Das Schleswig-Holsteinische Landesverfassungsgericht hat soeben entschieden, dass die Wahl zum 17. Schleswig-Holsteinischen Landtag vom 27. September 2009 in Anwendung eines verfassungswidrigen Wahlgesetzes durchgeführt wurde:

§ 1 Absatz 1 Satz 2 und Absatz 2, § 3 Absatz 5 und § 16 des Wahlgesetzes für den Landtag von Schleswig-Holstein1 verletzen in ihrem Zusammenspiel Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 10 Absatz 2 der Landesverfassung. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, spätestens bis zum 31. Mai 2011 eine mit der Landesverfassung übereinstimmende Rechtslage herbeizuführen. Spätestens bis zum 30. September 2012 ist eine Neuwahl herbeizuführen.
Das jüngste Landesverfassungsgericht der Bundesrepublik – es ist erst zum 1. Mai 2008 errichtet worden – hat damit einen Paukenschlag gesetzt, der verwundert. Die Regelung des Landeswahlgesetzes zu den Überhangmandaten und den Ausgleichsmandaten ist verfassungswidrig – diese Entscheidung war nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu dem bei Bundestagswahlen möglichen „negativen Stimmgewicht“2 zu erwarten. Aber welche Schlussfolgerungen sind hieraus zu ziehen? Eigentlich sind bei der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen zwei Lösungen denkbar: Das Gesetz wird vom Verfassungsgericht entweder für verfassungswidrig und nichtig erklärt oder aber das Verfassungsgerichts erklärt das Gesetz zwar als verfassungswidrig, läßt es aber (notfalls mit einer Übergangsregelung) in Kraft und gibt dem Gesetzgeber die Neuregelung binnen einer bestimmten Frist auf. Ähnliches müsste eigentlich auch für Wahlen gelten: Entweder die Wahl ist verfassungswidrig und nichtig, so dass sofort neu gewählt werden muss – diesen Weg ging das Hamburgische Verfassungsgericht in seinem Urteil vom 4. Mai 1993 zur Hamburger Bürgerschaftswahl 1991 – oder aber die Wahl ist trotzdem wirksam und das Verfassungsgericht gibt dem Gesetzgeber nur eine verfassungskonforme Neuregelung des Wahlgesetzes für die nächste anstehende Wahl auf – diesen Weg ging z.B. das Bundesverfassungsgericht zuletzt bei seinem Urteil vom 3. Juli 2008 zum „negativen Stimmgewicht“.
Zu beiden Alternativen mochte sich das Schleswig-Holsteinische Landesverfassungsgericht nicht durchringen, stattdessen verkürzte das Landesverfassungsgericht die Legislaturperiode auf etwas mehr als die Hälfte. Bis Mai 2012 ist die Verfassungswidrigkeit also nicht so schlimm, danach dann aber nicht mehr hinnehmbar. Eine schwer nachvollziehbare Entscheidung.
Aber der Reihe nach:
Für die Schaffung einer mit der Landesverfassung übereinstimmenden Rechtslage hat das Schleswig-Holsteinische Landesverfassungsgericht der Hamburgischen Bürgerschaft eine Frist bis spätestens zum 31. Mai 2011 gesetzt. Im Anschluss daran sind in Anwendung des dann verfassungskonformen Wahlgesetzes spätestens bis zum 30. September 2012 Neuwahlen zur Bürgerschaft herbeizuführen. Die damit einhergehende Verkürzung der Legislaturperiode sei geboten, um den Bestand des auf verfassungswidriger Grundlage gewählten Landtags nicht länger als erforderlich andauern zu lassen.
Nach dem im Wahlprüfungsverfahren angegriffenen Ergebnis der Landtagswahl vom 27. September 2009 hatte die CDU über die Erststimmen 34 von 40 Wahlkreise und damit elf Sitze mehr gewonnen, als ihr nach dem Zweitstimmenanteil zugestanden hätten (Überhangmandate). Die daraufhin zum Zwecke des Ausgleichs vergebenen 22 weiteren Sitze führten zu einer Vergrößerung des Landtags von 69 auf schließlich 95 Abgeordnete, reichten aber dennoch nicht aus, um sämtliche Überhangmandate durch den verhältnismäßigen Sitzanteil zu decken. Die zulasten der anderen Parteien vorgenommene Begrenzung des Sitzausgleichs beruht auf § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG und war wesentlicher Kritikpunkt sowohl der Wahlprüfungsbeschwerden als auch des gleichzeitig entschiedenen abstrakten Normenkontrollverfahrens. Bei einem vollen Ausgleich der Überhangmandate wäre es zu anderen Mehrheiten im Landtag gekommen, die jetzt regierende schwarz-gelbe Koalition hätte dann ohne Mehrheit verloren. Das Dilemma war schließlich erst dadurch entstanden, dass die CDU bei der letzten Landtagswahl 34 von insgesamt 40 Wahlkreise gewonnen hatte, was ihr elf Überhangmandate einbrachte, von denen im Endergebnis drei nicht durch Ausgleichsmandate „neutralisiert“ wurden.
Die durch die Landeswahlleiterin und den Landtag vorgenommene Auslegung und Anwendung des § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG hat das Landesverfassungsgericht als rechtmäßig erachtet, eine verfassungskonforme Auslegung dieser Vorschrift zu den Ausgleichsmandaten also ausgeschlossen.
Im Übrigen hat es seine Entscheidung vor allem an den Vorgaben des Art. 10 Absatz 2 LV ausgerichtet. Die Vorschrift setzt zunächst die regelmäßige Zahl der Abgeordneten auf 69 fest und verpflichtet den Gesetzgeber, ein Wahlrecht zu schaffen, das eine Erhöhung der Abgeordnetenzahl durch Überhang- und Ausgleichsmandate so weit wie möglich verhindert. Des Weiteren wird das Wahlsystem zum Schleswig-Holsteinischen Landtag in Art. 10 Abs. 2 LV als personalisierte Verhältniswahl ausgestaltet. Der für dieses Wahlsystem geltende Grundsatz der Wahlgleichheit des Art. 3 Abs. 1 LV wird noch durch das Gebot verstärkt, dass im Falle des Entstehens von Überhangmandaten Ausgleichsmandate vorzusehen sind.
Von diesem Prüfungsmaßstab ausgehend hat das Gericht all diejenigen Vorschriften in den verfassungsrechtlichen Fokus gestellt, die in ihrem Zusammenspiel zu einer übermäßigen Zahl von Überhang- und Ausgleichsmandaten führen und gleichzeitig das Risiko des Entstehens ungedeckter Mehrsitze (Überhangmandate) erhöhen. Hierzu zählen die Regelungen über die Bildung, die Größe und Anzahl der Wahlkreise, die Bestimmung des Zweistimmenwahlrechts und die Regelung über den Mehrsitzausgleich (§ 1 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2, § 3 Abs. 5 und § 16 LWahlG). Durch das Zusammenspiel dieser Normen werden sowohl die Vorgabe, die Regelgröße von 69 Abgeordneten möglichst nicht zu überschreiten, als auch der Grundsatz der Wahlgleichheit verfehlt.
Das Gericht hat deshalb die Unvereinbarkeit der genannten Normen mit der Landesverfassung festgestellt und dem Gesetzgeber eine zeitnahe Neufassung des Wahlrechts aufgegeben. Bis zur geforderten Neufassung dürfen die genannten Normen des Landeswahlgesetzes in ihrer Gesamtheit nicht mehr angewendet werden. Eine Neuwahl soll erst nach Änderung des Gesetzes und – annehmbar – Neuschneidung der Wahlkreise erfolgen. So wird sichergestellt, dass die nächste Wahl auf verfassungskonformer Grundlage erfolgt. Bis zu diesem Zeitpunkt behält der Landtag seine volle Handlungs- und Arbeitsfähigkeit.
Zurück zu dem erst ab Mai 2012 verfassungswidrigen Parlament:
Ein festgestellter mandatsrelevanter Wahlfehler führt, so das Schleswig-Holsteinische Landesverfassungsgerichts, nicht sogleich zur Ungültigkeit der gesamten Wahl, sondern – soweit möglich – im Sinne des „Verbesserungsprinzips“ zur Berichtigung, allerdings nur insoweit, wie der Wahlfehler (räumlich) wirksam geworden ist3. Um die demokratische Legitimation des Parlaments und derjenigen Verfassungsorgane, die ihre demokratische Legitimation vom Parlament ableiten, möglichst zu erhalten, gilt das „Gebot des geringstmöglichen Eingriffs“4. Eine Ungültigerklärung der gesamten Wahl hätte eine umgehende Delegitimierung zur Folge und müsste nach dem Gesetz zu einer Wiederholungswahl spätestens sechs Wochen nach rechtskräftiger Feststellung der Ungültigkeit führen (§ 46 Abs. 6 LWahlG). Sie käme aus Verhältnismäßigkeitsgründen nur in Frage, soweit der Fehler nicht mit einer Nachzählung und / oder Berichtigung zu beheben ist. Zudem müsste sich der damit verbundene Eingriff in die Zusammensetzung der gewählten Volksvertretung für die Zeit von regulär fünf Jahren vor dem Interesse am Erhalt dieser Volksvertretung rechtfertigen lassen. Sie setzt deshalb – in den Worten des Bundesverfassungsgerichts für das Bundeswahlrecht – einen erheblichen Wahlfehler von solchem Gewicht voraus, dass ein Fortbestand der in dieser Weise gewählten Volksvertretung unerträglich schiene. Hierzu hat gegebenenfalls eine Folgenabwägung stattzufinden5. Im Übrigen erfolgt eine Ungültigkeitserklärung aus den oben genannten Gründen stets nur ex nunc6.
Für die grundsätzlich vorrangige und die demokratische Legitimation des Parlaments erhaltende Fehlerkorrektur durch Feststellung eines abweichenden Wahlergebnisses gemäß § 47 Abs. 3 LWahlG ist angesichts der miteinander verwobenen und nur in ihrer Gesamtheit bestehenden schwerwiegenden Wahlfehler trotz des Gebots des geringstmöglichen Eingriffs kein Raum. Das Zusammenwirken der Regelungen in § 1 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2, § 3 Abs. 5 und § 16 LWahlG führt zu einer so erheblichen und komplexen Fehlerhaftigkeit der Wahl, dass ihr insgesamt die verfassungsmäßige Grundlage entzogen ist. Denn das Entstehen von elf Mehrsitzen (Überhangmandaten) mit der Folge, dass der Landtag nun aus 95 Abgeordneten besteht, verfehlt die in der Verfassung verbindlich vorgegebene Größe von 69 Abgeordneten in nicht mehr hinnehmbaren Ausmaß und führt zugleich durch die Begrenzung des Mehrsitzausgleichs zu einer Beeinträchtigung des Grundsatzes der Wahlgleichheit, weil sie den Wählerwillen in einer nicht zu rechtfertigenden Weise verzerrt. Die einzelnen Wahlfehler lassen sich nicht trennen und isoliert korrigieren, denn sie bedingen und intensivieren sich in ihrem Zusammenwirken gegenseitig.
Aber auch die Anordnung einer binnen sechs Wochen abzuhaltenden Wiederholungswahl nach § 46 Abs. 3, Abs. 5 Satz 2 und Abs. 6 LWahlG kommt im Ergebnis nicht in Betracht, da dies nicht dem Umstand Rechnung tragen würde, dass die von § 46 LWahlG vorausgesetzte Unregelmäßigkeit der Wahl hier nicht auf der fehlerhaften Anwendung der Wahlvorschriften, sondern darauf beruht, dass die zu korrigierende „Unregelmäßigkeit“ in der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes selbst liegt. Allerdings sind die in der Summe festzustellenden Wahlfehler so weitgehend und so gewichtig, dass sie eine Wiederholungswahl auch unter Berücksichtigung der genannten Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkte nach gebotener Folgenabwägung rechtfertigen würden. Denn der Fortbestand des in verfassungswidriger Weise zusammengesetzten Landtages für die Dauer von weiteren vier Jahren ist gegenüber dem hohen Verfassungsgut seiner richtigen Zusammensetzung nicht zu rechtfertigen. Der Landtag stellt das zentrale Organ der demokratischen Grundordnung dar, von dem alle andere staatliche Gewalt seine demokratische Legitimation ableitet. Über die Wahl des Landtages bekundet das Volk seinen Willen und übt die letztlich von ihm ausgehende Staatsgewalt aus (Art. 2 Abs. 1 und 2 LV).
Die Besonderheit, dass der Wahlfehler auf der Verfassungswidrigkeit von Normen des Landeswahlgesetzes beruht, erfordert daher zugleich eine abweichende Regelung, die das Wahlergebnis für eine Übergangszeit als weiterhin gültig anerkennt und damit dem Landtag einen vorübergehenden Bestandsschutz zugesteht. Denn zunächst muss das Landeswahlgesetz so geändert werden, dass der nächste Landtag auf der Grundlage eines verfassungskonformen Landeswahlgesetzes gewählt werden kann7. Angesichts der verschiedenen Möglichkeiten, eine verfassungskonforme Gesetzeslage herbeizuführen, ist es vorrangig Aufgabe des Gesetzgebers, also des Landtages, die dafür notwenigen Änderungen zu beschließen. Die in § 46 Abs. 6 LWahlG vorgesehene Frist von maximal sechs Wochen ist auf einen solchen Fall nicht zugeschnitten. Sie geht davon aus, dass nur die (gesetzmäßige) Durchführung der Wahl zu wiederholen ist, nicht aber, dass zuvor das der Wahl zugrunde liegende Gesetz zu ändern ist. Für die Durchführung einer Wahl auf der Grundlage eines geänderten Gesetzes bedarf es eines deutlich längeren Zeitraums, damit der Landtag zunächst ein verfassungsmäßiges Wahlrecht schafft. Während dieses Zeitraums bleiben die Abgeordneten im Amt und der Landtag behält seine volle Handlungs- und Arbeitsfähigkeit, denn bis zur Neuregelung und Durchführung der gebotenen Neuwahl verbleibt es bei dem festgestellten Wahlergebnis.
Als gegenüber der eigentlich gebotenen Ungültigkeitserklärung mit anschließender Wiederholungswahl geringerer Eingriff in den Bestand des Landtages ist die Legislaturperiode deshalb auf den 30. September 2012 mit der Auflage zu beschränken, unverzüglich ein verfassungskonformes Landeswahlgesetz zu verabschieden. Diese Frist ist notwendig, aber auch ausreichend, um den Landtag in die Lage zu versetzen, das Landeswahlgesetz zu ändern und die für die Vorbereitung einer Neuwahl erforderlichen Maßnahmen zu treffen.
Mit anderen Worten: Für die radikale (und ehrliche) Lösung sofortiger Neuwahlen fehlte der Mut der seinerzeitigen Hamburger Verfassungsrichter, für die Beschränkung auf die Verfassungswidrigerklärung der entsprechenden Vorschrift des Landeswahlgesetz fehlte die die beharrliche Gelassenheit der Karlsruher Verfassungsrichter.
Schleswig-Holsteinisches Landesverfassungsgericht, Urteile vom 30. August 2010 – LVerfG 1/108 und LVerfG 3/099
- in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. Oktober 1991, Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 442, berichtigt Seite 637, zuletzt geändert durch Gesetz vom 30. März 2010, Gesetz- und Verordnungsblatt
Seite 392[↩] - BVerfG, Urteil vom 03.07.2008 – 2 BvC 1/07, 2 BvC 7/07[↩]
- ebenso: Schl.-Holst. OVG, Urteile vom 24.06.1993 – 2 K 4/93, SchlHA 1993, 194 ff. = NVwZ 1994, 179 ff.; und vom 30.09.1997 – 2 K 9/97, NordÖR 1998, 70 ff.[↩]
- vgl. BVerfG, Urteil vom 03.07.2008 – 2 BvC 1/07 u.a., BVerfGE 121, 266 ff.[↩]
- vgl. BVerfG, Urteile vom 03.07.2008, a.a.O.; und vom 08.02.2001 – 2 BvF 1/00, BVerfGE 103, 111 ff. m.w.N.; stRspr.; vgl. auch HbgVerfG, Urteil vom 04.05.1993 – 3/92, NVwZ 1993, 1083 ff. = DVBl.1993, 1070 ff.[↩]
- vgl. BVerfG, Urteil vom 03.07.2008 a.a.O.; Kretschmer, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann/ Hopfauf , Kommentar zum Grundgesetz, 11. Aufl. 2008, Art. 41 Rn. 19, 21[↩]
- vgl. BVerfG, Urteil vom 03.07.2008, a.a.O.[↩]
- Wahlprüfungsverfahren[↩]
- abstraktes Normenkontrollverfahren[↩]