Vertretungsbefristung – Rechtsmissbrauchskontrolle

Die mehrfache Befristung eines Arbeitsverhältnisses mit einer Reinigungskraft über eine Dauer von mehr als 16 Jahren ist rechtsmissbräuchlich.

Vertretungsbefristung – Rechtsmissbrauchskontrolle

Zwar mag in diesem Fall die letezte Befristung auf dem Sachgrund der Vertretung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 TzBfG beruhen. Die Arbeitgeberin kann sich jedoch nach den Grundsätzen des institutionellen Rechtsmissbrauchs nicht auf den Sachgrund der Vertretung berufen.

Gegenstand der Befristungskontrolle ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts die zuletzt getroffene Befristungsabrede vom 17.01.20141. Die darin enthaltene Befristung ist durch den Sachgrund der Vertretung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 TzBfG gerechtfertigt.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts2 liegt ein sachlicher Grund für die Befristung eines Arbeitsvertrags vor, wenn der Arbeitnehmer zur Vertretung eines anderen Arbeitnehmers beschäftigt wird. Der Grund für die Befristung liegt in den Vertretungsfällen darin, dass der Arbeitgeber mit der vorübergehend ausgefallenen Stammkraft in einem Rechtsverhältnis steht und mit der Rückkehr dieser Stammkraft rechnen darf. Damit besteht für die Wahrnehmung der Arbeitsaufgaben der Stammkraft durch die Vertretungskraft von vornherein nur ein zeitlich begrenztes Bedürfnis. Die Stammkraft hat einen arbeitsvertraglichen Anspruch darauf, nach Wegfall des Verhinderungsgrunds die vertraglich vereinbarte Tätigkeit wieder aufzunehmen. Der Arbeitgeber muss daher davon ausgehen, dass die Stammkraft diesen Anspruch geltend machen wird.

Nur dann, wenn der Arbeitgeber aufgrund ihm vorliegender Informationen erhebliche Zweifel daran haben muss, dass die Stammkraft wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren wird, kann dies dafür sprechen, dass der Sachgrund der Vertretung nicht gegeben ist. In der Regel setzt dies voraus, dass die Stammkraft dem Arbeitgeber bereits vor dem Abschluss des befristeten Arbeitsvertrags mit der Vertretungskraft verbindlich erklärt hat, sie werde die Arbeit nicht wieder aufnehmen3.

Trotz Kritik im Schrifttum hat das Bundesarbeitsgericht auch bei einer erheblichen Befristungsdauer an dieser Rechtsprechung festgehalten. In seinen Urteilen vom 18.07.20124 hat das Bundesarbeitsgericht sich ausführlich mit der Kritik des Schrifttums auseinandergesetzt und ist bei seiner bisherigen Rechtsprechung verblieben. Dies bedeutet, dass anders als nach der früheren Rechtsprechung mit zunehmender Befristungsdauer keine „strengeren Anforderungen“ an den Befristungsgrund zu stellen sind oder eine „strengere Kontrolle“ des Befristungsgrundes stattzufinden hat. Das Bundesarbeitsgericht hat dies damit begründet, durch die vom Europäischen Gerichtshof geforderte Missbrauchskontrolle5 sei in einem zweiten Schritt in den Fällen der Kettenbefristungen eine umfassende Missbrauchskontrolle nach den Grundsätzen des institutionellen Rechtsmissbrauchs durchzuführen.

Nach diesen Grundsätzen teilt das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg die Auffassung, dass die vorliegende Befristung sachlich gerechtfertigt war.

Nach der Befristungsabrede vom 17.01.2014 wurde die Arbeitnehmerin bis zum Ende der befristeten Rente von Frau K., längstens jedoch bis zum 28.02.2017, weiterbeschäftigt. Bei Frau K. handelt es sich unstreitig um die Reinigungskraft, die vor der Einstellung der Arbeitnehmerin für die Reinigung der W- C-Anlagen „Marktplatz“ und „Kulturforum“ zuständig war. Frau K. erkrankte zu einem nicht näher vorgetragenen Zeitpunkt im Laufe des Jahres 2000 und bezog ab dem 1.08.2004 eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die Arbeitnehmerin vertrat Frau K. zunächst an der W- C-Anlage „Marktplatz“ mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 24, 5 Stunden und ab dem 3.03.2006 als Vollzeitbeschäftigte an beiden W- C-Anlagen. Somit liegt der Fall der unmittelbaren Stellvertretung vor.

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Die bisherigen Entscheidungsfälle des Bundesarbeitsgerichts betrafen, soweit ersichtlich, vor allem die Verhinderungsgründe der Krankheit, der Beurlaubung oder der Freistellung von der Arbeit. Der hier vorliegende Vertretungsgrund des befristeten Bezugs einer vollen Erwerbsminderungsrente war bislang noch nicht Gegenstand einer vertieften Erörterung. Nach § 43 Abs. 2 SGB VI haben Versicherte unter den dort genannten Voraussetzungen Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Der Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente hängt aber nicht allein vom Gesundheitszustand des Versicherten ab. Die konkrete Situation des (Teilzeit-) Arbeitsmarktes ist bei der Frage zu berücksichtigen, ob der teilweise erwerbsgeminderte Versicherte mit einem Restleistungsvermögen zwischen 3 und 6 Stunden täglich, der grundsätzlich nur Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung hat, die volle Erwerbsminderungsrente beanspruchen kann. Die Rentenversicherungsträger gehen bei der derzeitigen Arbeitsmarktlage in der Regel ohne weitere Ermittlungen davon aus, dass der Teilzeitarbeitsmarkt verschlossen ist, wenn der Versicherte keinen geeigneten Teilzeitarbeitsplatz innehat6.

In Anwendung dieser Regelungen erhielt Frau K. beginnend mit dem 1.08.2004 eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung. Im Bescheid vom 07.11.2005 ist zur Befristung vermerkt, dass der Rentenanspruch zeitlich begrenzt sei, weil die volle Erwerbsminderung nicht ausschließlich auf dem Gesundheitszustand, sondern auch auf den Verhältnissen des Arbeitsmarktes beruhe. Somit ist davon auszugehen, dass die Gewährung der vollen Erwerbsminderungsrente auf dem Umstand beruhte, dass die Rentenversicherung Baden-Württemberg zugunsten von Frau K. einen verschlossenen Teilzeitarbeitsmarkt annahm. Daher konnte die volle Erwerbsminderungsrente auch nach Ablauf der 9-Jahresfrist nur zeitlich befristet geleistet werden.

Unter diesen Umständen kann zugunsten der Arbeitnehmerin unterstellt werden, dass sich der gesundheitliche Zustand von Frau K. nicht verbessern werde und diese nach Erreichen der Altersgrenze in den Ruhestand gehen werde, ohne ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Es war zwar bereits im Zeitpunkt der Befristungsabrede vom 17.01.2014 sehr unwahrscheinlich, dass Frau K. in den Dienst zurückkehren werde. Da aber die Rentengewährung nicht allein vom Gesundheitszustand von Frau K., sondern auch von der Situation auf dem Arbeitsmarkt abhing, konnte eine Rückkehr von Frau K. aus Sicht der Arbeitgeberin nicht völlig ausgeschlossen werden. Die Arbeitgeberin lief das Risiko, dass die volle Erwerbsminderungsrente von Frau K. wegen einer Änderung der Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr bewilligt werde und Frau K. ihre Arbeitsleistung anbieten würde. In einem solchen Fall wäre es nicht auszuschließen gewesen, dass es im Falle eines Annahmeverzugsprozesses zu einer rechtlichen Auseinandersetzung über den Grad des Leistungsvermögens von Frau K. hätte kommen können. Die Kammer verkennt hierbei nicht, dass dieses Risiko sehr begrenzt war. Dennoch wäre die Arbeitgeberin ein gewisses Risiko eingegangen, wenn sie mit der Arbeitnehmerin im Januar 2014 ein unbefristetes Arbeitsverhältnis eingegangen wäre. Daher sprechen die besseren Gründe dafür, ungeachtet des relativ geringen Risikos der Arbeitgeberin die Wirksamkeit der Befristungsabrede anzunehmen.

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Daran ändert sich auch nichts, dass die Erwerbsminderungsrente von Frau K. mit Bescheid vom 19.12 2016 erneut bis zum 29.02.2020 verlängert wurde. Angesichts des von der Arbeitnehmerin mitgeteilten Alters von Frau K. von 62 Jahren ist damit zu rechnen, dass Frau K. anschließend eine Altersrente beziehen wird. Für die Wirksamkeit der Befristungsabrede kommt es ausschließlich auf die Verhältnisse im Zeitpunkt des Vertragsschlusses an7. Die Arbeitnehmerin hat auch keinen Anspruch auf eine befristete Weiterbeschäftigung, weil sich die tatsächlichen Verhältnisse vor dem Auslaufen der Befristung geändert haben. Der Arbeitgeber ist in seiner Entscheidung frei, auf welche Weise er einen unvorhergesehenen weiteren Vertretungsbedarf abdecken möchte8.

Die Arbeitgeberin kann sich jedoch nach den Grundsätzen des institutionellen Rechtsmissbrauchs nicht auf den Sachgrund der Vertretung berufen.

Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts9 dürfen sich die Gerichte bei der Befristungskontrolle nicht auf die Prüfung des geltend gemachten Sachgrunds beschränken. Sie sind vielmehr aus unionsrechtlichen Gründen verpflichtet, durch Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls auszuschließen, dass Arbeitgeber missbräuchlich auf befristete Arbeitsverträge zurückgreifen. Ob ein institutioneller Rechtsmissbrauch anzunehmen ist, hängt maßgeblich von der Gesamtdauer der befristeten Arbeitsverträge sowie der Anzahl der Vertragsverlängerungen ab. Ist danach die Prüfung eines institutionellen Rechtsmissbrauchs veranlasst, sind weitere Umstände zu berücksichtigen. Hierbei kann von Bedeutung sein, dass der Arbeitnehmer stets auf demselben Arbeitsplatz mit denselben Aufgaben beschäftigt wurde oder ob es sich um wechselnde, ganz unterschiedliche Aufgaben handelt. Für eine missbräuchliche Handhabung kann zudem sprechen, wenn der Arbeitgeber trotz einer tatsächlich vorhandenen Möglichkeit einer dauerhaften Einstellung immer wieder auf befristete Arbeitsverträge zurückgreift.

Das Arbeitsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass sich die Arbeitnehmerin als Indiz für einen Rechtsmissbrauch nicht darauf berufen kann, die Arbeitgeberin habe den Sachgrund der Vertretung von Frau K. „doppelt“ ausgenutzt habe. Es trifft zwar zu, dass die Arbeitnehmerin für beiden W- C-Anlagen „Marktplatz“ und „Kulturforum“ in Vollzeit zuständig war und die Arbeitgeberin zusätzlich Frau VK ab 26.03.2007 für dieselben W- C-Anlagen mit demselben Befristungsgrund eingestellt hatte. Rein rechnerisch ergibt sich damit ein Arbeitszeitumfang von 111, 5 %, während Frau K. lediglich einen Arbeitszeitumfang von 100 % hatte.

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Die Arbeitgeberin hat jedoch nachvollziehbar erläutert, weshalb Frau VK zusätzlich eingestellt wurde. Der Grund ist, dass die Arbeitgeberin von ihrer bisherigen Praxis abgerückt war, die Arbeitnehmerin ohne einen arbeitsfreien Tag an den W- C-Anlagen einzusetzen, und daher eine Vertretung für die arbeitsfreien Tage benötigte. Die Arbeitskraft von Frau VK wurde somit ausschließlich für die arbeitsfreien Tage der Arbeitnehmerin benötigt. Eine „doppelte“ Ausnutzung des Befristungsgrundes liegt somit nicht vor.

Die Kammer teilt auch die Auffassung des Arbeitsgerichts, ein Rechtsmissbrauch sei nicht darin zu sehen, dass die Arbeitgeberin durch die Dauer der befristeten Arbeitsverhältnisse den Sonderkündigungsschutz nach § 34 Abs. 2 TVöD umgangen hat. Hiernach können die Arbeitsverhältnisse von Beschäftigten, die das 40. Lebensjahr vollendet haben und unter die Regelungen des Tarifgebiets West fallen, nach einer Beschäftigungszeit von mehr als 15 Jahren durch den Arbeitgeber nur noch aus wichtigem Grund gekündigt werden. Diesen Sonderkündigungsschutz hat die Arbeitgeberin mit der Befristung der Arbeitsverhältnisse nicht rechtsmissbräuchlich umgangen.

Mit der Befristung von Arbeitsverhältnissen ist in zahlreichen Fällen die Umgehung des gesetzlichen Kündigungsschutzes verbunden. Bereits der Große Landessozialgericht des Bundesarbeitsgerichts würdigte die Wirksamkeit befristeter Arbeitsverträge unter dem Gesichtspunkt der objektiven Gesetzesumgehung10. Der Große Landessozialgericht gelangte zu dem Ergebnis, dass der Sonderkündigungsschutz nach § 9 MuSchG keine Wirkung entfalte, wenn ein Arbeitsvertrag rechtswirksam befristet sei. An dieser Auffassung hat das Bundesarbeitsgericht auch in seiner späteren Rechtsprechung festgehalten11. Kündigung und Befristung sind in ihrer Rechtswirkung nicht vergleichbar. Lediglich dann, wenn sich die Befristung als gezielte Umgehung des Sonderkündigungsschutzes darstellt, hat das Bundesarbeitsgericht eine unzulässige Rechtsausübung erwogen12.

Diese Rechtsprechung hat das Bundesarbeitsgericht auch in anderen Zusammenhängen fortgesetzt. So hat es entschieden, dass die nach § 14 Abs. 2 TzBfG sachgrundlos befristeten Arbeitsverhältnisse von Betriebsratsmitgliedern mit Ablauf der vereinbarten Befristung enden. Lediglich dann, wenn der Arbeitgeber den Abschluss eines Folgevertrags wegen der Betriebsratstätigkeit ablehnt, kann das benachteiligte Betriebsratsmitglied einen Anspruch auf Schadenersatz haben13.

In gleicher Weise stellt auch die „Umgehung“ des Sonderkündigungsschutzes zugunsten der langjährig Beschäftigten und älteren Arbeitnehmer kein Indiz für einen Gestaltungsmissbrauch dar14. Das befristete Arbeitsverhältnis genießt nicht denselben Bestandsschutz wie das unbefristete Arbeitsverhältnis; der – andersartige – Bestandschutz richtet sich nach den Regelungen des § 14 ff. TzBfG. So unterliegt ein befristetes Arbeitsverhältnis nach § 15 Abs. 3 TzBfG nur dann der ordentlichen Kündigung, wenn dies einzelvertraglich oder im anwendbaren Tarifvertrag vereinbart ist. Ordentliche Unkündbarkeit und Befristung schließen sich daher nicht aus15.

Der Arbeitnehmerin ist einzuräumen, dass ihr damit ein ganz wesentlicher Schutz im Arbeitsrecht des öffentlichen Dienstes versagt bleibt. Es ist aber zu berücksichtigen, dass der Sonderkündigungsschutz in anderen Tarifbereichen an ganz andere Voraussetzungen als im öffentlichen Dienst anknüpft. So setzt der Sonderkündigungsschutz für die Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie zwar einerseits erst mit Vollendung des 53. Lebensjahr, andererseits aber bereits nach einer Beschäftigungsdauer von drei Jahren ein. Eine Befristungsdauer von drei Jahren wäre aber nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs gänzlich unproblematisch.

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Die Kammer kann sich aber nicht der Auffassung des Arbeitsgerichts anschließen, die Arbeitgeberin habe den durch die Vertragslaufzeit von mehr als 16 Jahren indizierten Rechtsmissbrauch entkräftet.

Bereits in seinen Ausgangsentscheidungen vom 18.07.2012 hat das Bundesarbeitsgericht ein dreistufiges System zur Bestimmung der Schwelle des institutionellen Rechtsmissbrauchs angelegt, das der 7. Landessozialgericht nunmehr mit Urteil vom 26.10.201616 weiter konkretisiert hat. Nach diesem sogenannten Ampelmodell ist auf der dritten Stufe ein Rechtsmissbrauch indiziert, wenn die in § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG genannten Grenzen alternativ oder kumulativ in besonders gravierendem Ausmaß überschritten werden. Von einem indizierten Rechtsmissbrauch ist in der Regel auszugehen, wenn durch die befristeten Verträge einer der Werte des § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG um mehr als das 5-fache überschritten wird oder beide Werte mehr als das jeweils 4-fache betragen. Dies bedeutet, dass ein Rechtsmissbrauch indiziert ist, wenn die Gesamtdauer des Arbeitsverhältnisses 10 Jahre überschreitet oder mehr als 15 Vertragsverlängerungen vereinbart wurden (1. Fallgruppe) oder wenn mehr als 12 Vertragsverlängerungen bei einer Gesamtdauer von mehr als 8 Jahren vorliegen (2. Fallgruppe). In einem solchen Fall hat der Arbeitgeber allerdings die Möglichkeit, die Annahme des indizierten Rechtsmissbrauchs durch den Vortrag besonderer Umstände zu entkräften.

Nach diesen Grundsätzen ist im Streitfall ein Rechtsmissbrauch indiziert. Nach einer Befristungsdauer von mehr als 16 Jahren befindet sich die vorliegende Befristungsabrede bildlich gesprochen im „tiefroten“ Bereich. Die Arbeitgeberin hat den indizierten Rechtsmissbrauch nicht widerlegt.

Die Arbeitgeberin hat sich insoweit erstinstanzlich auf das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 29.04.2015 berufen. Diesem Entscheidungsfall lag jedoch ein anderer Sachverhalt zugrunde. Der Sachverhalt zeichnete sich zwar wie der hiesige dadurch aus, dass der dortige Arbeitnehmer (als stellvertretender Küchenleiter) ausschließlich zur Vertretung der langjährig beurlaubten Stammkraft eingestellt worden war und diese unmittelbar vertrat. In dieser Besonderheit erschöpfte sich aber der Sachverhalt nicht. Es kam hinzu, dass die Arbeitgeberin nur eine Küche betrieb, in der sie 5, 2 Vollzeitkräfte beschäftigte. Sie verfügte insbesondere nicht über weitere Stellen für stellvertretende Küchenleiter. Damit hatte sie auch nicht die Möglichkeit, entweder den damaligen Arbeitnehmer oder die verhinderte Stammkraft auf eine andere Stelle zu versetzen. Nur unter diesen besonderen Umständen war das Bundesarbeitsgericht17 der Auffassung, dass die Arbeitgeberin bei einer Befristungsdauer von mehr als 15 Jahren den indizierten Rechtsmissbrauch widerlegt habe.

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Eine vergleichbare Besonderheit liegt im Streitfall gerade nicht vor. Zwar wurde die Arbeitnehmerin ausschließlich zur Vertretung von Frau K. eingestellt und vertrat diese unmittelbar. Anders im Entscheidungsfall vom 29.04.2015 verfügte und verfügt die Arbeitgeberin aber nicht nur über eine einzige Stelle als Reinigungskraft. Vielmehr waren und sind bei der Arbeitgeberin rund 40 Reinigungskräfte beschäftigt. Wie bei Reinigungsleistungen vielfach üblich, handelt es sich hierbei zwar nicht durchweg um Vollzeitbeschäftigte. Vielmehr richtet sich der Beschäftigungsumfang nach den Umständen des Einzelfalls, d.h. in der Regel nach dem Reinigungsbedarf an den Einsatzobjekten. Laut dem unbestrittenen Vorbringen der Arbeitgeberin in der Berufungsverhandlung ist die Arbeitnehmerin derzeit die einzige Vollzeitbeschäftigte; zwei weitere Reinigungskräfte besitzen 35-Stunden-Verträge.

Trotz dieser Sachlage hätte sich die Arbeitgeberin nach Auffassung der Kammer nach dem Bekanntwerden der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs vom 26.01.2012 und des Bundesarbeitsgerichts vom 18.07.2012 nicht damit begnügen dürfen, die Arbeitnehmerin auf der für die Reinigungsobjekte passenden Vollzeitbeschäftigung an den W- C-Anlagen „Marktplatz“ und „Kulturforum“ befristet weiter zu beschäftigen. Die Arbeitgeberin hätte prüfen müssen, ob sich ggf. durch ein „Zusammenbauen“ von freien Beschäftigungsumfängen an verschiedenen Reinigungsobjektiven die Möglichkeit einer Vollzeitbeschäftigung ergeben hätte. Selbst wenn dies nicht gelungen wäre, hätte die Arbeitgeberin nach Auffassung der Kammer zumindest ein unbefristetes Arbeitsverhältnis anbieten müssen, das soweit wie betrieblich vertretbar einem Vollzeitarbeitsverhältnis nahekommt. Es wäre sodann die Sache der Arbeitnehmerin gewesen zu entscheiden, ob sie einem befristeten Vollzeitarbeitsverhältnis oder einem unbefristeten Arbeitsverhältnis mit einem geringeren Beschäftigungsumfang den Vorzug gibt. Hätte die Arbeitnehmerin, vor diese Wahl gestellt, ein unbefristetes Arbeitsverhältnis mit einem geringeren Beschäftigungsumfang abgelehnt, so hätte dies als ein gegen einen Gestaltungsmissbrauch sprechender Gesichtspunkt gewertet werden können.

Nach Auffassung der Kammer war es nicht die Aufgabe der Arbeitnehmerin, von sich aus tätig zu werden und sich auf unbefristete ausgeschriebene Stellen für Reinigungskräfte zu bewerben. Da die Arbeitgeberin nach Bekanntwerden der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs vom 26.01.2012 und des Bundesarbeitsgerichts vom 18.07.2012 die Gefahr lief, sich nicht mehr auf den Sachgrund der Vertretung berufen zu können, lag die Initiativlast bei ihr. Dies folgt aus der dem Arbeitgeber auf der dritten Stufe des „Ampelmodells“ obliegenden Darlegungs- und Beweislast für die Entkräftung des institutionellen Rechtsmissbrauchs. Trifft den Arbeitgeber insoweit die Darlegungslast, so folgt hieraus zugleich die Verpflichtung, von sich aus tätig zu werden, wenn die Überschreitung der Schwelle des institutionellen Rechtsmissbrauchs droht und besondere Umstände im Sinne der Rechtsprechung nicht ersichtlich sind.

Aus dem von der Arbeitgeberin vorgelegten Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 09.01.201518 folgt nichts anders. Das Hessische Landesarbeitsgerichts hat eine Kongruenz zwischen Befristungsdauer und Vertretungsbedarf nicht genügen lassen, um bei einer zwölfjährigen Befristungsdauer einen institutionellen Rechtsmissbrauch zu verneinen. Wie aus den Ausführungen ab Rn. 79 hervorgeht, ist das Landesarbeitsgericht im Einzelnen der Frage nachgegangen, ob die Arbeitgeberin die Möglichkeit einer dauerhaften Einstellung hatte. Im Rahmen einer Würdigung des Einzelfalls ist das Landesarbeitsgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass im konkreten Fall keine solche Möglichkeit bestand.

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Wie die Sachlage im vorliegenden Fall war, kann die Kammer aufgrund des Vorbringens der Arbeitgeberin nicht prüfen. Der Schriftsatz der Arbeitgeberin vom 13.06.2017 enthält hierzu keinen verwertbaren Sachverhalt. Auch in der Berufungsverhandlung konnte sich die Kammer keine Gewissheit dazu verschaffen, wie es sich seit Bekanntwerden der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs vom 26.01.2012 und des Bundesarbeitsgerichts vom 18.07.2012 mit der Möglichkeit einer dauerhaften Beschäftigung verhielt.

Hat die Klage somit mit dem Befristungskontrollantrag Erfolg, so fällt auch der Weiterbeschäftigungsantrag zur Entscheidung an. Die Grundsätze des Beschlusses des Großen Landessozialgerichts des Bundesarbeitsgerichts vom 27.02.198519 über den Weiterbeschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers gelten entsprechend auch dann, wenn um die Wirksamkeit einer Befristung gestritten wird20. Nach Erlass des vorliegenden Urteils, das die Unwirksamkeit der Befristung feststellt, überwiegt das Beschäftigungsinteresse der Arbeitnehmerin. Entgegenstehende überwiegende Interessen der Arbeitgeberin sind nicht vorgetragen.

Landesarbeitsgericht Baden -Württemberg, Urteil vom 19. Juni 2017 – 1 Sa 7/17

  1. vgl. nur BAG 18.07.2012 – 7 AZR 783/10, Rn. 8[]
  2. zuletzt etwa BAG 26.10.2016 – 7 AZR 135/15, Rn 14; BAG 24.08.2016 – 7 AZR 41/15, Rn. 17[]
  3. BAG 24.08.2016 – 7 AZR 41/15, Rn 18; BAG 11.02.2015 – 7 AZR 113/13, Rn 16[]
  4. 7 AZR 783/10, Rn 15 und 7 AZR 443/09, Rn 21[]
  5. EuGH 26.01.2012 – C-586/10, Rn 43[]
  6. Küttner/Ruppelt Personalhandbuch 2015 Stichwort Erwerbsminderung Rn 22[]
  7. st. Rspr., vgl. nur BAG 29.04.2015 – 7 AZR 310/13, Rn 21[]
  8. BAG 20.02.2002 – 7 AZR 600/00, Rn 25[]
  9. beginnend mit BAG 18.07.2012 – 7 AZR 783/10 und 7 AZR 443/09 im Anschluss am EuGH 26.01.2012 – C-586/10 – [Kücük][]
  10. BAG 12.10.1960 – GS 1/59[]
  11. BAG 23.10.1991 – 7 AZR 56/91, Rn 35[]
  12. BAG 28.11.1963 – 2 AZR 140/63[]
  13. BAG 5.12 2012 – 7 AZR 698/11; BAG 25.06.2014 – 7 AZR 847/12[]
  14. vgl. auch APS-Backhaus 5. Aufl. § 14 TzBfG Rn. 62 ff; KR-Lipke 11. Aufl. § 14 TzBfG Rn. 71 ff[]
  15. BAG 19.02.2014 – 7 AZR 260/12, Rn 24; so schon BAG 12.05.1955 – 2 AZR 23/54[]
  16. 7 AZR 135/15, Rn 25 ff.[]
  17. BAG aaO Rn. 29[]
  18. Hess. LAG 09.01.2015 – 14 Sa 229/14[]
  19. BAG 27.02.1985 – GS 1/84[]
  20. BAG 13.06.1985 – 2 AZR 410/84[]