Der Gehalts- und Lohntarifvertrags für den Einzelhandel in Niedersachsen vom 18.07.2019 (GLTV) gebietet vor der Eingruppierung eines Arbeitnehmers in eine bestimmte Gehalts- oder Lohngruppe nicht die Prüfung, ob jener der Gruppe der Angestellten oder der gewerblichen Arbeitnehmer zuzuordnen ist.

Das ergibt für das Bundesarbeitsgericht die Auslegung des Tarifvertrags1.
Die für die Eingruppierung maßgebenden tariflichen Regelungen sind im Manteltarifvertrag für den Einzelhandel in Niedersachsen vom 24.02.2014 (MTV) und im GLTV enthalten. Der GLTV unterscheidet seinem Wortlaut nach zwischen Gehaltsgruppen (§ 3 GLTV) und Lohngruppen (§ 5 GLTV). Er sieht aber nicht ausdrücklich vor, dass der betreffende Arbeitnehmer vor der Einreihung in eine Gehalts- oder Lohngruppe zunächst – in einem eigenen Prüfungsschritt – der Gruppe der Angestellten oder der gewerblichen Arbeitnehmer zuzuordnen wäre. Insoweit unterscheidet sich der GLTV von dem ERTV DB Services, der Gegenstand der vom Landesarbeitsgericht herangezogenen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts war2. Dieser regelte ausdrücklich ein „Entgeltgruppenverzeichnis … für angestellte Arbeitnehmer“ und ein weiteres „Entgeltgruppenverzeichnis für gewerbliche Arbeitnehmer …“.
Aus dem Umstand, dass die Arbeitnehmer in den Gehaltsgruppen (§ 3 GLTV) durchgehend als „Angestellte“ bezeichnet werden, ergibt sich entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts nicht, dass deshalb „zwischen Angestellten und gewerblichen Arbeitnehmern (= Arbeiter) zu unterscheiden ist“. Der GLTV sieht keine begriffliche Unterscheidung zwischen Angestellten auf der einen und gewerblichen Arbeitnehmern auf der anderen Seite vor. Während die Tarifvertragsparteien im Rahmen der Gehaltsgruppen (§ 3 GLTV) den Begriff der Angestellten verwendet haben, haben sie im Rahmen der Lohngruppen (§ 5 GLTV) nicht den der Arbeiter oder gewerblichen Arbeitnehmer gewählt, sondern die Beschäftigten dort – unspezifisch – als Arbeitnehmer (Lohngruppen I und III) oder Arbeitskräfte (Lohngruppe II) bezeichnet oder die konkrete Tätigkeit benannt (zB Kraftfahrer, Bedienungspersonal).
Dieses Verständnis wird durch die Tarifsystematik bestätigt. Eine Zuordnung der Arbeitnehmer zu den Gehaltsgruppen auf der einen oder den Lohngruppen auf der anderen Seite im Wege einer Vorabprüfung widerspräche der durch die Nennung von Tätigkeitsbeispielen getroffenen Wertung der Tarifvertragsparteien.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts sind die Erfordernisse eines Tätigkeitsmerkmals regelmäßig dann als erfüllt anzusehen, wenn der Arbeitnehmer eine dem in der Entgeltgruppe genannten Tätigkeits, Regel- oder Richtbeispiel entsprechende Tätigkeit ausübt3. Das beruht darauf, dass die Tarifvertragsparteien selbst im Rahmen ihrer rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten gewisse häufig vorkommende und typische Aufgaben einer bestimmten Entgeltgruppe fest zuordnen können. Haben die Tarifvertragsparteien Tätigkeits, Regel- oder Richtbeispiele festgelegt, ist ein Rückgriff auf die Obersätze nicht nur überflüssig, sondern unzulässig4.
Für den streitgegenständlichen Tarifvertrag bedeutet das, dass ein vom GLTV erfasster Arbeitnehmer, der beispielsweise überwiegend als „Auszeichner“ tätig ist, regelmäßig ohne weitere Prüfung des allgemeinen Tätigkeitsmerkmals nach Lohngruppe II Lohnstaffel a)) GLTV zu vergüten ist5. Eine gesonderte Prüfung, ob es sich bei dem Arbeitnehmer um einen Angestellten oder einen gewerblichen Arbeitnehmer handelt, ist nicht vorgesehen. Ebenso könnte ein Arbeitnehmer, der ua. eine Teiltätigkeit als „Kassierer … mit einfacher Tätigkeit“ ausübt, nicht mehr diesem Tätigkeitsbeispiel zugeordnet werden, wenn er im Rahmen einer vorgeschalteten Prüfung als gewerblicher Arbeitnehmer anzusehen wäre. Die sich aus der Festlegung von Tätigkeitsbeispielen ergebende Wertung der Tarifvertragsparteien würde umgangen, wenn nach außerhalb des Tarifvertrags liegenden Maßstäben vorab geprüft würde, ob ein Arbeitnehmer der Gruppe der Angestellten oder derjenigen der gewerblichen Arbeitnehmer zuzuordnen ist.
Auch bei der Prüfung der allgemeinen Tätigkeitsmerkmale bedarf es keines Rückgriffs auf den Status des Arbeitnehmers als Angestellter oder gewerblicher Arbeitnehmer. Soweit diese unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten, sind die Tätigkeitsbeispiele im Rahmen der Auslegung als Richtlinien für die Bewertung mit zu berücksichtigen6. Etwas anderes folgt auch nicht aus dem hinsichtlich der Tätigkeit nicht näher bestimmten allgemeinen Tätigkeitsmerkmal der Gehaltsgruppe I GLTV. Dieses enthält zwar keine Tätigkeitsbeispiele. Die dieser Gehaltsgruppe zuzuordnenden Tätigkeiten können aber gleichwohl ohne Heranziehung des Angestelltenbegriffs und unter Berücksichtigung der in § 3 Gehaltsgruppe I Abs. 2 GLTV vorgesehenen Höhergruppierung im Wege der Auslegung ermittelt werden, indem auf eine mögliche kaufmännische Prägung abgestellt oder eine Abgrenzung zu den in Gehaltsgruppe II und Lohngruppe I GLTV genannten Tätigkeitsmerkmalen vorgenommen wird.
Dass der GLTV keine „statusbezogene“ Unterscheidung von Angestellten und gewerblichen Arbeitnehmern vorsieht, sondern der Differenzierung zwischen Gehalts- und Lohngruppen lediglich eine – historisch bedingte – gliedernde oder typisierende Funktion zukommt, wird schließlich durch die Tarifgeschichte deutlich.
Bis zum Jahr 1979 wurden die Gehalts- und Lohntarifverträge für den Einzelhandel in Niedersachsen getrennt voneinander abgeschlossen. So wurde zuletzt mit Wirkung zum 1.05.1978 zwischen dem Einzelhandelsverband Niedersachsen e.V. auf der einen und der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) bzw. der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG) auf der anderen Seite ein Gehaltstarifvertrag abgeschlossen, der persönlich „für alle Angestellten …“ galt. Entsprechend sahen die Tätigkeitsmerkmale Tätigkeiten von „Angestellten“ vor. Zeitgleich wurde ein Lohntarifvertrag abgeschlossen. Er galt persönlich „für die in diesen Betrieben beschäftigten arbeiterrentenversicherungspflichtigen Arbeitnehmer einschließlich der Auszubildenden“. Hier wurden die Arbeitnehmer in den Tätigkeitsmerkmalen ganz überwiegend als „Arbeitskräfte“ bezeichnet. Mit Wirkung zum 1.05.1979 trat erstmals ein zwischen dem Einzelhandelsverband Niedersachsen e.V. auf der einen und den Gewerkschaften DAG und HBV auf der anderen Seite abgeschlossener gemeinsamer Gehalts- und Lohntarifvertrag in Kraft. Dieser galt nach seinem persönlichen Geltungsbereich „für alle Beschäftigten …“. Trotz der Vereinheitlichung des persönlichen Geltungsbereichs blieb die Aufteilung in Gehalts- und Lohngruppen aufrechterhalten. Im Rahmen der Gehaltsgruppen wurden die Beschäftigten weiterhin als „Angestellte“ bezeichnet, im Rahmen der Lohngruppen nunmehr überwiegend als „Arbeitnehmer“. Lediglich in der Lohngruppe II wurde der Begriff „Arbeitskräfte“ beibehalten.
Durch die Zusammenführung des Gehalts- und Lohntarifvertrags und die damit verbundene Vereinheitlichung des persönlichen Geltungsbereichs ohne Einführung weiterer Differenzierungskriterien für die Zuordnung zu den Gehalts- und Lohngruppen haben die Tarifvertragsparteien zum Ausdruck gebracht, dass künftig die bisherige über den jeweiligen Geltungsbereich vermittelte grundsätzlich notwendige Unterscheidung zwischen Angestellten und Arbeitern für die Eingruppierung nicht mehr erforderlich ist. Sie erfolgt lediglich anhand der von den Beschäftigten verrichteten Tätigkeit (§ 6 Abs. 2 MTV). Dem entspricht es auch, dass die Tarifvertragsparteien die Bezeichnung der „Arbeitskräfte“ im Rahmen der Lohngruppen überwiegend in den umfassenden Begriff der „Arbeitnehmer“, und nicht etwa in „gewerbliche Arbeitnehmer“, geändert haben. Nach dem ersatzlosen Entfall der spezifischen Geltungsbereichsregelung der vormaligen Tarifverträge handelt es sich bei dem im Rahmen der Gehaltsgruppen weiterhin verwendeten Begriff „Angestellte“ nur noch um einen historisch bedingten Rechtsbegriff, dem aber nicht mehr die Bedeutung als allgemeines Unterscheidungsmerkmal zukommt.
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 13. Mai 2020 – 4 ABR 29/19
- zu den Maßstäben der Tarifauslegung sh. zB BAG 20.06.2018 – 4 AZR 339/17, Rn.19[↩]
- BAG 25.08.2010 – 4 ABR 104/08, Rn. 14 mwN[↩]
- zuletzt zB BAG 13.11.2019 – 4 ABR 3/19, Rn. 5, 25 zum Gehaltstarifvertrag für den Einzelhandel in Nordrhein-Westfalen vom 29.08.2017[↩]
- BAG 12.06.2019 – 4 AZR 363/18, Rn. 17[↩]
- vgl. BAG 4.09.1996 – 4 AZR 135/95, zu II b der Gründe, BAGE 84, 97[↩]
- zuletzt BAG 13.11.2019 – 4 ABR 3/19, Rn. 25; 23.01.2019 – 4 ABR 56/17, Rn. 27 mwN[↩]