Der Arbeitgeber trägt auch dann die Beweislast für den von ihm behaupteten Kündigungs- bzw. Auflösungsgrund, wenn das betreffende Verhalten des Arbeitnehmers den Tatbestand der üblen Nachrede iSv. § 186 StGB erfüllen würde.

In dem hier vom Bundesarbeitsgericht entschied die Arbeitgeberin Ende März 2019, die Funktion der Teamleiterin der Infopoints von Frau R auf Frau P zu übertragen. Am 8.04.2019 sandte die Arbeitnehmerin eine mit „Die Mitarbeiter des Infopoints“ unterzeichnete E-Mail an den Vorstand der Alleingesellschafterin der Arbeitgeberin. Darin wurde verlangt, dass Frau R „in der Funktion unserer Teamleitung verbleibt“, unter Frau P gehe es „drunter und drunter“. Nachdem sie von der Geschäftsführung der Arbeitgeberin mehrfach aufgefordert worden war, die Vorwürfe zu erläutern und die Urheber der E-Mail zu benennen, nahm die Arbeitnehmerin mit zwei auf den 28.05.2019 datierten Schreiben Stellung, die mit „Die Mitarbeiter des Infopoint“ bzw. „Mehrere Mitarbeiter des Infopoint“ unterzeichnet waren. Dort schilderte sie diverse Vorfälle, ihren Ausgang nehmend im Juni 2017 mit einer Durchsuchung des Infopoints durch den Sicherheitsdienst. In diesem Zusammenhang habe Frau P die Mitarbeiter wegen angeblicher Verstöße gegen das Datenschutzrecht beschimpft sowie dazu aufgefordert, den Vorfall „unter den Teppich zu kehren“ und „Stillschweigen zu bewahren“. Frau P wehre konsequent Meldungen über Fehlverhalten des Sicherheitsdienstes ab. Die Arbeitgeberin kündigte nach Anhörung des Betriebsrats das Arbeitsverhältnis der Parteien fristgerecht zum 30.11.2019.
Das Arbeitsgericht hat dem Kündigungsschutzantrag stattgegeben, das Landesarbeitsgericht Hamburg die Berufung der Arbeitgeberin zurück- und ihren Auflösungsantrag abgewiesen1. Auf die Revision der Arbeitgeberin hat das Bundesarbeitsgericht das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an das Landesarbeitsgericht Hamburg zurückverwiesen; das Landesarbeitsgericht habe dem Kündigungsschutzantrag zu Unrecht mit der Begründung entsprochen, die Kündigung sei sozial nicht gerechtfertigt:
Eine Kündigung ist iSv. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG durch Gründe im Verhalten des Arbeitnehmers bedingt und damit nicht sozial ungerechtfertigt, wenn dieser seine vertraglichen Haupt- oder Nebenpflichten erheblich und in der Regel schuldhaft verletzt hat, eine dauerhaft störungsfreie Vertragserfüllung in Zukunft nicht mehr zu erwarten steht und dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers über die Kündigungsfrist hinaus in Abwägung der Interessen beider Vertragsteile nicht zumutbar ist. Auch eine erhebliche Verletzung der den Arbeitnehmer gemäß § 241 Abs. 2 BGB treffenden Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen des Arbeitgebers kann eine Kündigung rechtfertigen. Eine Kündigung scheidet dagegen aus, wenn schon mildere Mittel und Reaktionen von Seiten des Arbeitgebers – wie etwa eine Abmahnung – geeignet gewesen wären, beim Arbeitnehmer künftige Vertragstreue zu bewirken. Einer Abmahnung bedarf es nach Maßgabe des auch in § 314 Abs. 2 iVm. § 323 Abs. 2 BGB zum Ausdruck kommenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung auch nach Ausspruch einer Abmahnung nicht zu erwarten oder die Pflichtverletzung so schwerwiegend ist, dass selbst deren erstmalige Hinnahme durch den Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist2.
Dem Berufungsgericht kommt bei der Prüfung und Interessenabwägung, ob eine Kündigung durch Gründe im Verhalten des Arbeitnehmers iSv. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG bedingt ist, ein Beurteilungsspielraum zu. Seine Würdigung wird in der Revisionsinstanz lediglich daraufhin geprüft, ob es von den zutreffenden Rechtssätzen ausgegangen ist, bei der Unterordnung des Sachverhalts unter diese keine Denkgesetze oder allgemeinen Erfahrungssätze verletzt und alle vernünftigerweise in Betracht zu ziehenden Umstände widerspruchsfrei berücksichtigt hat3.
Auch diesem eingeschränkten Prüfungsmaßstab hält das angefochtene Urteil nicht stand.
Zwar hat das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei gemeint, der Versand der E-Mail vom 08.04.2019 an den Vorstand der Alleingesellschafterin der Arbeitgeberin rechtfertige – vorbehaltlich der darin enthaltenen falschen Angaben zur Urheberschaft – die streitbefangene Kündigung ohne vorherige Abmahnung nicht. Das Landesarbeitsgericht hat seine Annahme, es habe sich insofern nicht um eine so schwere Pflichtverletzung gehandelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme durch die Arbeitgeberin nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für die Arbeitnehmerin erkennbar – ausgeschlossen war, damit begründet, etwaige Tatsachenbehauptungen in der E-Mail seien derart substanzlos, dass eine für die Arbeitgeberin bzw. deren Geschäftsführung nachteilige Reaktion ihrer Alleingesellschafterin und Auftraggeberin – objektiv – nicht zu befürchten gewesen und demgemäß auch ausgeblieben sei. Diese auf die Art, das Ausmaß und die (möglichen) Folgen der Pflichtverletzung bezogenen Erwägungen sind von Rechts wegen nicht zu beanstanden4.
Jedoch ist das Berufungsgericht rechtsfehlerhaft zu der Annahme gelangt, die Arbeitnehmerin habe durch die von ihr verfassten Schreiben vom 28.05.2019 ihre arbeitsvertraglichen Pflichten nicht „gravierend“ verletzt. Es hat verkannt, dass hinsichtlich der darin geschilderten Vorgänge nicht bloß die „Wahrnehmung und Bewertung“ durch die Parteien auseinandergeht. Vielmehr soll die Arbeitnehmerin nach dem Vorbringen der Arbeitgeberin bewusst unwahre, ehrenrührige Tatsachenbehauptungen aufgestellt haben. Das betrifft namentlich – aber nicht allein – ihre Behauptung, Frau P habe im Zusammenhang mit den Vorkommnissen im Juni 2017 Mitarbeiter des Infopoints aufgefordert, den Vorfall „unter den Teppich zu kehren“ und „Stillschweigen zu bewahren“.
Zudem fehlt es an jeder Begründung durch das Landesarbeitsgericht, warum in der wahrheitswidrigen Behauptung der Arbeitnehmerin, es stünden alle oder doch mehrere Mitarbeiter des Infopoints hinter der E-Mail vom 08.04.2019 und den Schreiben vom 28.05.2019, keine besonders schwere, unmittelbar den Bestand des Arbeitsverhältnisses gefährdende Pflichtverletzung lag. Das ist jedenfalls in Bezug auf die Schreiben vom 28.05.2019 nicht offenkundig. Denn diese enthalten konkrete, weiteren Verfassern zugeschriebene Tatsachenbehauptungen und wurden erst versandt, nachdem die Arbeitgeberin durch die Bitte um Konkretisierung klar gemacht hatte, dass es ihr auch auf die (Zahl der) Urheber ankomme.
Hinsichtlich des Vorfalls am 31.05.2019 geht das Berufungsgericht von einem allenfalls „unkollegialen“ Verhalten der Arbeitnehmerin aus, das „eine Kündigung – erst recht ohne vorherige Abmahnung – nicht rechtfertigen könnte“. Dem lässt sich schon nicht entnehmen, ob das Landesarbeitsgericht das von der Arbeitgeberin behauptete Verhalten der Arbeitnehmerin gar nicht als arbeitsvertragliche Pflichtverletzung bewertet oder zwar eine Pflichtwidrigkeit annimmt, dieser aber nur ein geringes Gewicht beimisst. Jedenfalls lässt sich nicht ersehen, dass das Berufungsgericht die Behauptung der Arbeitgeberin – als unbestritten oder als wahr unterstellt – in seine Würdigung einbezogen hat, die Arbeitnehmerin und Frau R hätten die Tür zum Seminarraum „abgesperrt“, also wohl von innen verschlossen, was ggf. als gezielte Obstruktion/Provokation und damit als eine – in ihrer Schwere zu würdigende – gemeinschaftlich begangene Pflichtverletzung zu verstehen gewesen sein dürfte.
Die vorstehend aufgezeigten Rechtsfehler setzen sich in der vom Landesarbeitsgericht abschließend vorgenommenen „Gesamtwürdigung“ fort. Soweit das Berufungsgericht dort auf den zuvor beanstandungsfreien Bestand des Arbeitsverhältnisses und dessen „Restlaufzeit“ (wohl) bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze durch die Arbeitnehmerin abstellt, handelt es sich um Umstände, die bei der Prüfung der Entbehrlichkeit einer vorherigen Abmahnung unter dem Gesichtspunkt einer besonderen Schwere der betreffenden Pflichtverletzung(en) außer Betracht zu bleiben haben4.
Nach alledem stellt sich auch die Annahme des Landesarbeitsgerichts als rechtsfehlerhaft dar, der Auflösungsantrag der Arbeitgeberin sei zur Entscheidung angefallen. Dessen ungeachtet hätte es ihn mit der gegebenen Begründung nicht abweisen dürfen.
Gemäß § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG hat das Gericht das Arbeitsverhältnis auf Antrag des Arbeitgebers aufzulösen und den Arbeitgeber zur Zahlung einer angemessenen Abfindung zu verurteilen, wenn Gründe vorliegen, die eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht erwarten lassen. Als Auflösungsgründe kommen Umstände in Betracht, die das persönliche Verhältnis zum Arbeitnehmer, eine Wertung seiner Persönlichkeit, Leistung oder Eignung für die ihm übertragenen Aufgaben und sein Verhältnis zu den übrigen Mitarbeitern betreffen. Die Gründe, die eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zwischen den Vertragspartnern nicht erwarten lassen, müssen nicht im Verhalten, insbesondere nicht im schuldhaften Verhalten des Arbeitnehmers liegen. Entscheidend ist, ob die objektive Lage bei Schluss der mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz die Besorgnis rechtfertigt, eine weitere gedeihliche Zusammenarbeit sei gefährdet5.
Bei der Beurteilung des in § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG normierten Auflösungsgrundes geht es um die Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs. Die Wertung, ob es im Einzelfall gerechtfertigt ist, das Arbeitsverhältnis auf Antrag des Arbeitgebers aufzulösen, obliegt in erster Linie dem Tatsachengericht. Das Revisionsgericht kann nur nachprüfen, ob das Berufungsgericht die Voraussetzungen für den Auflösungsantrag verkannt und bei der Prüfung der vorgetragenen Auflösungsgründe alle wesentlichen Umstände vollständig und widerspruchsfrei berücksichtigt hat6.
Auch diesem eingeschränkten Prüfungsmaßstab genügt das Urteil des Landesarbeitsgerichts in mehreren Punkten nicht.
Zwar ist seine Annahme frei von Rechtsfehlern, aus einem am 21.06.2019 geführten Telefonat der Arbeitnehmerin mit einem Geschäftsführer der Arbeitgeberin ergebe sich kein Auflösungsgrund. Diese Würdigung wird auch von der Revision nicht angegriffen.
Doch hat das Berufungsgericht rechtsfehlerhaft gemeint, die Behauptung der Arbeitnehmerin im Rechtsstreit, (einzige) Miturheberin der E-Mail vom 08.04.2019 sei Frau K, vermöge die Auflösung des Arbeitsverhältnisses nicht zu rechtfertigen, weil sie den möglichen Unrechtsgehalt der Pflichtverletzung nicht ausreichend erhöhe.
Es ist schon nicht ersichtlich, dass das Landesarbeitsgericht bei dieser Bewertung von der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ausgegangen ist, wonach bewusst wahrheitswidriger Prozessvortrag des Arbeitnehmers in einem Kündigungsrechtsstreit, den dieser hält, weil er befürchtet, mit wahrheitsgemäßen Angaben den Prozess zu verlieren, geeignet ist, eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses zu rechtfertigen7, und mögliche vorgerichtliche Lügen ihn nicht von der ihm im Rechtsstreit gemäß § 241 Abs. 2 BGB, § 138 Abs. 1 ZPO obliegenden Pflicht entbinden, wahrheitsgemäß vorzutragen8.
Jedenfalls hat das Berufungsgericht verkannt, dass die Arbeitnehmerin im Prozess nicht „nur“ ihre unwahre vorgerichtliche Behauptung wiederholt hat, es hätten sämtliche Mitarbeiter des Infopoints hinter der E-Mail vom 08.04.2019 gestanden, sondern dass sie erstmals gezielt Frau K als weitere Urheberin angeführt hat. Damit hat die Arbeitnehmerin nicht „bloß“ eine „pauschale Verfasserlüge“ aufrechterhalten, sondern sie an die Vorhalte der Arbeitgeberin im Rechtsstreit angepasst und auf Frau K konkretisiert9, die damit in den Fokus der Arbeitgeberin gerückt wurde. Zumindest darin läge ein Auflösungsgrund iSv. § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG, wenn davon auszugehen sein sollte, Frau K sei an der E-Mail nicht beteiligt gewesen.
Außerdem hat das Landesarbeitsgericht rechtsfehlerhaft gemeint, es könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Arbeitnehmerin wahrheitswidrig behauptet habe, bei mehreren Gesprächen zugegen gewesen zu sein, in denen Frau R die Frau P über (vermeintliche) sexuelle Belästigungen ihrer – der Frau R – Tochter durch einen Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes unterrichtet habe.
Allerdings hat das Berufungsgericht im Ausgangspunkt zutreffend angenommen, die Arbeitgeberin trage die primäre Darlegungs- und die Beweislast dafür, dass eine entsprechende Information der Zeugin P nicht erfolgt ist.
An dem Grundsatz, dass den Arbeitgeber nicht nur die primäre Darlegungs, sondern ggf. auch die Beweislast für den von ihm behaupteten Kündigungs- bzw. Auflösungsgrund trifft, ändert es zum einen nichts, dass das fragliche Verhalten des Arbeitnehmers zugleich den Tatbestand der üblen Nachrede iSv. § 186 StGB erfüllen könnte10. Das gilt schon deshalb, weil die strafrechtliche Beurteilung des inkriminierten Verhaltens für die kündigungs- bzw. auflösungsrechtliche Bewertung nach § 1 Abs. 2, § 9 Abs. 1 KSchG ohne Belang ist11.
Zum anderen verschiebt sich die Beweislast nicht deshalb, weil es um den Beweis einer negativen Tatsache geht. Eine solche Beweisführung unterliegt zwar für die beweisbelastete Partei im Allgemeinen besonderen Anforderungen. Doch ist den Schwierigkeiten, denen sich die Partei gegenübersieht, die das Negativum12 beweisen muss, im Rahmen des Zumutbaren regelmäßig dadurch zu begegnen, dass sich der Prozessgegner auf die bloße Behauptung des Negativen durch den primär Darlegungs- und Beweispflichtigen seinerseits nicht mit einem einfachen Bestreiten begnügen darf, sondern im Rahmen einer sekundären Darlegungslast vortragen muss, welche tatsächlichen Umstände für das Vorliegen des Positiven sprechen. Dem Beweispflichtigen obliegt sodann (nur) der Nachweis, dass diese Darstellung nicht zutrifft13. Dieser Nachweis kann von der beweisbelasteten Partei auch mithilfe von Indizien erbracht werden14.
Das Landesarbeitsgericht hat danach rechtsfehlerhaft angenommen, die Arbeitnehmerin sei der sie treffenden sekundären Darlegungslast in ausreichendem Maß nachgekommen.
Bei der sekundären Darlegungslast der Partei, die eine negative Tatsache bestreitet, handelt es sich um eine eigenständige prozessuale Rechtsfigur. Dem Prozessgegner ist es schlechterdings nur erlaubt, das Vorliegen einer negativen Tatsache zu bestreiten, wenn er aus eigener Kenntnis oder aufgrund von Nachforschungen das von ihm behauptete Geschehen in räumlicher, zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht substantiiert darlegen kann. Ist er dazu nicht in der Lage, trifft ihn die gleiche prozessuale Folge, die sonst einen Anspruchsteller trifft, der nicht alle Tatbestandsmerkmale einer einschlägigen Anspruchsgrundlage dartun kann: Zu seinem Nachteil ist dann davon auszugehen, dass die im Rahmen der sekundären Darlegungslast zu schildernde (positive) Tatsache nicht vorliegt15.
Im Streitfall hat die Arbeitnehmerin die angeblich in ihrem Beisein erfolgten Unterrichtungen der Zeugin P über Vorwürfe der sexuellen Belästigung nicht in räumlicher, zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht und damit nicht ausreichend iSv. § 138 Abs. 2 und Abs. 3 ZPO substantiiert. Keiner Entscheidung bedarf es, ob das betreffende Vorbringen von Frau R in einem zwischen ihr und der Arbeitgeberin geführten Rechtsstreit ausreichend konkret war. Das Landesarbeitsgericht hat diesen Vortrag verfahrensfehlerhaft zum Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits gemacht. Die Arbeitnehmerin hat sich den Vortrag von Frau R in „ihrem“ Verfahren gerade nicht zu eigen gemacht, sondern vielmehr bis zuletzt daran festgehalten, sie könne keine Einzelheiten angeben. In der Folge hätte das Landesarbeitsgericht nicht in eine Beweisaufnahme eintreten dürfen, sondern vielmehr das Vorbringen der Arbeitgeberin nach § 138 Abs. 2 und Abs. 3 ZPO als zugestanden ansehen müssen, die Zeugin P sei nie über die streitgegenständlichen Vorwürfe der sexuellen Belästigung informiert worden.
Aufgrund der bisher vom Landesarbeitsgericht nur unzureichend getroffenen tatsächlichen Feststellungen kann das Bundesarbeitsgericht nicht abschließend über den vorrangigen Kündigungsschutzantrag entscheiden. Das führt zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht zur neuen Verhandlung und Entscheidung auch in Bezug auf den Auflösungsantrag der Arbeitgeberin und den Weiterbeschäftigungsantrag der Arbeitnehmerin. Dabei hat das Bundesarbeitsgericht von der Möglichkeit des § 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO Gebrauch gemacht.
Für das fortgesetzte Berufungsverfahren sind folgende weitere Hinweise veranlasst:
Die streitbefangene Kündigung könnte vor allem dann aus Gründen im Verhalten der Arbeitnehmerin iSv. § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt sein, wenn die Schreiben vom 28.05.2019 bewusst unwahre Tatsachenbehauptungen ua. zulasten von Frau P enthielten und die Arbeitnehmerin wahrheitswidrig vorgespiegelt haben sollte, alle oder doch mehrere Mitarbeiter des Infopoints stünden hinter diesen Behauptungen. Dabei könnte es auch bedeutsam sein, ob die Arbeitnehmerin auf die Mitteilung der Arbeitgeberin mit Anwaltsschreiben vom 06.06.2019, man sehe in der E-Mail vom 08.04.2019 einen „kündigungsrelevanten Sachverhalt“, das Schreiben vom 28.05.2019 nochmals mit der (einzigen) Änderung versandt hat, dass sie es statt mit „Die Mitarbeiter des Infopoint“ mit „Mehrere Mitarbeiter des Infopoint“ unterzeichnet hat. In diesem Fall dürfte die Arbeitnehmerin ihr Bewusstsein offenbart haben, dass in einer – gleichwohl „abgeschwächt“ fortgesetzten – „Urheberlüge“ eine erhebliche Pflichtverletzung liegt.
Die Frage, ob eine unmittelbar kündigungsbegründende Pflichtverletzung vorlag, weil die Arbeitnehmerin sich am 31.05.2019 gemeinsam mit Frau R im Seminarraum eingeschlossen und die Tür (selbst) auf ein Klopfen der Zeugin P nicht geöffnet hat, könnte dahinstehen, wenn die Arbeitgeberin diesen Sachverhalt gegenüber dem bei ihr gebildeten Betriebsrat nicht als „eigenen“ Grund für die beabsichtigte Kündigung iSv. § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG angeführt haben sollte. Dann könnte sie sich hierauf auch im vorliegenden Rechtsstreit nicht als solchen berufen.
Sollte die Kündigung sich aufgrund eines betriebsverfassungsrechtlich verwertbaren Sachverhalts als sozial gerechtfertigt erweisen, wird das Landesarbeitsgericht prüfen müssen, ob sie gleichwohl wegen nicht ordnungsgemäßer Anhörung des Betriebsrats gemäß § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG unwirksam ist16.
Der Auflösungsantrag der Arbeitgeberin nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG fällt nur zur Entscheidung an, wenn das Berufungsgericht die Kündigung allein wegen ihrer mangelnden sozialen Rechtfertigung – und nicht auch gemäß § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG – für rechtsunwirksam befinden sollte. Andernfalls wäre der Auflösungsantrag schon „unstatthaft“17.
Nach dem bisherigen Vorbringen der Arbeitnehmerin ist die Behauptung der Arbeitgeberin nach § 138 Abs. 2 und Abs. 3 ZPO als unstreitig anzusehen, Frau R habe die Zeugin P nicht über Vorwürfe der sexuellen Belästigung unterrichtet. Derzeit ist auch nichts dafür ersichtlich, dass der Arbeitnehmerin die Unwahrheit ihrer gegenteiligen Behauptung nicht bewusst gewesen wäre18.
Des Weiteren wird das Berufungsgericht prüfen müssen, ob die Arbeitnehmerin im vorliegenden Rechtsstreit wahrheitswidrig Frau K als weitere Urheberin der E-Mail vom 08.04.2019 benannt hat. Über diese Behauptung der Arbeitgeberin wäre – nur – Beweis zu erheben, wenn die Arbeitnehmerin im Rahmen einer sekundären Darlegungslast den „Urheberbeitrag“ von Frau K (als Positivum gegenüber dem von der Arbeitgeberin behaupteten Negativum) substantiiert darlegen sollte.
Falls die Arbeitgeberin den Vorfall am 31.05.2019 gegenüber dem Betriebsrat nicht als „eigenständigen“ Kündigungsgrund angeführt haben sollte, hinderte sie dies gleichwohl nicht, diesen Sachverhalt im Rahmen ihres Auflösungsantrags zu verwerten19.
Bei der Bemessung einer etwaig nach den Vorgaben von § 10 KSchG festzusetzenden Abfindung wird das Landesarbeitsgericht ua. zu berücksichtigen haben, dass die ordentliche Kündigung jedenfalls nicht grob sozialwidrig war und die Arbeitnehmerin, sollte die Kammer annehmen, sie – die Arbeitnehmerin – habe bewusst wahrheitswidrige Tatsachenbehauptungen aufgestellt, ein ganz erhebliches „Auflösungsverschulden“ träfe. Dieses wäre ggf. abfindungsmindernd zu berücksichtigen20.
Sollte das Landesarbeitsgericht hingegen nicht nach § 138 bzw. § 286 ZPO vom Vorliegen einer die Auflösung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigenden „Tat“ der Arbeitnehmerin ausgehen, hätte es auf eine Klarstellung hinzuwirken, inwieweit sich die Arbeitgeberin hilfsweise auf den dringenden Verdacht eines die Auflösung rechtfertigenden Verhaltens der Arbeitnehmerin stützt21.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 16. Dezember 2021 – 2 AZR 356/21
- LAG Hamburg 10.06.2021 – 8 Sa 22/20[↩]
- BAG 5.12.2019 – 2 AZR 240/19, Rn. 75[↩]
- BAG 5.12.2019 – 2 AZR 240/19, Rn. 78[↩]
- vgl. BAG 20.05.2021 – 2 AZR 596/20, Rn. 27[↩][↩]
- BAG 24.05.2018 – 2 AZR 73/18, Rn. 16, BAGE 163, 36[↩]
- BAG 24.05.2018 – 2 AZR 73/18, Rn. 14, BAGE 163, 36[↩]
- vgl. BAG 24.05.2018 – 2 AZR 73/18, Rn. 25, BAGE 163, 36[↩]
- vgl. BAG 24.05.2018 – 2 AZR 73/18, Rn. 27, aaO[↩]
- vgl. BAG 24.05.2018 – 2 AZR 73/18, Rn. 34, BAGE 163, 36[↩]
- vgl. BAG 27.09.2012 – 2 AZR 646/11, Rn. 28 und 43; ErfK/Niemann 22. Aufl. BGB § 626 Rn. 236; aA Ascheid Beweislastfragen im Kündigungsschutzprozess S. 140 ff.; ErfK/Oetker KSchG § 1 Rn.208[↩]
- vgl. BAG 31.01.2019 – 2 AZR 426/18, Rn. 75, BAGE 165, 255; 23.08.2018 – 2 AZR 235/18, Rn. 44[↩]
- das Nichtvorliegen einer Tatsache[↩]
- vgl. BAG 26.06.2019 – 5 AZR 178/18, Rn. 15, BAGE 167, 144; BGH 15.08.2019 – III ZR 205/17, Rn.19; 7.03.2019 – IX ZR 221/18, Rn. 31; 4.10.2018 – III ZR 213/17, Rn. 15; 24.07.2018 – II ZR 305/16, Rn. 11[↩]
- vgl. OLG Koblenz 14.01.2010 – 10 U 411/09; allgemein zum Indizienbeweis BAG 11.06.2020 – 2 AZR 442/19, Rn. 63, BAGE 171, 66[↩]
- vgl. BGH 8.01.2019 – II ZR 139/17, Rn. 34; 10.02.2011 – IX ZR 45/08, Rn. 2; OLG Celle 22.09.2016 – 11 U 13/16, zu II 1 c dd (2) der Gründe; KG Berlin 13.07.2009 – 24 U 81/08, zu II A 1 g der Gründe[↩]
- zur Unterscheidung vgl. BAG 24.05.2018 – 2 AZR 73/18, Rn. 37, BAGE 163, 36[↩]
- vgl. BAG 29.08.2013 – 2 AZR 419/12, Rn. 25; 24.11.2011 – 2 AZR 429/10, Rn.19, BAGE 140, 47[↩]
- vgl. BAG 24.05.2018 – 2 AZR 73/18, Rn. 30, BAGE 163, 36[↩]
- vgl. BAG 24.05.2018 – 2 AZR 73/18, Rn. 37, BAGE 163, 36; 10.10.2002 – 2 AZR 240/01, zu B III 1 b der Gründe, BAGE 103, 100[↩]
- vgl. BAG 24.05.2018 – 2 AZR 73/18, Rn. 38, BAGE 163, 36[↩]
- zu dieser Möglichkeit und den – hohen – Anforderungen vgl. BVerfG 15.12.2008 – 1 BvR 347/08, zu II 1 a der Gründe[↩]