Unechte Rückwirkung von Tarifverträgen

Tarifvertragliche Regelungen tragen den immanenten Vorbehalt ihrer nachträglichen Abänderung durch Tarifvertrag in sich. Die Gestaltungsfreiheit der Tarifvertragsparteien zur rückwirkenden Änderung tarifvertraglicher Regelungen ist allerdings durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes der Normunterworfenen begrenzt; es gelten insoweit die gleichen Regelungen wie nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der Rückwirkung von Gesetzen1.

Unechte Rückwirkung von Tarifverträgen

Zu unterscheiden ist danach zwischen echter und unechter Rückwirkung: Eine Rechtsnorm entfaltet echte Rückwirkung, wenn sie in einen abgeschlossenen Sachverhalt nachträglich eingreift2. Um eine unechte Rückwirkung handelt es sich demgegenüber, wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition entwertet. Das ist der Fall, wenn belastende Rechtsfolgen erst nach ihrem Inkrafttreten eintreten, tatbestandlich aber von einem bereits „ins Werk gesetzten“ Sachverhalt ausgelöst werden („tatbestandliche Rückanknüpfung“)3.

Eine echte Rückwirkung ist verfassungsrechtlich grundsätzlich unzulässig4.

Die unechte Rückwirkung ist schon dann zulässig, wenn vernünftige Gründe der Tarifpolitik die Vertrauensenttäuschung tragen. Die besondere Sachkompetenz der Tarifvertragsparteien verschafft diesen eine Einschätzungsprärogative5. Über die Zulässigkeit entscheidet eine Abwägung zwischen höherrangigen (allgemeinen) Kollektivinteressen und dem Vertrauen des Einzelnen auf den Fortbestand der gegebenen Rechtslage6. Der zu beachtende Vertrauensschutz geht somit nicht so weit, den normunterworfenen Personenkreis vor Enttäuschungen zu bewahren7. Die bloßeallgemeine Erwartung, das geltende Recht werde künftig unverändert fortbestehen, ist nicht schutzwürdig. Vielmehr müssen besondere Momente der Schutzwürdigkeit hinzutreten8.

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Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 30. November 2022 – 5 AZR 27/22

  1. st. Rspr., vgl. BAG 20.06.2018 – 7 AZR 737/16, Rn. 23 mwN[]
  2. BAG 25.03.2015 – 5 AZR 458/13, Rn. 38; 27.03.2014 – 6 AZR 204/12, Rn. 42 ff., BAGE 147, 373[]
  3. vgl. BVerfG 7.07.2010 – 2 BvL 14/02 ua., Rn. 55, BVerfGE 127, 1; BAG 20.06.2018 – 7 AZR 737/16, Rn. 24 mwN[]
  4. vgl. BAG 17.07.2012 – 1 AZR 476/11, Rn. 51, BAGE 142, 294[]
  5. Löwisch/Rieble TVG 4. Aufl. § 1 Rn. 1022[]
  6. Wiedemann/Thüsing TVG 8. Aufl. § 1 Rn. 151[]
  7. vgl. BAG 25.03.2015 – 5 AZR 458/13, Rn. 40[]
  8. vgl. BVerfG 7.07.2010 – 2 BvL 14/02 ua., Rn. 57, BVerfGE 127, 1; BAG 20.06.2018 – 7 AZR 737/16, Rn. 25[]