Ausländische Staatsangehörge, die in Deutschland kein Aufenthaltsrecht haben, sind nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII von bestimmten existenzsichernden Sozialleistungen ausgeschlossen. Das Bundesverfassungsgericht hat jetzt eine Richtervorlage des Sozialgerichts Darmstadt1 als unzulässig zurückgewiesen, in der das Sozialgericht diese Bestimmung des SGB XII mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums für unvereinbar hält, soweit Unionsbürger vollständig von existenzsichernden Leistungen ausgeschlossen seien, bei denen das Nichtbestehen der Freizügigkeit zwar festgestellt, diese Feststellung aber noch nicht in Bestandskraft erwachsen sei.

Dem zugrunde liegt der Fall einer rumänischen Familie, die beim Sozialgericht Darmstadt im Wege des Eilrechtsschutzes die Bewilligung von Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII begehrte. Die Ausländerbehörde hatte den Verlust des Freizügigkeitsrechts gemäß § 5 Abs. 4 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern und die daraus folgende Ausreisepflicht festgestellt. Über die hiergegen gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht noch nicht entschieden.
Die im Wege der konkreten Normenkontrolle erfolgte Vorlage des Sozialgerichts Darmstadt beurteilte das Bundesverfassungsgericht nun als unzulässig: Ihre Begründung entspreche nicht den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes. Die Vorlage übergehe mehrere Fragen zur Verfassungswidrigkeit und zur Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Norm, die für die verfassungsrechtliche Prüfung unverzichtbar seien und ohne deren Klärung das Bundesverfassungsgericht in diesem Verfahren nicht entscheiden könne. Das Sozialgericht legt nicht hinreichend dar, dass das geltende Recht in der hier konkret zu entscheidenden Situation nicht so hätte ausgelegt werden können, dass die Leistung vor Bestandskraft der Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit nicht ausgeschlossen ist.
Das Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG betrifft den Ausschluss von Ausländern ohne Aufenthaltsrecht von Leistungen der Sozialhilfe gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII.
Im Rahmen eines fachgerichtlichen Eilverfahrens ist eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG nur ausnahmsweise zulässig2. Es kann dabei für das Bundesverfassungsgericht dahinstehen, ob dies hier der Fall ist. Die Vorlage entspricht jedenfalls nicht den Anforderungen an die Begründung aus § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG.
Dem Begründungserfordernis des § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG genügt ein Vorlagebeschluss nur, wenn die Ausführungen des Gerichts erkennen lassen, dass es sowohl die Entscheidungserheblichkeit der Vorschrift als auch ihre Verfassungsmäßigkeit sorgfältig geprüft hat3. Das Gericht muss sich dabei eingehend mit der Rechtslage auseinandersetzen und die in Literatur und Rechtsprechung entwickelten Rechtsauffassungen berücksichtigen, die für die Auslegung der vorgelegten Rechtsvorschrift von Bedeutung sind4. Richten sich die Bedenken gegen eine Vorschrift, von deren Anwendung die Entscheidung nicht allein abhängt, müssen die weiteren mit ihr im Zusammenhang stehenden Bestimmungen in die rechtlichen Erwägungen einbezogen werden, soweit dies zum Verständnis der zur Prüfung gestellten Norm oder zur Darlegung ihrer Entscheidungserheblichkeit erforderlich ist5.
Das vorlegende Gericht muss zudem von der Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Norm überzeugt sein und die dafür maßgeblichen Erwägungen nachvollziehbar und erschöpfend darlegen6. Es muss den verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab angeben, die naheliegenden tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte erörtern, sich eingehend mit der Rechtslage auseinandersetzen und die in Literatur und Rechtsprechung entwickelten Rechtsauffassungen berücksichtigen7. Dazu gehört die Erörterung der in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenen Auffassungen zu denkbaren Auslegungsmöglichkeiten8, insbesondere auch der verfassungskonformen Auslegung. Das vorlegende Gericht muss diese prüfen und vertretbar begründen, weshalb sie ausgeschlossen sein soll9. Es muss erkennbar sein, dass das vorlegende Gericht alle Möglichkeiten einer Problemlösung durch Auslegung des einfachen Rechts erwogen hat10.
Dem genügen die Darlegungen des Sozialgerichts hier nicht. Die Vorlage übergeht mehrere Fragen zur Verfassungswidrigkeit und zur Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Norm, die für die verfassungsrechtliche Prüfung unverzichtbar sind und ohne deren Klärung das Bundesverfassungsgericht in diesem Verfahren nicht entscheiden kann. Das vorlegende Gericht macht geltend, § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII sei verfassungswidrig, soweit Unionsbürger vollständig von existenzsichernden Leistungen ausgeschlossen seien, bei denen das Nichtbestehen der Freizügigkeit zwar festgestellt, diese Feststellung aber noch nicht in Bestandskraft erwachsen ist. Das Sozialgericht legt jedoch nicht hinreichend dar, dass das geltende Recht in der hier konkret zu entscheidenden Situation einer Auslegung entgegensteht, nach der vor Bestandskraft der Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit die Leistung nicht ausgeschlossen ist.
§ 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII knüpft nicht ausdrücklich an die Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit, sondern nur an das Nichtbestehen eines Aufenthaltsrechts an. Ist schon nicht vom Nichtbestehen der Freizügigkeit die Rede, lässt der Wortlaut der Regelung für sich genommen erst recht nicht darauf schließen, dass der Leistungsausschluss vor Bestandskraft der Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit gelten soll. Sollte diese dem Wortlaut nicht ohne Weiteres zu entnehmende Auslegung durch das Fachrecht dennoch vorgegeben sein, hätte das Sozialgericht dies dem Bundesverfassungsgericht im Einzelnen darlegen müssen. Dies ist nicht geschehen.
Formal betrachtet begründet das vorlegende Gericht nicht, dass die Antragsteller kein Aufenthaltsrecht im Sinne des § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII haben. Es stellt lediglich fest, die Antragsteller verfügten, „wie bereits in Teil 1 II. 2. f)) dargelegt“, über kein Aufenthaltsrecht. Dieser Verweis lässt sich nicht nachvollziehen, weil ein entsprechender Gliederungspunkt nicht existiert.
In der Sache verweist das vorlegende Gericht wohl auf seine voranstehenden Ausführungen zu § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2a SGB II, der dem hier zur Prüfung gestellten § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII weitgehend gleicht.
Zu § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2a SGB II führt das Gericht aus, dass mit der Verlustfeststellung (gemeint ist die Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts gemäß § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU) alle Aufenthaltsrechte, die gegebenenfalls entstanden waren, entfallen seien und dass auch kein neues materielles Freizügigkeitsrecht entstanden sei. Hier hätte das Sozialgericht wenigstens darlegen müssen, wodurch es zwingend daran gehindert ist, zugunsten der Antragsteller deren Klage gegen die Verlustfeststellung zu berücksichtigen, erblickt das vorlegende Gericht doch gerade hierin den Verfassungsverstoß. Zur Bedeutung fehlender Bestandskraft der Verlustfeststellung finden sich hier keine Ausführungen.
Überlegungen, die die Relevanz fehlender Bestandskraft betreffen könnten, finden sich allerdings im Rahmen der Ausführungen zur Rückausnahme nach § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II, die dann wohl auf die Parallelregelung in einem Folgesatz zu dem allein zur Überprüfung vorgelegten § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII zu übertragen wären. Zu diesem § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II heißt es im Vorlagebeschluss: „Allein der Erlass der Feststellung und die bislang fehlende Aufhebung der Verlustfeststellung sperren den Leistungsanspruch. Auf die Vollziehbarkeit oder Erledigung auf andere Weise für die Zukunft kommt es nicht an (…). Schon die Verlustfeststellung wirkt der Verfestigung des Aufenthalts entgegen bzw. der Aufenthalt kann nicht mehr als verfestigt im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 4, 1. Halbsatz SGB II angesehen werden (…). Da die Verlustfeststellung trotz der Klageerhebung wirksam ist, entfaltet sie Tatbestandswirkung und bindet Sozialleistungsbehörden und Sozialgerichte.“ Ungeachtet der Frage, ob diese Ausführungen für sich genommen ausreichend wären, ist es in einem Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, anhand der Erläuterungen des vorlegenden Gerichts zu anderen Regelungen eigenständig die komplexe fachrechtliche Interpretation der eigentlich zur Prüfung gestellten Regelung zu erarbeiten. Das gilt erst recht, wenn die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wie hier, unter Zeitdruck zu treffen ist, weil den Antragstellern derzeit ? nicht zuletzt wegen Verneinung eines Härtefalls ? existenzsichernde Leistungen verwehrt werden.
Das vorlegende Gericht macht indessen schon nicht hinreichend deutlich, warum es trotz der Klage gegen die Verlustfeststellung zwingend an der Anwendung der Rückausnahme nach § 23 Abs. 3 Satz 7 SGB XII gehindert ist. Zu § 23 Abs. 3 Satz 7 SGB XII konstatiert das vorlegende Gericht lediglich, ein solcher Anspruch bestehe wegen der Feststellung des Verlusts der Freizügigkeit nicht. Es verweist dabei auf die Regelung in § 7 Abs. 1 Satz 4 2. Halbsatz SGB II und „Teil 1 II. 2. a))“ seiner Ausführungen. Auch dieser Verweis lässt sich nicht nachvollziehen, weil ein entsprechender Gliederungspunkt nicht existiert. Das vorlegende Gericht dürfte sich auf seine vorangehenden Ausführungen in Teil 1 II. 1. beziehen. Es legt aber auch in diesem Zusammenhang nicht hinreichend dar, inwiefern es an einer Auslegung des einfachen Rechts gehindert wäre, nach der eine Verlustfeststellung (§ 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU) der Rückausnahme nach § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II beziehungsweise § 23 Abs. 3 Satz 7 SBG XII bei Erfüllung der Fünfjahresfrist jedenfalls dann nicht entgegensteht, wenn die Verlustfeststellung nicht bestandskräftig ist. Das Gericht stellt lediglich fest, dass sich im Gesetzestext (wohl des § 7 SGB II) kein Anhaltspunkt dafür finde, dass nur die vollziehbare Verlustfeststellung die Rückausnahme des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II sperre und dass § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II auf der Annahme eines verfestigten Inlandsaufenthaltes beruhe, eine solche Verfestigung aber bereits mit Erlass der Verlustfeststellung verhindert werde. Zur Begründung seiner Annahme der Verfassungswidrigkeit hätte das Gericht aber vielmehr gerade umgekehrt darlegen müssen, was einer Gesetzesauslegung zwingend entgegensteht, nach der eine Verlustfeststellung die Rückausnahme des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II nicht sperrt, solange diese Verlustfeststellung nicht bestandskräftig ist. Soweit das vorlegende Gericht sich an einer solchen Auslegung durch die von ihm angenommene, auch die Sozialgerichte bindende Tatbestandswirkung des Verwaltungsaktes über die Verlustfeststellung gehindert sehen sollte, genügen angesichts davon abweichender Rechtsprechung mehrerer Landessozialgerichte11 die Ausführungen im Vorlagebeschluss nicht, um tragfähig zu belegen, dass § 23 Abs. 3 Satz 7 SGB XII bereits bei nicht bestandskräftiger Verlustfeststellung unanwendbar ist.
Es kann danach offenbleiben, ob das vorlegende Gericht hinreichend deutlich gemacht hat, warum es an der Anwendung der Härtefallklausel des § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII gehindert ist. Es begründet, weshalb es die Aus- legung des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg12, im Fall fehlender vollziehbarer Ausreisepflicht generell von einem Härtefall auszugehen, als unzulässige Auslegung ablehnt. Ob es darüber hinaus hätte darlegen müssen, inwiefern nicht im Einzelfall konkrete Bindungen an das Bundesgebiet ? im Fall der hier antragstellenden Mutter etwa wegen ihres schwerbehinderten Sohnes, der in Deutschland in einer Werkstatt für behinderte Menschen betreut wird ? angesichts fehlender Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht die Annahme einer besonderen Härte rechtfertigen können, bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 26. Februar 2020 – 1 BvL 1/20
- SG Darmstadt, Beschluss vom 14.01.2020 – S 17 SO 191/19 ER[↩]
- vgl. BVerfGE 46, 43, 51; 63, 131, 141; BVerfG, Beschluss vom 19.07.1996 – 1 BvL 39/95[↩]
- vgl. BVerfGE 127, 335, 355 f. m.w.N.[↩]
- vgl. BVerfGE 65, 308, 316; 94, 315, 323; 97, 49, 60; 105, 61, 67; 121, 233, 237 f.[↩]
- BVerfGE 131, 1, 15[↩]
- vgl. BVerfGE 78, 165, 171 f.; 86, 71, 77 f.; 88, 70, 74; 88, 198, 201; 93, 121, 132[↩]
- vgl. BVerfGE 76, 100, 104; 79, 240, 243 f.; 85, 329, 333; 86, 52, 57; 86, 71, 77 f.; 88, 187, 194; 88, 198, 202; 94, 315, 325[↩]
- vgl. BVerfGE 85, 329, 333; 97, 49, 60; 105, 61, 67[↩]
- vgl. BVerfGE 85, 329, 333; 121, 108, 117[↩]
- vgl. BVerfGE 127, 335, 359 f.; 131, 88, 117 f.[↩]
- vgl. nur LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28.05.2019 – L 8 SO 109/19 B ER, Rn. 9 m.w.N.[↩]
- LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11.07.2019 – L 15 SO 181/18; beim BSG anhängiges Revisionsverfahren – B 8 SO 7/19 R[↩]