichtlich keine sinnvolle und in sich geschlossene Regelung dar. Die Bestimmungen knüpfen an die Regelung der Wahlmodelle in den §§ 2 bis 4 BV SEP an und können ohne diese die ihnen zugedachte Funktion nicht erfüllen.
Das Landesarbeitsgericht MÜncen hat allerdings in für das Bundesarbeitsgericht rechtsbeschwerderechtlich nicht zu beanstandender Weise angenommen, die Arbeitgeberin habe nicht grob iSv. § 23 Abs. 3 Satz 1 BetrVG gegen § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG verstoßen.
Ein grober Verstoß des Arbeitgebers gegen seine sich aus dem Betriebsverfassungsgesetz ergebenden Pflichten liegt vor, wenn es sich um eine objektiv erhebliche und offensichtlich schwerwiegende Pflichtverletzung handelt. Auf ein Verschulden des Arbeitgebers kommt es dabei nicht an. Allerdings scheidet ein grober Verstoß des Arbeitgebers dann aus, wenn er seine Rechtsposition in einer schwierigen und ungeklärten Rechtsfrage verteidigt31.
Bei der Gewichtung eines Verhaltens des Arbeitgebers als „groben Verstoß“ gegen die Pflichten aus dem Betriebsverfassungsgesetz haben die Tatsacheninstanzen einen Beurteilungsspielraum. Das Rechtsbeschwerdegericht kann nur nachprüfen, ob das Landesarbeitsgericht den Begriff selbst verkannt hat, ob die Unterordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnorm Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt und ob die Beurteilung wegen des Übersehens wesentlicher Umstände offensichtlich fehlerhaft ist32.
Diesem eingeschränkten Prüfungsmaßstab hält die Würdigung des Landesarbeitsgerichts stand. Es hat – einen Verstoß gegen § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG unterstellend – angenommen, ein solcher sei unter Berücksichtigung der schwierigen und bislang ungeklärten Rechtsfragen, die sich in einem gewillkürt tarifpluralen Betrieb mit unterschiedlichen tariflichen Öffnungsklauseln stellen, nicht als grob iSv. § 23 Abs. 3 BetrVG anzusehen. Damit hat das Landesarbeitsgericht den Begriff des „groben Verstoßes“ nicht verkannt. Es hat mit seiner Annahme auch nicht gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen oder wesentliche Umstände außer Acht gelassen. Ob und in welchem Umfang die Arbeitgeberin mit der Durchführung der BV SEP gegen § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG verstößt, hängt von der Beantwortung von umstrittenen und bislang höchstrichterlich nicht geklärten Rechtsfragen ab. Sie betreffen die Voraussetzungen der Sperrwirkung nach § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG im Falle einer Tarifpluralität sowie die Frage, ob die Sperrwirkung bereits durch eine in einem von mehreren Tarifverträgen enthaltene Öffnungsklausel beseitigt wird. Weiterhin war bisher nicht geklärt, ob in einer solchen Fallgestaltung eine abschließende tarifliche Regelung, an die der Arbeitgeber gebunden ist, die Mitbestimmung des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Eingangshalbs. BetrVG insgesamt sperrt.
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 25. Januar 2023 – 4 ABR 4/22
- LAG München 28.04.2021 – 10 TaBV 51/20[↩]
- BVerfG 11.07.2017 – 1 BvR 1571/15 ua., Rn. 131, BVerfGE 146, 71[↩]
- BAG 7.06.2017 – 1 ABR 32/15, Rn.20, BAGE 159, 222; 17.05.2011 – 1 AZR 473/09, Rn. 35, BAGE 138, 68[↩]
- vgl. BAG 7.06.2017 – 1 ABR 32/15, Rn. 21 mwN, BAGE 159, 222[↩]
- vgl. BAG 21.03.2018 – 5 AZR 2/17, Rn. 16 mwN[↩]
- BAG 8.12.2010 – 7 ABR 69/09, Rn. 16 mwN[↩]
- BAG 15.05.2018 – 1 ABR 75/16, Rn. 36, BAGE 162, 379; 18.05.2016 – 7 ABR 81/13, Rn. 24 mwN; 17.11.2010 – 4 AZR 118/09, Rn. 12[↩]
- zum Durchführungsanspruch BAG 13.10.2021 – 4 AZR 403/20, Rn. 48; im Rahmen eines Eingruppierungsrechtsstreits BAG 9.09.2020 – 4 AZR 195/20, Rn. 15, BAGE 172, 130[↩]
- BAG 8.03.2022 – 1 ABR 19/21, Rn. 41; 12.03.2019 – 1 ABR 42/17, Rn. 72, BAGE 166, 79[↩]
- so BAG 20.08.1991 – 1 ABR 85/90, zu B III 1 b der Gründe, BAGE 68, 200; für einen gewerkschaftlichen Anspruch auf Durchführung einer Betriebsvereinbarung BAG 29.04.2004 – 1 ABR 30/02, zu B II 2 a der Gründe, BAGE 110, 252; offengelassen in BAG 7.06.2017 – 1 ABR 32/15, Rn. 23, BAGE 159, 222; 13.03.2001 – 1 AZB 19/00, zu C I 2 a der Gründe, BAGE 97, 167; 20.04.1999 – 1 ABR 72/98, zu B II 1 a der Gründe, BAGE 91, 210[↩]
- BAG 17.08.2021 – 1 AZR 175/20, Rn.19; 13.08.2019 – 1 AZR 213/18, Rn. 41, BAGE 167, 264[↩]
- grdl. BAG 3.12.1991 – GS 2/90, zu C I 4 der Gründe, BAGE 69, 134; vgl. auch BAG 17.08.2021 – 1 AZR 175/20, Rn.19; 13.08.2019 – 1 AZR 213/18, Rn. 41, BAGE 167, 264[↩]
- BAG 29.04.2004 – 1 ABR 30/02, zu B II 2 a der Gründe, BAGE 110, 252; sh. weiterhin BAG 12.03.2019 – 1 AZR 307/17, Rn. 39; 18.10.2011 – 1 ABR 25/10, Rn.19, BAGE 139, 332: „Binnengrenze“[↩]
- so BVerfG 11.07.2017 – 1 BvR 1571/15 ua., Rn. 168, BVerfGE 146, 71; vgl. auch DKW/Berg 18. Aufl. § 77 Rn. 145; Fitting 31. Aufl. § 77 Rn. 81a; ErfK/Kania 23. Aufl. BetrVG § 77 Rn. 49; Schaub ArbR-HdB/Ahrendt 19. Aufl. § 231 Rn. 27; aA Greiner RdA 2022, 164, 165; Kreutz GK-BetrVG 12. Aufl. § 77 Rn. 111; Richardi/Richardi/Picker BetrVG 17. Aufl. § 77 Rn. 281[↩]
- BT-Drs. 18/4062 S. 9, 12[↩]
- BVerfG 11.07.2017 – 1 BvR 1571/15 ua., Rn. 178, BVerfGE 146, 71; BAG 26.06.2018 – 1 ABR 37/16, Rn. 69, BAGE 163, 108[↩]
- BVerfG 11.07.2017 – 1 BvR 1571/15 ua., Rn. 179, BVerfGE 146, 71[↩]
- vgl. ErfK/Franzen 23. Aufl. TVG § 4a Rn. 22 f. mwN[↩]
- DKW/Berg 18. Aufl. § 77 Rn. 144; Fitting 31. Aufl. § 77 Rn. 81a; Kreutz GK-BetrVG 12. Aufl. § 77 Rn. 112; ErfK/Kania 23. Aufl. BetrVG § 77 Rn. 49; Richardi/Richardi/Picker BetrVG 17. Aufl. § 77 Rn. 279; Schaub ArbR-HdB/Ahrendt 19. Aufl. § 231 Rn. 27; Greiner RdA 2022, 164, 165; B. Schmidt Tarifpluralität im System der Arbeitsrechtsordnung S. 478; Schneider Die Auswirkungen von Tarifmehrheiten im Betrieb auf die Betriebsverfassung S. 307[↩]
- Fitting aaO Rn. 81b; Richardi/Richardi/Picker aaO Rn. 317; Schaub ArbR-HdB/Ahrendt aaO; Schneider aaO S. 325; aA Franzen RdA 2008, 193, 200; Greiner Rechtsfragen der Koalitions, Tarif- und Arbeitskampfpluralität 2. Aufl. S. 379: durch Öffnungsklausel im Mehrheitstarifvertrag; NK-GA/Schwarze § 77 BetrVG Rn. 31: Sperrwirkung nur für die an den sperrenden Tarifvertrag gebundenen Arbeitnehmer; B. Schmidt aaO S. 508: Aufhebung der Sperrwirkung bzgl. der an den Tarifvertrag mit Öffnungsklausel gebundenen Arbeitnehmer[↩]
- zu den Auslegungsgrundsätzen vgl. BVerfG 6.06.2018 – 1 BvL 7/14 ua., Rn. 74 f., BVerfGE 149, 126; BAG 11.12.2019 – 4 AZR 310/16, Rn. 22 mwN, BAGE 169, 106[↩]
- st. Rspr., vgl. etwa BAG 18.03.2020 – 5 AZR 36/19, Rn.20, BAGE 170, 172; 23.01.2018 – 1 AZR 65/17, Rn. 17, BAGE 161, 305; 3.12.1991 – GS 2/90, zu C I 1 der Gründe, BAGE 69, 134[↩]
- BAG 20.04.1999 – 1 AZR 631/98, zu II 2 b aa der Gründe, BAGE 91, 244[↩][↩]
- zu diesem Erfordernis BAG 17.01.2012 – 1 AZR 482/10, Rn. 27[↩]
- BAG 26.09.2017 – 1 ABR 57/15, Rn. 17, BAGE 160, 232; 18.10.2011 – 1 ABR 25/10, Rn. 21, BAGE 139, 332[↩]
- BAG 18.10.2011 – 1 ABR 25/10, Rn. 21, 26, aaO[↩]
- Fitting 31. Aufl. § 87 Rn. 46; Richardi/Richardi/Maschmann BetrVG 17. Aufl. § 87 Rn. 158; Koch SR 2017, 19, 21; Schnitker/Sittard ZTR 2015, 423, 424; aA Wiese GK-BetrVG 12. Aufl. § 87 Rn. 69; Franzen RdA 2008, 193, 200; Greiner Rechtsfragen der Koalitions, Tarif- und Arbeitskampfpluralität 2. Aufl. S. 382; Jacobs NZA 2008, 325, 332; B. Schmidt Tarifpluralität im System der Arbeitsrechtsordnung S. 507; Schneider Die Auswirkungen von Tarifmehrheiten im Betrieb auf die Betriebsverfassung S. 341; Willemsen/Mehrens NZA 2010, 1313, 1315[↩]
- grdl. BAG 18.10.2011 – 1 ABR 25/10, Rn. 16 bis 26, BAGE 139, 332; zur Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG weiterhin BAG 13.08.2019 – 1 ABR 10/18, Rn. 38, BAGE 167, 252; 23.08.2016 – 1 ABR 15/14, Rn. 18[↩]
- zum Schutz der Anwendung geschlossener Tarifverträge BVerfG 11.07.2017 – 1 BvR 1571/15 ua., Rn. 131, BVerfGE 146, 71[↩]
- BAG 9.07.2013 – 1 ABR 19/12, Rn. 39 mwN, BAGE 145, 330[↩]
- BAG 18.03.2014 – 1 ABR 77/12, Rn. 15; 19.01.2010 – 1 ABR 55/08, Rn. 28, BAGE 133, 75[↩]
- BAG 18.03.2014 – 1 ABR 77/12, Rn. 16; 29.04.2004 – 1 ABR 30/02, zu B IV 2 b bb der Gründe, BAGE 110, 252[↩]