Vorgezogenes Altersruhegeld – und das tarifliche Weihnachtsgeld

Die Tarifvertragsparteien können im Rahmen ihrer Tarifautonomie grundsätzlich frei bestimmen, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Jahressonderzahlung gewährt wird, ob sie einen bestimmten Stichtag festlegen und welche Tatbestände gegebenenfalls zu einer Kürzung führen1.

Vorgezogenes Altersruhegeld – und das tarifliche Weihnachtsgeld

So ergab sich in dem hier vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Fall zu dem zwischen dem Handwerksverband Metallbau und Feinwerktechnik Baden-Württemberg und der Industriegewerkschaft Metall; vom 24.01.2006 abgeschlossenen „Tarifvertrag über betriebliche Sonderzahlungen“ („TV Sonderzahlungen 2006“) der Anspruch des Arbeitnehmers nicht unmittelbar aus § 2.1 TV Sonderzahlungen 2006. Das Arbeitsverhältnis des Arbeitnehmers bestand zwar langjährig, es endete jedoch mit Ablauf des 31.07.2015 und damit vor dem Auszahlungstag, dem 1.12 2015 (§ 3.2 TV Sonderzahlungen 2006).

Der Anspruch ergibt sich hingegen aus § 2.6 Abs. 2 TV Sonderzahlungen 2006, einer Sonderregelung für Beschäftigte, die unter anderem zwecks Inanspruchnahme eines vorgezogenen Altersruhegeldes aus dem Beruf ausscheiden, auch wenn ihr Arbeitsverhältnis vor dem Auszahlungstag am 1.12 endet2. Dies ergibt eine Auslegung der tarifvertraglichen Vorschriften.

Der Wortlaut der Tarifregelung, von dem bei der Auslegung vorrangig auszugehen ist3, spricht eher gegen einen Anspruch. Er ist aber nicht, wie das Landesarbeitsgericht angenommen hat, eindeutig, sondern lässt eine andere Auslegung zu4. In der tarifvertraglichen Regelung werden die Begriffe „Anspruch“ und „anspruchsberechtigt“ nicht zwingend einheitlich verwendet. So haben zB Teilzeitbeschäftigte nach § 2.5 TV Sonderzahlungen 2006 „Anspruch“ auf eine Leistung, ohne dass dort weitere Anspruchsvoraussetzungen formuliert werden. Das soll jedoch offenkundig nicht bedeuten, dass Teilzeitbeschäftigte die in § 2.1 Abs. 1 TV Sonderzahlungen 2006 genannten Voraussetzungen nicht erfüllen müssen. Das Bundesarbeitsgericht hält nach erneuter Prüfung an seiner Begründung aus der Entscheidung vom 15.01.20145 fest, die eine gleichlautende Tarifregelung betraf. Danach kann der Regelungsgehalt der tarifvertraglichen Bestimmung nur unter Berücksichtigung von Systematik und Zweck bestimmt werden.

§ 2.6 Abs. 2 TV Sonderzahlungen 2006 betrifft Beschäftigte, deren Arbeitsverhältnis im Zusammenhang mit ihrem endgültigen Ausscheiden aus dem Berufs- oder Erwerbsleben endet. Trotz der systematischen Stellung dieser Norm als zweiter Absatz des § 2.6 handelt es sich vor allem um eine Sonderregelung zu § 2.1, nicht um eine Sonderregelung zu § 2.6 Abs. 1 TV Sonderzahlungen 20066. Die Norm betrifft in ihrem Schwerpunkt nicht die Folgen des Ruhens eines Arbeitsverhältnisses, sondern bestimmt in Abgrenzung zu § 2.1 Abs. 1 und Abs. 2 TV Sonderzahlungen 2006 die Folgen bestimmter besonderer Beendigungsformen. Den Beschäftigten, die wegen Erreichens der Altersgrenze, wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit oder zwecks Inanspruchnahme vorgezogenen Altersruhegeldes aus dem Beruf ausscheiden, wird ein voller Leistungsanspruch gewährt. Dem steht das Nichtbestehen des Arbeitsverhältnisses am Stichtag 1.12 des Jahres trotz der Verwendung des Wortes „Anspruchsberechtigte“ nicht entgegen. Dies ergibt sich vor allem aus Sinn und Zweck der Regelung. Im Übrigen hätte es für den Fall, dass § 2.6 Abs. 2 TV Sonderzahlungen 2006 „regelungstechnisch eine rechtserhaltende Einwendung“ zu § 2.1 Abs. 2 TV Sonderzahlungen 2006 wäre – wie es das Berufungsgericht annimmt – nähergelegen, eine solche Rückausnahme in § 2.1 TV Sonderzahlungen 2006 aufzunehmen.

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Der Grund, überhaupt eine Sonderregelung für Beschäftigte zu schaffen, die gleichzeitig mit dem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis aus dem Berufs- und Erwerbsleben ausscheiden, liegt vor allem darin, dass diese dem Betrieb in der Regel bereits lange Zeit angehört und damit in besonderer Weise Betriebstreue gezeigt haben7.

Dass die Tarifvertragsparteien der Betriebstreue erhebliche Bedeutung beigemessen haben, lässt die Staffelung der Höhe der Leistung nach § 2.2 TV Sonderzahlungen 2006 erkennen. Darüber hinaus spricht vieles dafür, dass auch der Übergang in die Lebensverhältnisse einer Rentnerin/eines Rentners, der typischerweise zu einer Einkommensminderung führt, erleichtert werden sollte8. Ein Stichtag am 1.12 des Jahres wäre mit diesen Regelungszwecken nicht vereinbar. Trotzdem bleibt ein Anwendungsbereich für den Begriff des „anspruchsberechtigten Beschäftigten“: Dieser muss dem Betrieb mindestens sechs Monate angehört haben, sodass in den (seltenen) Fällen eines kurzen Arbeitsverhältnisses vor einem Ausscheiden aus den in § 2.6 Abs. 2 TV Sonderzahlungen 2006 genannten Gründen kein Anspruch besteht. Das entspricht dem Zweck der Regelung.

Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts kann nicht angenommen werden, dass die Tarifvertragsparteien die Betriebstreue eines Beschäftigten allein mit der gestaffelten Höhe der Sonderzahlung in § 2.2 Abs. 1 TV Sonderzahlungen 2006 berücksichtigt wissen wollten. Den in § 2.6 Abs. 2 TV Sonderzahlungen 2006 geregelten Fällen eines endgültigen Ausscheidens aus dem Berufsleben liegt typischerweise eine längere Betriebszugehörigkeit zugrunde als der in § 2.2 Abs. 1 TV Sonderzahlungen 2006 genannte höchste Staffelwert von 36 Monaten. Ferner lässt das Berufungsgericht außer Acht, dass der Übergang des Arbeitnehmers in den Ruhestand regelmäßig mit einer Einkommensminderung verbunden ist. Das wird durch die Sonderzahlung im Jahr des Ausscheidens gemildert.

Zu einem Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, wie ihn das Landesarbeitsgericht andeutet, kommt es bei der vorstehenden Auslegung nicht. Vielmehr führte das Auslegungsergebnis des Landesarbeitsgerichts zu nicht nachvollziehbaren Differenzierungen. Danach hätte der Beschäftigte, dessen Arbeitsverhältnis das ganze Jahr ruht, aufgrund von § 2.6 Abs. 2 TV Sonderzahlungen 2006 Anspruch auf die Sonderzahlung in voller Höhe, wenn sein Arbeitsverhältnis aufgrund einer arbeitsvertraglichen Befristungsregelung mit Bezug auf die Regelaltersgrenze zum 31.12 endete. Würde der Arbeitnehmer dagegen bis zum 30.11.arbeiten und dann mit Erreichen des Rentenalters ausscheiden, hätte er nach dem Verständnis des Berufungsgerichts keinen Anspruch auf eine Sonderzahlung. Das Erreichen der Altersgrenze kann der Arbeitnehmer jedoch nicht beeinflussen.

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Für die Auslegung von § 2 TV Sonderzahlungen 2006, wie sie das Bundesarbeitsgericht vornimmt, spricht insbesondere der Umstand, dass es sonst beinahe keinen praktischen Anwendungsfall für die Regelung in § 2.6 Abs. 2 TV Sonderzahlungen 2006 gäbe9. Darauf weist auch das Berufungsgericht hin, beachtet aber nicht, dass im Zweifel diejenige Tarifauslegung vorzuziehen ist, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt10.

Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts lassen sich dem Änderungstarifvertrag vom 01.12 2015 schon deshalb keine Hinweise zum Verständnis des § 2.6 Abs. 2 TV Sonderzahlungen 2006 entnehmen, da es an einer vergleichbaren Sonderregelung für Beschäftigte, die aus einzelnen dort genannten Gründen endgültig aus dem Berufsleben ausscheiden, fehlt.

Dem Anspruch des Arbeitnehmers steht nicht entgegen, dass er zwecks Inanspruchnahme eines vorgezogenen Altersruhegeldes nicht aufgrund einer Kündigung aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden ist, wie es in § 2.6 Abs. 2 TV Sonderzahlungen 2006 geregelt ist, sondern aufgrund eines gerichtlichen Vergleichs.

Die Rente für besonders langjährig Versicherte nach den §§ 38, 236b SGB VI, wie sie der Arbeitnehmer in Anspruch genommen hat, ist vorgezogenes Altersruhegeld iSv. § 2.6 Abs. 2 TV Sonderzahlungen 2006. Unter diesen Begriff fallen nach dem allgemeinen Sprachgebrauch alle Altersrenten vor Erreichen der Regelaltersgrenze, auch wenn sie nicht vorzeitig in Anspruch genommen werden11.

Der Arbeitnehmer hat sein Arbeitsverhältnis zwecks Inanspruchnahme vorgezogenen Altersruhegeldes beendet. Dieser Zweck der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ist mangels anderweitiger Anhaltspunkte schon aufgrund des unmittelbaren zeitlichen Zusammenhangs mit dem Bezug der Altersrente zu vermuten. Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Vergleich vom 19.02.2015 erfolgte insbesondere nicht anlässlich eines Streits über die Wirksamkeit einer aus anderen Gründen erklärten Kündigung. Unabhängig davon hat das Arbeitsgericht tatbestandlich festgestellt, der E-Mail-Korrespondenz der Parteien sei zu entnehmen, dass der Arbeitnehmer die Aufhebungsvereinbarung geschlossen habe, um anschließend die vorgezogene Altersrente zu beziehen.

Zwar hat das Arbeitsverhältnis des Arbeitnehmers nicht aufgrund einer Kündigung geendet, wie es in § 2.6 Abs. 2 TV Sonderzahlungen 2006 formuliert ist, sondern aufgrund eines gerichtlichen Vergleichs der Parteien. Das ist für einen Anspruch des Arbeitnehmers aber unschädlich. § 2.6 Abs. 2 TV Sonderzahlungen 2006 enthält keine abschließende Aufzählung von Beendigungstatbeständen. Es muss nur ein kausaler Zusammenhang mit den aufgezählten Beendigungsgründen bestehen.

Die Tarifvertragsparteien haben in § 2.6 Abs. 2 TV Sonderzahlungen 2006 typische Beendigungstatbestände genannt. Bei Erreichen der (Regel-)Altersgrenze endet das Arbeitsverhältnis ohne Kündigung, soweit eine entsprechende tarifvertragliche Regelung oder arbeitsvertragliche Vereinbarung besteht (vgl. § 41 Satz 2 SGB VI), wie es § 4 Abs. 1 des Arbeitsvertrags der Parteien vorsieht. Auch der Bezug einer Erwerbsminderungsrente kann, wie tarifvertraglich beispielsweise in § 33 Abs. 2 TVöD-AT geregelt, zu der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses ohne Kündigung führen. Im Fall des Bezugs vorgezogener Altersrente bedarf es hingegen regelmäßig einer Kündigung zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses.

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Indem die Tarifvertragsparteien in § 2.6 Abs. 2 TV Sonderzahlungen 2006 typische Beendigungstatbestände wiedergeben, schließen sie nicht zugleich andere aus.

Tarifvertragsparteien wollen im Zweifel Regelungen treffen, die mit höherrangigem Recht in Einklang stehen und damit auch Bestand haben12.

Es wäre angesichts des Zwecks der tarifvertraglichen Regelung mangels sachlichen Grundes willkürlich, einen Arbeitnehmer, dessen Arbeitsvertrag keine Vereinbarung des Ausscheidens mit der Regelaltersgrenze enthält und deshalb eine Kündigung zum Ende des Berufslebens erforderlich macht, schlechterzustellen als einen Arbeitnehmer, der aufgrund einer solchen arbeitsvertraglichen Vereinbarung ohne Kündigung ausscheidet. Ebenso gäbe es keinen sachlichen Grund dafür, bei Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente allein Fälle der Kündigung erfassen zu wollen, nicht jedoch die einvernehmliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses. § 2.6 Abs. 2 TV Sonderzahlungen 2006 bezweckt, eine langjährige Betriebszugehörigkeit zu honorieren und den Übergang in den Ruhestand zu erleichtern. Vergütungscharakter hat die Sonderzahlung im Jahr der Beendigung der Berufstätigkeit nicht mehr. Weder die Arbeitsunfähigkeit noch das Ruhen des Arbeitsverhältnisses wirken sich auf die Höhe der Sonderzahlung aus13. Mit einer Kündigung als solcher statt einer Aufhebungsvereinbarung gehen keine wirtschaftlichen Nachteile einher, die ausgeglichen werden müssten. Das ist zB anders, wenn eine höhere Jahressondervergütung eine betriebsbedingte Kündigung voraussetzt, weil in einem dreiseitigen Vertrag mit Übergang in eine Transfergesellschaft keine vergleichbaren wirtschaftlichen Nachteile liegen14. Insbesondere kann nicht typisierend davon ausgegangen werden, dass anlässlich einer solchen Beendigungsvereinbarung Fragen der Sonderzahlung ohnehin mitgeregelt würden. Dies zeigt auch der zwischen den Parteien abgeschlossene Vergleich, in dem sie hinsichtlich der Sonderzahlung allein auf die tarifvertragliche Regelung Bezug nehmen.

Der Änderungstarifvertrag vom 01.12 2015 steht dem vom Arbeitnehmer geltend gemachten Anspruch nicht entgegen.

Allerdings gilt im Verhältnis zwischen zwei gleichrangigen Tarifnormen das Ablösungsprinzip15.

Danach löst ein neuer Tarifvertrag die alte Ordnung in dem von den Tarifvertragsparteien bestimmten Umfang ab. Tarifvertragliche Regelungen tragen somit während der Laufzeit des Tarifvertrags den immanenten Vorbehalt ihrer rückwirkenden Abänderbarkeit durch Tarifvertrag in sich16. Die Tarifvertragsparteien können grundsätzlich jederzeit einen von ihnen früher selbst vereinbarten Tarifvertrag abändern, einschränken oder aufheben.

Soweit Änderungen der Tarifnorm Sachverhalte berühren, die in der Vergangenheit liegen, haben die Tarifvertragsparteien allerdings die Grenzen für eine Rückwirkung einzuhalten, die auch vom Gesetzgeber zu beachten sind17. Die Gestaltungsfreiheit der Tarifvertragsparteien zur rückwirkenden Änderung tarifvertraglicher Regelungen ist durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes der Normunterworfenen begrenzt. Der Arbeitnehmer darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass die Tarifvertragsparteien einen einmal entstandenen Tarifanspruch nicht rückwirkend beseitigen. Dies gilt auch in den Fällen, in denen die Ansprüche noch nicht erfüllt oder noch nicht fällig sind18.

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Ob und unter welchen Voraussetzungen das Vertrauen eines Arbeitnehmers ausnahmsweise nicht schutzwürdig ist, ist eine Frage des Einzelfalls. Die Grundlage für schützenswertes Vertrauen besteht nicht mehr, wenn und sobald die Normunterworfenen mit einer Änderung rechnen müssen16. Dies setzt voraus, dass bereits vor der Entstehung des Anspruchs hinreichende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Tarifvertragsparteien den, zukünftigen – Anspruch zuungunsten der Arbeitnehmer ändern werden. Dabei hat der Wegfall des Vertrauensschutzes nicht zur Voraussetzung, dass der einzelne Tarifunterworfene positive Kenntnis von den maßgeblichen Umständen hat. Entscheidend und ausreichend ist die Kenntnis der betroffenen Kreise19.

Nach diesem Maßstab konnte der Änderungstarifvertrag vom 01.12 2015 den bereits mit Ausscheiden des Arbeitnehmers aus dem Arbeitsverhältnis am 31.07.2015 entstandenen, wenn auch noch nicht fälligen Anspruch auf eine betriebliche Sonderzahlung für das Jahr 2015 nicht wirksam einschränken oder aufheben.

Zugunsten der Arbeitgeberin kann unterstellt werden, dass der Änderungstarifvertrag auf den Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis bei seinem Abschluss bereits beendet war, grundsätzlich anwendbar ist.

Ob sich die Rückwirkung der Tarifnorm auch auf schon beendete Arbeitsverhältnisse erstrecken soll, ist mangels ausdrücklicher Regelung durch Auslegung zu ermitteln. Dabei ist im Zweifel anzunehmen, dass eine umfassende Rückwirkung vereinbart wurde. Für die gegenteilige Annahme bedürfte es eines Anknüpfungspunkts im Tarifvertrag20.

Hier haben die Tarifvertragsparteien den Änderungstarifvertrag vom 01.12 2015 im Unterschied zu dem Sanierungs-Tarifvertrag vom 14.10.2014 nicht rückwirkend für das ganze Jahr in Kraft gesetzt, sondern nur zum 1.11.2015. Ob daraus lediglich eine begrenzte Anwendbarkeit des Änderungstarifvertrags auf Arbeitsverhältnisse folgt, die am 1.11.2015 noch bestanden haben, bedarf keiner Entscheidung.

Erfasste der Änderungstarifvertrag auch das beendete Arbeitsverhältnis des Arbeitnehmers, wäre er wegen Verstoßes gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes unwirksam.

Würden auf den Arbeitnehmer die Regelungen des Änderungstarifvertrags vom 01.12 2015 angewandt, handelte es sich um eine sogenannte echte Rückwirkung. Mit Ausscheiden des langjährig beschäftigten Arbeitnehmers aus dem Arbeitsverhältnis am 31.07.2015 zwecks Inanspruchnahme vorgezogenen Altersruhegeldes waren alle Anspruchsvoraussetzungen des § 2.6 Abs. 2 iVm. § 2.1 TV Sonderzahlungen 2006 erfüllt. Damit war der Anspruch auf eine betriebliche Sonderzahlung für das Jahr 2015 entstanden. Er war nur noch nicht gemäß § 3.2 TV Sonderzahlungen 2006 zur Zahlung fällig. In diesen bereits entstandenen Anspruch griffe der Änderungstarifvertrag vom 01.12 2015 ein, da er ihn – mangels einer § 2.6 Abs. 2 TV Sonderzahlungen 2006 entsprechenden Regelung – insgesamt ausschlösse. Der Arbeitnehmer durfte aber grundsätzlich darauf vertrauen, dass sein bereits entstandener Anspruch erhalten bleibt.

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Das Vertrauen des Arbeitnehmers in den Fortbestand seines Anspruchs war schutzwürdig.

Auch wenn für das Jahr 2014 ein Sanierungs-Tarifvertrag bestand, musste der Arbeitnehmer nicht mit der Änderung der Sonderzahlung für das Jahr 2015 rechnen. Der Sanierungs-Tarifvertrag war bis zum 31.12 2014 befristet unter Ausschluss der Nachwirkung. Das Landesarbeitsgericht hat nicht festgestellt, dass im Zeitpunkt des Ausscheidens des Arbeitnehmers aus dem Arbeitsverhältnis bereits Verhandlungen über den Änderungstarifvertrag stattgefunden hatten. Die Arbeitgeberin hat auch nicht konkret vorgetragen, seit wann es bekannt war, dass sie sich in Verhandlungen zum Abschluss des Änderungstarifvertrags befand. Sie hat im Wesentlichen auf einen Aushang am Schwarzen Brett verwiesen. Das von der Arbeitgeberin vorgelegte Schreiben vom 29.06.2015, das hauptsächlich die Auszahlungszeitpunkte des zusätzlichen Urlaubsgeldes betrifft, besagt jedoch lediglich, dass es über die „Sonderzahlung Weihnachtsgeld […] erneut einen Gesprächstermin Mitte Oktober geben [wird]“. Inhaltlich besteht nur ein Bezug zu einer Betriebsvereinbarung vom selben Tag, die nach § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG nicht in tarifvertraglich geregelte Arbeitsbedingungen eingreifen kann. Das vom Geschäftsführer der Arbeitgeberin sowie dem Betriebsratsvorsitzenden unterzeichnete Schreiben enthält keine Hinweise auf die Tarifvertragsparteien oder den Inhalt des beabsichtigten Gesprächs. Daran lässt sich nicht erkennen, dass im Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses des Arbeitnehmers Verhandlungen der Tarifvertragsparteien geführt wurden, die zum Abschluss des Änderungstarifvertrags führten. Der Aushang deutet eher darauf hin, dass die Betriebsparteien nach § 3.1 TV Sonderzahlungen 2006 eine gesonderte Regelung (nur) zum Zeitpunkt der Auszahlung treffen wollten, wie sie es hinsichtlich des Urlaubsgeldes mit der Betriebsvereinbarung vom 29.06.2015 getan haben. Der Aushang gab umso weniger Anlass, an dem Anspruch auf eine Sonderzahlung für das Jahr 2015 zu zweifeln, als darin das Urlaubsgeld, das im Sanierungstarifvertrag 2014 noch auf einen geringen Pauschalbetrag herabgesetzt worden war, für das Jahr 2015 der Sache nach wieder in vollem Umfang – nur mit veränderten Auszahlungszeitpunkten – angekündigt wurde.

Der Vergleich der Parteien vom 19.02.2015 war nicht geeignet, ein Vertrauen des Arbeitnehmers betreffend seinen Anspruch auf eine Sonderzahlung für das Jahr 2015 zu erschüttern. Zwar wird dort der Sanierungs-Tarifvertrag für das Jahr 2014 erwähnt, der aber ohne Nachwirkung mit Ablauf des 31.12 2014 geendet hatte. Für das Jahr 2015 wird auf die für dieses Jahr geltenden Tarifbestimmungen hingewiesen und damit klargestellt, dass der Sanierungs-Tarifvertrag gerade nicht mehr maßgeblich ist.

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Der Anspruch des Arbeitnehmers auf die betriebliche Sonderzahlung beträgt ein halbes Monatsgehalt in Höhe von 1.731, 33 Euro brutto und ist hinsichtlich seiner Berechnung zwischen den Parteien unstreitig. Er ist mit Ablauf des Auszahlungstages 1.12 2015 zur Zahlung fällig geworden (vgl. § 3.2 Satz 1 TV Sonderzahlungen 2006). Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 31.07.2015 führt nicht zu einer früheren Fälligkeit21. Der Zinsanspruch ab 2.12 2015 folgt aus § 286 Abs. 2 Nr. 1, § 288 Abs. 1 BGB.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 6. Dezember 2017 – 10 AZR 575/16

  1. zu den Grenzen vgl. BAG 12.12 2012 – 10 AZR 718/11, Rn. 31 ff. mwN[]
  2. BAG 5.08.1992 – 10 AZR 208/91 – [zu einer gleichlautenden Tarifvorschrift für das metallverarbeitende Handwerk in Nordrhein-Westfalen]; 15.01.2014 – 10 AZR 297/13 – [zu einer gleichlautenden Tarifvorschrift für die Metall- und Elektroindustrie in Südbaden und Südwürttemberg-Hohenzollern][]
  3. st. Rspr., vgl. zB BAG 27.07.2011 – 10 AZR 484/10, Rn. 14[]
  4. vgl. BAG 15.01.2014 – 10 AZR 297/13, Rn. 14 ff.[]
  5. 10 AZR 297/13[]
  6. vgl. BAG 15.01.2014 – 10 AZR 297/13, Rn. 18[]
  7. BAG 15.01.2014 – 10 AZR 297/13, Rn.19; 5.08.1992 – 10 AZR 208/91, zu 2 b der Gründe[]
  8. vgl. BAG 12.05.2010 – 10 AZR 346/09, Rn. 24[]
  9. vgl. BAG 15.01.2014 – 10 AZR 297/13, Rn.20[]
  10. BAG 26.04.2017 – 10 AZR 589/15, Rn. 14[]
  11. vgl. BAG 30.03.2000 – 6 AZR 645/98, zu II 2 der Gründe; KR/Link 11. Aufl. SozR Rn. 90 ff.[]
  12. vgl. BAG 23.03.2017 – 6 AZR 161/16, Rn. 42; 15.12 2015 – 9 AZR 611/14, Rn. 26[]
  13. vgl. BAG 5.08.1992 – 10 AZR 208/91, zu 2 b der Gründe[]
  14. vgl. BAG 24.10.2007 – 10 AZR 878/06, Rn. 24[]
  15. vgl. hierzu und zum Folgenden BAG 21.09.2010 – 9 AZR 515/09, Rn. 45 ff. mwN[]
  16. BAG 24.10.2007 – 10 AZR 878/06, Rn. 18[][]
  17. BAG 6.06.2007 – 4 AZR 382/06, Rn.20[]
  18. vgl. BAG 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, Rn. 26 ff., BAGE 119, 374[]
  19. BAG 22.10.2003 – 10 AZR 152/03, zu II 3 a der Gründe, BAGE 108, 176[]
  20. BAG 24.10.2007 – 10 AZR 878/06, Rn. 22 mwN[]
  21. vgl. schon BAG 8.11.1978 – 5 AZR 358/77, zu 5 der Gründe; ErfK/Preis 18. Aufl. § 614 BGB Rn. 6 mwN[]