Zweistufige tarifliche Ausschlussfristen sind verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass mit Erhebung einer Bestandsschutzklage (Kündigungsschutzklage oder Befristungskontrollklage) die davon abhängigen Ansprüche wegen Annahmeverzugs im Sinne der tariflichen Ausschlussfrist gerichtlich geltend gemacht sind.

Mit einer Bestandsschutzklage wahrt der Arbeitnehmer, ohne dass es einer bezifferten Geltendmachung bedarf, die erste Stufe einer tariflichen Ausschlussfrist für alle vom Ausgang dieses Rechtsstreits abhängigen Ansprüche. Mit einer solchen Klage erstrebt der Arbeitnehmer nicht nur die Erhaltung seines Arbeitsplatzes, sondern bezweckt darüber hinaus, sich die Vergütungsansprüche wegen Annahmeverzugs zu erhalten. Die Ansprüche müssen weder ausdrücklich bezeichnet noch beziffert werden1.
Zugleich macht der Arbeitnehmer mit einer Bestandsschutzklage die vom Ausgang dieses Rechtsstreits abhängigen Ansprüche im Sinne der zweiten Stufe einer tarifvertraglich geregelten Ausschlussfrist „gerichtlich geltend“.
Nach bisheriger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts war für die Wahrung der zweiten Stufe einer tariflichen Ausschlussfrist regelmäßig die Erhebung einer bezifferten Klage erforderlich2. Die Frist für diese Klage wurde mit Zugang des Klageabweisungsantrags beim Arbeitnehmer in Gang gesetzt, ohne dass es einer ausdrücklichen Ablehnungserklärung bedurfte3.
An dieser Rechtsprechung kann nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Dezember 20104 nicht festgehalten werden. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass der Arbeitnehmer in seinem Grundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes verletzt werde, wenn das tarifliche Erfordernis einer gerichtlichen Geltendmachung von Ansprüchen, die vom Ausgang einer Bestandsstreitigkeit abhängen, nach den bisherigen Grundsätzen des Bundesarbeitsgerichts ausgelegt und angewandt werde. Dem Arbeitnehmer werde insoweit eine übersteigerte Obliegenheit zur gerichtlichen Geltendmachung seiner Ansprüche wegen Annahmeverzugs auferlegt. Die Art der Geltendmachung der Ansprüche auf Vergütung wegen Annahmeverzugs müsse dem Arbeitnehmer möglich und zumutbar sein. Das sei nicht der Fall, wenn er gezwungen werde, Ansprüche wegen Annahmeverzugs einzuklagen, bevor die Bestandsstreitigkeit rechtskräftig abgeschlossen sei. Damit erhöhe sich sein Kostenrisiko im Rechtsstreit über den Bestand des Arbeitsverhältnisses.
Tarifvertragliche Ausschlussfristen, die eine rechtzeitige gerichtliche Geltendmachung vorsehen, sind verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass die vom Erfolg einer Bestandsschutzstreitigkeit abhängigen Ansprüche bereits mit der Klage in der Bestandsstreitigkeit gerichtlich geltend gemacht sind.
Die verfassungskonforme Auslegung von Rechtsnormen gebietet, die Wertentscheidungen der Verfassung zu beachten und die Grundrechte der Beteiligten möglichst weitgehend in praktischer Konkordanz zur Geltung zu bringen5. Ist eine Norm verfassungskonform auslegbar, ist für die Annahme ihrer Unwirksamkeit mit ggf. nachfolgender ergänzender Tarifauslegung kein Raum mehr.
Die durch eine undifferenzierte tarifliche Regelung veranlasste verfassungswidrige Obliegenheit zur gerichtlichen Geltendmachung der Ansprüche wegen Annahmeverzugs wird vermieden, wenn in der Erhebung der Kündigungsschutz- oder Befristungskontrollklage die gerichtliche Geltendmachung der vom Ausgang dieser Bestandsschutzstreitigkeit abhängigen Ansprüche liegt.
Der Wortlaut des Tarifvertrags steht dieser verfassungskonformen Auslegung nicht entgegen. Bereits zur Auslegung der zweiten Stufe einer in Allgemeinen Geschäftsbedingungen geregelten Ausschlussfrist6 hat das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass der Wortsinn eines „Einklagens“ bzw. einer „gerichtlichen Geltendmachung“ der vom Ausgang der Bestandsschutzstreitigkeit abhängigen Ansprüche nicht zwingend verlange, dass gerade der Streitgegenstand „Vergütung“ zum Inhalt des arbeitsgerichtlichen Verfahrens gemacht werden müsse7. Eine an einen engen prozessualen Begriff des Streitgegenstands anknüpfende weitere Klage verlange eine solche Klausel nicht. Hinzu kommt, dass bei der verfassungskonformen Auslegung dem Wortsinn nur eine eingrenzende Funktion zukommt. Der Umstand, dass die Tarifvertragsparteien die Formulierung in Kenntnis der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts verwandt haben, steht der nunmehr verfassungsrechtlich gebotenen Neuinterpretation nicht entgegen.
Die verfassungskonforme Auslegung des Merkmals „gerichtliche Geltendmachung“ berücksichtigt in angemessener Weise den Zweck einer zweistufigen Ausschlussfrist. Ausschlussfristen bezwecken, dem Schuldner zeitnah Gewissheit darüber zu verschaffen, mit welchen Ansprüchen er noch zu rechnen hat. Zulasten des Arbeitnehmers wirkende Ausschlussfristen sollen den Arbeitgeber vor der Verfolgung unzumutbarer Ansprüche bewahren, das sind regelmäßig solche, mit deren Geltendmachung er nicht rechnet und auch nicht zu rechnen braucht8. Erhebt der Arbeitnehmer Bestandsschutzklage, kann der Arbeitgeber an der Ernstlichkeit der Geltendmachung der hiervon abhängigen Vergütungsansprüche nicht wirklich zweifeln. Schon mit der Erhebung einer Bestandsschutzklage kann sich der Arbeitgeber auf die vom Ausgang dieser Streitigkeit abhängigen Forderungen einstellen, Beweise sichern und vorsorglich Rücklagen bilden. Ihm muss bewusst sein, dass ggf. auch über die Höhe der zu zahlenden Vergütung noch Streit entstehen kann und nicht selten auch entsteht. Dass die Ansprüche nicht in einer den Anforderungen des § 253 Abs. 2 ZPO entsprechenden Bestimmtheit geltend gemacht werden, ist – wie bei der Wahrung der ersten Stufe der Ausschlussfrist für Ansprüche, die vom Ausgang der Bestandsschutzstreitigkeit abhängen – aus verfassungsrechtlichen Gründen hinzunehmen. Überdies ist zu berücksichtigen, dass durch den Zwang zur vorzeitigen Erhebung der Klage auch der Arbeitgeber unnötigen Kostenrisiken ausgesetzt würde.
Um den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu entsprechen, ist nicht auf eine Kostenbelastung des Arbeitnehmers im Einzelfall abzustellen. Maßgeblich ist nicht der Umfang der wirtschaftlichen Belastung, die den Arbeitnehmer durch den Rechtsstreit trifft, sondern der Gesichtspunkt der Risikoerweiterung. Kann der Arbeitnehmer nicht das Obsiegen in der Bestandsschutzstreitigkeit abwarten, wird ihm ein prozessuales Risiko aufgebürdet, das die Durchsetzung des gesetzlichen Bestandschutzes beeinträchtigen kann. Die Frage der Wirksamkeit und der Einhaltung der tariflichen Ausschlussfrist von einer einzelfallbezogenen Prüfung der Kostenbelastung abhängig zu machen, führte zudem zu größter Rechtsunsicherheit. Es kann deshalb nicht darauf ankommen, ob der Arbeitnehmer rechtsschutzversichert ist, Prozesskostenhilfe beanspruchen kann, ob er die – im Misserfolgsfall – unnötigen Kosten der Zahlungsklage aus eigenen Mitteln unproblematisch aufbringen oder sie durch eine strategisch günstige Antragstellung vermeiden könnte. Das Kostenrecht gilt für alle Parteien gleichermaßen, seine gesetzlichen Wertungen sind zwingend. Das erfordert zugunsten des durchschnittlich kundigen Arbeitnehmers als Tarifnormunterworfenen, der mit den Möglichkeiten einer kostengünstigen Prozessführung nicht vertraut ist, eine einheitliche Auslegung des Tarifvertrags.
Durch die verfassungskonforme Auslegung bleibt das tarifliche Erfordernis der gerichtlichen Geltendmachung von Ansprüchen, die nicht vom Ausgang einer Bestandsschutzstreitigkeit abhängig sind, erhalten. Im Übrigen wird die Entstehung einer Regelungslücke vermieden, die erst zu einer ergänzenden Auslegung berechtigen würde. Denn Voraussetzung einer ergänzenden Auslegung ist, dass entweder eine unbewusste Regelungslücke vorliegt oder nachträglich eine Regelung lückenhaft geworden ist. Hieran fehlt es bei verfassungskonformer Auslegung des Tarifvertrags.
Einer Anrufung des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts gemäß § 45 ArbGG bedarf es nicht, denn alle Senate des Bundesarbeitsgerichts sind gehindert, die frühere Auslegung zweistufiger tariflicher Ausschlussfristen aufrechtzuerhalten. Die Rechtsfrage, welche Anforderungen an die Wahrung der zweiten Stufe einer tariflichen Ausschlussfrist für Ansprüche, die vom Ausgang einer Bestandschutzstreitigkeit abhängen, zu stellen sind, ist wegen des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 01.12.20104 neu zu beantworten. Schon im Hinblick auf § 31 BVerfGG entfällt die Vorlagepflicht, wenn das Bundesverfassungsgericht die entscheidungserhebliche Rechtsfrage abweichend von der bisherigen Rechtsprechung selbst entschieden hat9. Nichts anderes gilt, wenn es den Fachgerichten aufgegeben hat, einen bestimmten rechtlichen Komplex insgesamt anhand der von ihm entwickelten Maßstäbe neu zu gestalten10. Die rechtliche Grundlage der früheren Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts ist durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 01.12.201011 entfallen. Deshalb fehlt es an der für eine Anrufung des Großen Senats erforderlichen Identität der Rechtslage12.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19. September 2012 – 5 AZR 628/11
- für die Kündigungsschutzklage ständige Rechtsprechung seit BAG 10.04.1963 – 4 AZR 95/62, BAGE 14, 156[↩]
- BAG 3.11.1961 – 1 AZR 302/60 – SAE 1962, 155; 26.04.2006 – 5 AZR 403/05, Rn.20, BAGE 118, 60; 17.11.2009 – 9 AZR 745/08 -[↩]
- BAG 17.11.2009 – 9 AZR 745/08, Rn. 36; 26.04.2006 – 5 AZR 403/05, Rn. 18, aaO[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 01.12.2010 – 1 BvR 1682/07, AP TVG § 4 Ausschlussfristen Nr.196 = EzA TVG § 4 Ausschlussfristen Nr.197[↩][↩]
- BVerfG 21.12.2010 – 1 BvR 2760/08, Rn. 16, GRUR 2011, 223; 15.10.1996 – 1 BvL 44/92, 1 BvL 48/92 – BVerfGE 95, 64; 30.03.1993 – 1 BvR 1045/89, 1 BvR 1381/90, 1 BvL 11/90 – BVerfGE 88, 145; BAG 6.04.2011 – 7 AZR 716/09, Rn. 27 f., AP TzBfG § 14 Nr. 82 = EzA TzBfG § 14 Nr. 77; Voßkuhle AöR 125, 177[↩]
- vgl. BAG 19.05.2010 – 5 AZR 253/09, Rn. 31, AP BGB § 310 Nr. 13 = EzA BGB 2002 § 310 Nr. 10; 19.03.2008 – 5 AZR 429/07, Rn. 22, BAGE 126, 198[↩]
- vgl. BAG 19.05.2010 – 5 AZR 253/09, Rn. 31, aaO; 19.03.2008 – 5 AZR 429/07, Rn. 22, aaO[↩]
- so schon RG 27.02.1940 – RAG 162/39, ARS Bd. 38 S. 355[↩]
- vgl. BGH 21.03.2000 – 4 StR 287/99 – zu II 2 b aa der Gründe, BGHSt 46, 17; 26.01.1977 – 3 StR 527/76 – NJW 1977, 686; 17.03.2011 – IX ZR 63/10, Rn. 30, BGHZ 189, 1[↩]
- BGH 21.03.2000 – 4 StR 287/99 – zu II 2 b aa der Gründe, aaO; 5.08.1998 – 5 AR (VS) 1/97 – BGHSt 44, 171[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 01.12.2010 – 1 BvR 1682/07, aaO[↩]
- vgl. BAG 28.06.2012 – 6 AZR 780/10, Rn. 81, NZA 2012, 1029[↩]