Verzugszinsen – und die tarifvertragliche Verfallklausel

Gesetzliche Zinsansprüche, die – wie hier – erst nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses entstanden sind, werden von der tariflichen Ausschlussfristenregelung nicht erfasst.

Verzugszinsen – und die tarifvertragliche Verfallklausel

Das ergibt für das Bundesarbeitsgericht deren Auslegung.

Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags (hier: des Manteltarifvertrags für die Arbeitnehmer in den thüringischen Betrieben des Groß- und Außenhandels vom 23.06.1997), die in der Revisionsinstanz der uneingeschränkten Überprüfung unterliegt, folgt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, ohne am Buchstaben zu haften. Dabei sind der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags, ggf. auch die praktische Tarifübung, ergänzend herangezogen werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt1.

In Anwendung dieser Grundsätze unterfallen in dem hier vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Streit um Verzugszinsen auf eine noch nicht gezahlte Abfindung die erst nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses des Arbeitnehmers entstandenen streitgegenständlichen Verzugszinsansprüche nicht der tariflichen Regelung in § 15 MTV.

Nach § 15 Ziff. 3 Satz 1 MTV erlöschen „die Ansprüche nach Ziff. 1 und 2“, wenn sie nicht innerhalb der darin festgesetzten Fristen schriftlich gegenüber dem anderen Vertragspartner erhoben werden. Die Regelung differenziert im Hinblick auf die Ansprüche nach § 15 Ziff. 2 MTV nicht danach, ob diese – wie die in § 15 Ziff. 2 Satz 1 und Satz 2 MTV aufgeführten Ansprüche – „geltend zu machen“ oder – wie die in § 15 Ziff. 2 Satz 3 MTV behandelten weiteren Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis – „anzuzeigen“ sind. Sie erfasst vielmehr mit dem Begriff „erheben“ die geltend zu machenden und die anzuzeigenden Ansprüche iSv. § 15 Ziff. 1 und Ziff. 2 MTV gleichermaßen.

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Zu den weiteren Ansprüchen aus dem Arbeitsverhältnis iSd. § 15 Ziff. 2 Satz 3 MTV zählen grundsätzlich auch gesetzliche Verzugszinsansprüche. Von dieser Bestimmung werden nämlich – über die in § 15 Ziff. 2 Satz 1 MTV geregelten tariflichen Ansprüche und den in § 15 Ziff. 2 Satz 2 MTV behandelten Urlaubsanspruch hinaus – alle gesetzlichen und vertraglichen Ansprüche erfasst, die die Arbeitsvertragsparteien aufgrund ihrer durch den Arbeitsvertrag begründeten Rechtsstellung gegeneinander haben. Dabei kommt es nicht auf die materiell-rechtliche Anspruchsgrundlage, sondern auf den Entstehungsbereich des Anspruchs an2.

§ 15 Ziff. 2 Satz 3 MTV verlangt die schriftliche Anzeige der „weiteren“ Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis spätestens binnen drei Monaten nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Diese tarifliche Bestimmung ist dahin auszulegen, dass sie Ansprüche, die erst nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig werden, von vornherein nicht erfasst.

§ 15 Ziff. 3 Satz 1 MTV ordnet iVm. § 15 Ziff. 1 und Ziff. 2 Satz 1 MTV für tarifvertraglich begründete Ansprüche an, dass diese innerhalb von drei Monaten nach Fälligkeit gegenüber dem anderen Vertragspartner geltend zu machen sind und andernfalls erlöschen. Dies soll erkennbar unabhängig davon gelten, ob die Fälligkeit der tarifvertraglich begründeten Ansprüche vor oder nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eintritt. Soweit demgegenüber die Regelung in § 15 Ziff. 2 Satz 3 MTV für „weitere Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis“ für den Fristbeginn an die Beendigung des Arbeitsverhältnisses anknüpft, wird hiermit einerseits zum Ausdruck gebracht, dass die Vertragspartner nach dem Willen der Tarifvertragsparteien nicht gehalten sein sollen, diese Ansprüche noch im laufenden Arbeitsverhältnis anzuzeigen. Den Vertragspartnern soll hierfür vielmehr ein längerer Zeitraum eingeräumt werden. Andererseits soll die Beendigung des Arbeitsverhältnisses erkennbar eine Zäsur dafür bilden, zeitnah auch andere Ansprüche als tarifliche zu klären und dem Vertragspartner durch Anzeige die Gelegenheit zu geben, sich auf noch offene Ansprüche einzustellen, Beweise zu sichern und ggf. Rücklagen zu bilden3. Dies kann nur dahin verstanden werden, dass von der Regelung in § 15 Ziff. 2 Satz 3 MTV nur die Ansprüche erfasst werden, die bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig geworden sind. Dafür, dass die Tarifvertragsparteien von der in § 15 Ziff. 2 Satz 3 MTV getroffenen Bestimmung auch Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis erfasst wissen wollten, die erst nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses und möglicherweise erst nach Ablauf der dreimonatigen Frist fällig und damit bezifferbar werden, spricht demgegenüber nichts. Auf solche Ansprüche könnte die Ausschlussfrist, die nach ihrem Wortlaut zum Erlöschen von Ansprüchen führt, die nicht „spätestens“ binnen der dreimonatigen Frist angezeigt worden sind, sinnvollerweise auch nicht angewendet werden4.

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§ 15 Ziff. 2 Satz 3 MTV kann auch nicht ergänzend dahin ausgelegt werden, dass die dort genannten weiteren Ansprüche – ebenso wie die tariflichen Ansprüche – binnen drei Monaten ab Fälligkeit geltend zu machen sind. Vorliegend ist keine unbewusste oder nachträglich entstandene Tariflücke zu erkennen.

Tarifvertragliche Regelungen sind einer ergänzenden Auslegung grundsätzlich nur dann zugänglich, wenn damit kein Eingriff in die durch Art. 9 Abs. 3 GGgeschützte Tarifautonomie verbunden ist. Voraussetzung für eine ergänzende Auslegung ist, dass entweder eine unbewusste Regelungslücke vorliegt oder eine Regelung nachträglich lückenhaft geworden ist5. Beides ist nicht der Fall. Die Tarifvertragsparteien haben vielmehr bewusst zwischen den Ansprüchen nach § 15 Ziff. 1 MTV und den übrigen Ansprüchen aus dem Tarifvertrag nach § 15 Ziff. 2 Satz 1 MTV auf der einen Seite, die allesamt binnen drei Monaten nach Fälligkeit geltend zu machen sind, und den weiteren Ansprüchen aus dem Arbeitsverhältnis nach § 15 Ziff. 2 Satz 3 MTV auf der anderen Seite, die spätestens drei Monate nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses anzuzeigen sind, unterschieden. Bei Letzteren haben sie bewusst nicht an die Fälligkeit, sondern an die Beendigung des Arbeitsverhältnisses angeknüpft. Da Ausschlussfristen wegen der Schwere der mit ihrer Versäumung verbundenen Folgen (Anspruchsverlust) grundsätzlich eng auszulegen sind6, und es deshalb einer klaren Erkennbarkeit des Willens der Tarifvertragsparteien bedarf, welche Ansprüche in die Ausschlussfrist einbezogen sein sollen und ggf. welchem Fristenregime sie unterliegen7, ist für eine ergänzende Auslegung von § 15 Ziff. 2 Satz 3 MTV dahin, dass die dort genannten weiteren Ansprüche, soweit sie nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig werden, ebenso wie die tariflichen Ansprüche binnen drei Monaten ab Fälligkeit geltend zu machen sind, kein Raum.

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Aus den Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts vom 17.10.19748; und vom 18.01.19699 folgt insoweit nichts Abweichendes. Zwar hat das Bundesarbeitsgericht in diesen Entscheidungen – andere Ausschlussfristenregelungen in Tarifverträgen des Groß- und Außenhandels betreffend – angenommen, dass die Ausschlussfristen für Ansprüche, die erst nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses entstünden oder beziffert werden können, erst zu laufen begönnen, wenn die Ansprüche fällig und bezifferbar geworden seien. Die in den vorgenannten Entscheidungen behandelten Ausschlussfristenregelungen stimmen jedoch nicht mit der in § 15 MTV getroffenen Regelung überein, sondern lauteten jeweils, dass im Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses „alle Ansprüche beider (Arbeits)Vertragsparteien“ binnen einer bestimmten Frist nach tatsächlicher Beendigung geltend zu machen waren10. Damit ließ sich ein Wille der Tarifvertragsparteien feststellen, eine allumfassende Regelung auch hinsichtlich der nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses entstehenden und/oder fällig werdenden Ansprüche zu treffen. Ein solcher Wille ist im Hinblick auf die in § 15 Ziff. 2 MTV getroffenen Regelungen indes nicht feststellbar. Im Übrigen haben die Tarifvertragsparteien des hier auszulegenden MTV nach Veröffentlichung der vorbezeichneten Entscheidungen keine Veranlassung gesehen, in Bezug auf Ansprüche, die erst nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig oder bezifferbar werden, eine konkrete Regelung zu treffen. Sie haben es vielmehr bei der Formulierung, wonach „weitere Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis … spätestens 3 Monate nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses schriftlich anzuzeigen“ sind, belassen, und eben nicht für „alle Ansprüche“ aus dem Arbeitsverhältnis im Hinblick auf den Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine einheitliche Fristenregelung getroffen.

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Danach sind die Zinsansprüche des Arbeitnehmers nicht in Anwendung der tariflichen Ausschlussfrist in § 15 Ziff. 3 iVm. Ziff. 2 Satz 3 MTV verfallen.

Die Arbeitgeberin konnte sich im hier entschiedenen Fall gegenüber den streitgegenständlichen Ansprüchen auch nicht auf einen Verfall des dem Zinsanspruch zugrundeliegenden Hauptanspruchs auf Zahlung der Abfindung berufen. Denn das Bundesarbeitsgericht hat aufgrund des insoweit rechtskräftigen Urteils des Arbeitsgerichts bei seiner Entscheidung über die vom Abfindungsanspruch abhängigen Zinsforderungen von Amts wegen zugrunde zu legen, dass der Hauptanspruch im Zeitpunkt der Verkündung des erstinstanzlichen Urteils (noch) bestand. Eine abweichende Entscheidung über die bindend entschiedene vorgreifliche Frage zum Bestehen des Abfindungsanspruchs ist ausgeschlossen11.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 14. Juni 2023 – 8 AZR 160/22

  1. st. Rspr., zB BAG 16.11.2022 – 10 AZR 210/19, Rn. 13; 13.10.2021 – 4 AZR 365/20, Rn. 21 mwN[]
  2. vgl. etwa BAG 31.01.2023 – 9 AZR 244/20, Rn. 64; 28.10.2021 – 8 AZR 371/20, Rn. 35; 26.11.2020 – 8 AZR 58/20, Rn. 59 mwN, BAGE 173, 67[]
  3. allgemein zum Zweck tariflicher Ausschlussfristen vgl. etwa: BAG 23.02.2022 – 4 AZR 354/21, Rn. 64; 11.04.2019 – 6 AZR 104/18, Rn. 32, BAGE 166, 285; 28.02.2018 – 4 AZR 816/16, Rn. 50 mwN, BAGE 162, 81[]
  4. vgl. BAG 4.09.1991 – 5 AZR 647/90, zu II 2 a der Gründe mwN[]
  5. BAG 23.04.2013 – 3 AZR 23/11, Rn. 29 mwN[]
  6. vgl. BAG 18.08.2011 – 8 AZR 187/10, Rn. 25; 4.04.2001 – 4 AZR 242/00, zu 3 c bb der Gründe[]
  7. vgl. BAG 4.09.1991 – 5 AZR 647/90, zu II 2 b der Gründe[]
  8. BA 17.10.1974 – 3 AZR 4/74, zu 2 a der Gründe[]
  9. BAG 18.01.1969 – 3 AZR 451/67, zu 3 und 4 der Gründe[]
  10. zu den Einzelheiten: vgl. BAG 17.10.1974 – 3 AZR 4/74 – aaO; 18.01.1969 – 3 AZR 451/67 – aaO[]
  11. zur präjudiziellen Wirkung einer rechtskräftigen Vorentscheidung vgl. BAG 23.03.2017 – 8 AZR 91/15, Rn. 14 mwN, BAGE 159, 1[]
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