Widerruf oder Anfechtung?

Anfechtung einer Willenserklärung und Widerruf einer auf den Abschluss eines Vertrags gerichteten Willenserklärung sind unterschiedliche rechtsgestaltende Erklärungen, die unterschiedlichen Voraussetzungen unterliegen und unterschiedliche Rechtsfolgen nach sich ziehen.

Widerruf oder Anfechtung?
  • Die Anfechtung muss innerhalb der gesetzlichen Frist des § 121 bzw. § 124 BGB erfolgen. Sie bedarf eines Anfechtungsgrundes und führt gemäß § 142 Abs. 1 BGB zur Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts ex tunc.
  • Der Widerruf unterliegt anderen Fristen (hier: der Drei-Tage-Frist des § 11 Abs. 10 MTV). Er bedarf keines Grundes. Die Willenserklärung ist bis zum Ablauf der tariflich eröffneten „Bedenkzeit“ nicht endgültig wirksam, sofern nicht der tariflich ebenfalls mögliche Verzicht auf den Widerruf erklärt wird. Das Widerrufsrecht nach § 11 Abs. 10 MTV schiebt das endgültige Zustandekommen des Vertrags bis zum Ablauf der Bedenkzeit hinaus1. Wird der Widerruf nach § 11 Abs. 10 MTV fristgerecht ausgeübt, wird der Aufhebungsvertrag nicht wirksam.

Wegen dieser unterschiedlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen von Anfechtung und Widerruf genügt zur Ausübung des Widerrufs eine Erklärung, die lediglich erkennen lässt, dass der Erklärende an den Vertrag nicht mehr gebunden sein will, nicht2. Vielmehr muss die Erklärung hinreichend deutlich machen, dass der Vertrag gerade wegen des Widerrufs nicht gelten solle3.

Im vorliegend vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Fall lässt das Schreiben lediglich erkennen, dass der Aufhebungsvertrag wegen Sittenwidrigkeit und der erklärten Anfechtung nach § 123 BGB nichtig sein solle. Es setzt sich inhaltlich ausschließlich damit auseinander, dass die Drohung mit einer außerordentlichen Kündigung und einer Strafanzeige rechtswidrig gewesen sei. Daraus lässt sich nicht der erforderliche Wille entnehmen, Gebrauch von einem Widerrufsrecht zu machen. Das gilt umso mehr, weil der Kläger bei Abgabe der Anfechtungserklärung anwaltlich vertreten war2. Rechtskundige sind bei den von ihnen abgegebenen Erklärungen grundsätzlich beim Wort zu nehmen4. Als Rechtsfolge ist im letzten Absatz auf Seite 1 des Schreibens vom 28.12 2012 ausdrücklich angegeben, dass „die Willenserklärung von Anfang an nichtig“ und der „Aufhebungsvertrag rückwirkend unwirksam“ sei. An dieser allein auf eine Anfechtung sowie Sittenwidrigkeit des Vertrags zielenden Willensäußerung muss sich der Kläger festhalten lassen. Der erforderliche Widerrufswille fehlte auch deshalb, weil dem späteren Prozessbevollmächtigten des Klägers im Zeitpunkt der Erstellung des Schreibens vom 28.12 2012 das tarifliche Widerrufsrecht offensichtlich nicht bekannt war. Er hat es in der Klageschrift und im gesamten erstinstanzlichen Verfahren nicht angesprochen. Das Widerrufsrecht ist erstmals im Urteil des Arbeitsgerichts erwähnt und im Berufungsrechtszug vom Prozessbevollmächtigten des Klägers aufgegriffen worden.

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Sozialkassenverfahren des Baugewerbes - und die unwirksamen Allgemeinverbindlichkeitserklärungen

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 12. März 2015 – 6 AZR 82/14

  1. BAG 24.01.1985 – 2 AZR 317/84, zu I 1 der Gründe für die wortgleiche Vorgängervorschrift in § 9 Abs. 9 MTV[]
  2. vgl. BGH 19.01.1973 – V ZR 115/70, zu B 2 der Gründe[][]
  3. vgl. für den Widerruf nach § 178 BGB: BGH in st. Rspr. seit 22.06.1965 – V ZR 55/64, zu I b der Gründe; BAG 31.01.1996 – 2 AZR 91/95, zu II 1 der Gründe; für das Verhältnis von Widerruf nach dem HTürGG und nach § 178 BGB BGH 8.05.2006 – II ZR 123/05, Rn. 22[]
  4. vgl. BFH 14.06.2011 – V B 24/10, Rn. 14; für Prozesserklärungen: BAG 21.02.2013 – 6 AZR 524/11, Rn. 36, BAGE 144, 263; vgl. auch BVerfG 25.01.2014 – 1 BvR 1126/11, Rn. 26[]