Das Umkleiden ist Teil der vom Arbeitnehmer geschuldeten und ihm zu vergütenden Arbeitszeit, wenn der Arbeitgeber das Tragen einer bestimmten Kleidung vorschreibt, die im Betrieb an- und abgelegt werden muss.

Steht fest (§ 286 ZPO), dass Umkleide- und Wegezeiten auf Veranlassung des Arbeitgebers entstanden sind, kann aber der Arbeitnehmer seiner Darlegungs- oder Beweislast für den zeitlichen Umfang, in dem diese erforderlich waren, nicht in jeder Hinsicht genügen, darf das Gericht die erforderlichen Umkleide- und damit verbundenen Wegezeiten nach § 287 Abs. 2 iVm. Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 ZPO schätzen.
Die gesetzliche Vergütungspflicht des Arbeitgebers knüpft nach § 611 Abs. 1 BGB an die Leistung der versprochenen Dienste an1. Zu den „versprochenen Diensten“ iSv. § 611 BGB zählt nicht nur die eigentliche Tätigkeit, sondern jede vom Arbeitgeber im Synallagma verlangte sonstige Tätigkeit oder Maßnahme, die mit der eigentlichen Tätigkeit oder der Art und Weise ihrer Erbringung unmittelbar zusammenhängt. Der Arbeitgeber verspricht die Vergütung für alle Dienste, die er dem Arbeitnehmer aufgrund seines arbeitsvertraglich vermittelten Weisungsrechts abverlangt. „Arbeit“ als Leistung der versprochenen Dienste iSd. § 611 Abs. 1 BGB ist jede Tätigkeit, die als solche der Befriedigung eines fremden Bedürfnisses dient2.
Der Kläger hat mit dem An- und Ablegen der Arbeitskleidung und dem Zurücklegen der damit verbundenen innerbetrieblichen Wege eine Arbeitsleistung erbracht, die als Teil der versprochenen Dienste vergütungspflichtig ist.
Zur Arbeit gehören auch das Umkleiden und Zurücklegen der hiermit verbundenen innerbetrieblichen Wege, wenn der Arbeitgeber das Tragen einer bestimmten Kleidung vorschreibt, die im Betrieb an- und abgelegt werden muss, und er das Umkleiden nicht am Arbeitsplatz ermöglicht, sondern dafür eine vom Arbeitsplatz getrennte Umkleidestelle einrichtet3. Die Fremdnützigkeit ergibt sich in diesem Fall aus der Weisung des Arbeitgebers, die Arbeitskleidung erst im Betrieb anzulegen und sich dort an einer zwingend vorgegebenen; vom Arbeitsplatz getrennten Umkleidestelle umzuziehen4.
Das Umkleiden und das Zurücklegen der damit verbundenen innerbetrieblichen Wege sind danach Teil der vom Kläger geschuldeten Arbeitsleistung.
Dem Kläger wurde im vorliegenden Fall von der Beklagten im Rahmen des ihr zustehenden Weisungsrechts abverlangt, eine bestimmte Arbeitskleidung zu tragen. Er war nach § 1 Arbeitsvertrag verpflichtet, seine Tätigkeit mit „sauberer und vollständiger“ Dienstkleidung anzutreten. Nach den Vorgaben der Beklagten durfte er sie erst in den eigens dafür vorgesehenen Räumlichkeiten auf dem Betriebsgelände anlegen und musste sie dort ablegen. Das Tragen der Arbeitskleidung stand in unmittelbarem Zusammenhang mit der eigentlichen Tätigkeit des Klägers. Es entsprach den bei der Produktion von Lebensmitteln geltenden Hygienevorschriften und diente den Interessen der Beklagten.
Die Beklagte hat, indem sie – getrennt vom eigentlichen Arbeitsplatz des Klägers – eine Ausgabestelle für die Arbeitskleidung und Umkleideräume einrichtete, die Arbeit so organisiert, dass sie dort begann und endete. Der Weg von der Ausgabestelle zum eigentlichen Arbeitsplatz ist deshalb nicht dem Arbeitsweg zuzurechnen5.
Die Vergütungspflicht war nicht abbedungen oder abweichend geregelt.
Grundsätzlich kann durch Arbeitsvertrag oder Tarifvertrag eine gesonderte Vergütungsregelung für eine andere als die eigentliche Tätigkeit getroffen werden6.
Vergütungspflichtig ist die Zeit, die für das An- und Ablegen der Arbeitskleidung und das Zurücklegen der damit verbundenen innerbetrieblichen Wege erforderlich ist7. Zur Ermittlung der Zeitspanne ist ein modifizierter subjektiver Maßstab anzulegen, denn der Arbeitnehmer darf seine Leistungspflicht nicht frei selbst bestimmen, sondern muss unter angemessener Ausschöpfung seiner persönlichen Leistungsfähigkeit arbeiten. „Erforderlich“ ist nur die Zeit, die der einzelne Arbeitnehmer für das Umkleiden und den Weg zur und von der Umkleidestelle im Rahmen der objektiven Gegebenheiten unter Ausschöpfung seiner persönlichen Leistungsfähigkeit benötigt8. Bei Ermittlung der erforderlichen Zeit gilt es, die Variablen des Umkleidevorgangs zu berücksichtigen. Hierzu gehören ua. die Fragen, welche Privatkleidung je nach Jahreszeit der Arbeitnehmer zuvor getragen hat und welche Wartezeiten (auf die Ausgabe der Kleidung, auf Aufzüge etc.) notwendigerweise entstehen9.
Der Arbeitnehmer trägt die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass Umkleide- und Wegezeiten angefallen sind; vom Arbeitgeber veranlasst wurden und im geltend gemachten Umfang erforderlich waren10.
Steht fest (§ 286 ZPO), dass Umkleide- und Wegezeiten auf Veranlassung des Arbeitgebers entstanden sind, kann aber der Arbeitnehmer seiner Darlegungs- oder Beweislast für den zeitlichen Umfang, in dem diese erforderlich waren, nicht in jeder Hinsicht genügen, darf das Gericht die erforderlichen Umkleide- und damit verbundenen Wegezeiten nach § 287 Abs. 2 iVm. Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 ZPO schätzen11. § 287 ZPO bietet damit Erleichterungen für das Beweismaß und das Verfahren, hat aber keine Auswirkungen auf die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast. Die Norm dehnt das richterliche Ermessen für die Feststellung der Forderungshöhe über die Schranken des § 286 ZPO aus12. Zudem reicht bei der Entscheidung über die Höhe einer Forderung – im Unterschied zu den strengen Anforderungen des § 286 Abs. 1 ZPO – eine erhebliche, auf gesicherter Grundlage beruhende Wahrscheinlichkeit für die richterliche Überzeugungsbildung aus13.
Nach § 287 Abs. 2 ZPO gelten die Vorschriften des § 287 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 ZPO bei vermögensrechtlichen Streitigkeiten entsprechend. Die Vorschrift erlaubt damit auch die Schätzung des Umfangs von Erfüllungsansprüchen, wenn unter den Parteien die Höhe der Forderung streitig ist und die vollständige Aufklärung aller hierfür maßgebenden Umstände entweder mit Schwierigkeiten, die zu der Bedeutung des streitigen Teils der Forderung in keinem Verhältnis stehen, verbunden14 oder unmöglich ist15. Das Tatsachengericht muss unter Würdigung aller Umstände entscheiden, ob nach seiner Überzeugung Umkleide- und Wegezeiten entstanden sind und in welchem Umfang sie erforderlich waren. Es hat nach pflichtgemäßem Ermessen zu beurteilen, ob Beweis zu erheben ist oder auf Grundlage des festgestellten Sachverhalts nach § 287 Abs. 2 ZPO nicht wenigstens die Schätzung eines Mindestumfangs benötigter Umkleide- und Wegezeiten möglich ist.
Eine Schätzung hat zu unterbleiben, wenn sie mangels jeglicher konkreter Anhaltspunkte vollkommen „in der Luft hinge“ und daher willkürlich wäre. Die für eine Schätzung unabdingbaren Anknüpfungstatsachen muss derjenige, der den Erfüllungsanspruch geltend macht, darlegen und beweisen16.
Der Umkleidevorgang, den der Kläger auf Weisung der Beklagten jeweils vor Beginn und nach Ende des Arbeitstags vollziehen musste und die mit diesem verbundenen innerbetrieblichen Wege, als die für eine Schätzung unerlässlichen Anknüpfungstatsachen, sind vorliegend festgestellt und stehen außer Streit. Die Parteien streiten allein über die hierfür arbeitstäglich erforderliche Zeit, die sich nachträglich nicht weiter belegen lässt.
Eine vom Tatsachengericht gemäß § 287 Abs. 2 ZPO nach freier Überzeugung vorzunehmende Schätzung unterliegt nur einer eingeschränkten revisionsrechtlichen Überprüfung. Ob das Tatsachengericht das Mindestmaß der erforderlichen Umkleide- und Wegezeiten zutreffend geschätzt hat, ist nur auf Ermessensüberschreitung dahingehend zu überprüfen, ob das Tatsachengericht wesentliche Bemessungsfaktoren außer Betracht gelassen oder der Schätzung unrichtige oder unbewiesene Anknüpfungstatsachen zugrunde gelegt hat und damit die Schätzung mangels konkreter Anhaltspunkte völlig „in der Luft hängt“, also willkürlich ist17.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 26. Oktober 2016 – 5 AZR 168/16
- BAG 12.12 2012 – 5 AZR 355/12, Rn. 16 f.; 19.03.2014 – 5 AZR 954/12, Rn. 17[↩]
- BAG 19.09.2012 – 5 AZR 678/11, Rn. 28, BAGE 143, 107; 12.12 2012 – 5 AZR 355/12, Rn. 17; 19.03.2014 – 5 AZR 954/12, Rn. 18[↩]
- BAG 19.09.2012 – 5 AZR 678/11, Rn. 23, BAGE 143, 107[↩]
- BAG 10.11.2009 – 1 ABR 54/08, Rn. 15; 19.09.2012 – 5 AZR 678/11, Rn. 23, aaO; 17.11.2015 – 1 ABR 76/13, Rn. 25, BAGE 153, 225[↩]
- vgl. hierzu BAG 28.07.1994 – 6 AZR 220/94, zu II 3 b der Gründe, BAGE 77, 285; 19.09.2012 – 5 AZR 678/11, Rn. 23, BAGE 143, 107[↩]
- BAG 12.12 2012 – 5 AZR 355/12, Rn. 18; 19.03.2014 – 5 AZR 954/12, Rn. 30[↩]
- vgl. BAG 19.03.2014 – 5 AZR 954/12, Rn. 26[↩]
- BAG 19.09.2012 – 5 AZR 678/11, Rn. 24, BAGE 143, 107; 12.11.2013 – 1 ABR 59/12, Rn. 48, BAGE 146, 271; 19.03.2014 – 5 AZR 954/12, Rn. 47[↩]
- BAG 19.09.2012 – 5 AZR 678/11, Rn. 41, aaO[↩]
- vgl. BAG 16.05.2012 – 5 AZR 347/11, Rn. 25 ff., BAGE 141, 330; 10.04.2013 – 5 AZR 122/12, Rn. 15 ff.[↩]
- vgl. BAG 21.05.1980 – 5 AZR 194/78, zu 4 a der Gründe; 25.03.2015 – 5 AZR 602/13, Rn. 18, BAGE 151, 180; aA Franzen NZA 2016, 136, 140[↩]
- vgl. BAG 26.09.2012 – 10 AZR 370/10, Rn.19, 22 mwN, BAGE 143, 165[↩]
- vgl. BGH 17.12 2014 – VIII ZR 88/13, Rn. 45[↩]
- BAG 25.03.2015 – 5 AZR 602/13, Rn.20, BAGE 151, 180[↩]
- BGH 29.06.1961 – VII ZR 32/60; Stein/Jonas/Leipold ZPO 22. Aufl. § 287 Rn. 29; Wieczorek/Schütze/Ahrens 4. Aufl. § 287 ZPO Rn. 61[↩]
- vgl. BAG 25.03.2015 – 5 AZR 602/13, Rn.19, BAGE 151, 180; BGH 17.12 2014 – VIII ZR 88/13, Rn. 46 mwN[↩]
- vgl. BAG 26.09.2012 – 10 AZR 370/10, Rn. 25 mwN, BAGE 143, 165; 25.03.2015 – 5 AZR 602/13, Rn. 24, BAGE 151, 180[↩]