Ein Unionsbürger, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Aufnahmemitgliedstaat begründet hat, kann nicht deshalb während der ersten drei Monate seines Aufenthalts vom Bezug von Kindergeld ausgeschlossen werden, weil er keine Einkünfte aus einer Erwerbstätigkeit in diesem Mitgliedstaat bezieht. Sofern er sich rechtmäßig aufhält, genießt er grundsätzlich Gleichbehandlung mit den inländischen Staatsangehörigen.

Dem hier vom Gerichtshof der Europäischen Union entschiedenen Vorabentscheidungsersuchen lag ein Fall der Familienkasse Niedersachsen-Bremen zugrunde: Eine aus einem anderen Mitgliedstaat als Deutschland stammende Unionsbürgerin klagt vor den Finanzgericht Bremen gegen die Ablehnung ihres Kindergeldantrags für ihre drei Kinder durch die Familienkasse Niedersachsen-Bremen der Bundesagentur für Arbeit für die ersten drei Monate nach Begründung ihres Aufenthalts in Deutschland. Die Familienkasse war der Auffassung, dass die Antragstellerin nicht die im Juli 2019 in Deutschland eingeführten Voraussetzungen erfülle, um als Unionsbürgerin Kindergeld während der ersten drei Monate beanspruchen zu können, weil sie in dieser Zeit keine „inländischen Einkünfte“ bezogen habe. Mit diesem Erfordernis zielte der deutsche Gesetzgeber darauf ab, einen Zustrom von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten zu vermeiden, der zu einer unangemessenen Inanspruchnahme des deutschen Systems der sozialen Sicherheit führen könne. Dieses Erfordernis gilt dagegen nicht für deutsche Staatsangehörige, die von einem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat zurückkehren. Das Finanzgericht Bremen hat daraufhin dem Gerichtshof der Europäischen Union die Rechtsfrage zur Vorabesntscheidung vorgelegt, ob diese unterschiedliche Behandlung mit dem Unionsrecht vereinbar ist.
Im Wege eines solches Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der EU-Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Europäischen Union vorlegen. Der Unionsgerichtshof entscheidet dabei nur über die vorgelegte Rechtsfrage, nicht hingegen über den nationalen Rechtsstreit. Es ist und bleibt vielmehr Sache der nationalen Gerichte, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Unionsgerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Unionsgerichtshofs bindet in gleicher Weise aquch andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Finanzgericht Bremen im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 24 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der einem Unionsbürger, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats begründet hat und der wirtschaftlich nicht aktiv ist, weil er in diesem Staat keine Erwerbstätigkeit ausübt, die Gewährung von „Familienleistungen“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. j in Verbindung mit Art. 1 Buchst. z der Verordnung Nr. 883/2004 in den ersten drei Monaten seines Aufenthalts im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats verweigert wird, während einem wirtschaftlich nicht aktiven Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats, nachdem dieser gemäß dem Unionsrecht von seinem Recht Gebrauch gemacht hat, sich in einem anderen Mitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, diese Leistungen auch in den ersten drei Monaten nach seiner Rückkehr in diesen Mitgliedstaat gewährt werden.
Erstens ist nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Unionsbürgerstatus dazu bestimmt, der grundlegende Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten zu sein, der es denjenigen unter ihnen, die sich in der gleichen Situation befinden, erlaubt, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unbeschadet der insoweit ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen1.
Jeder Unionsbürger kann sich daher in allen Situationen, die in den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, auf das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Art. 18 AEUV berufen, das in anderen Bestimmungen des AEU-Vertrags, in Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 und in Art. 24 der Richtlinie 2004/38 konkretisiert wird. Diese Situationen umfassen u. a. die Ausübung des von Art. 21 AEUV gewährten Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, vorbehaltlich der Beschränkungen und Bedingungen, die in den Verträgen und in den zu ihrer Durchführung erlassenen Maßnahmen festgelegt sind2.
Die Richtlinie 2004/38 stellt solche Beschränkungen und Bedingungen auf. Diese Richtlinie hat hinsichtlich des Aufenthaltsrechts im Aufnahmemitgliedstaat ein abgestuftes System vorgesehen, das unter Übernahme im Wesentlichen der Stufen und Bedingungen, die in den vor dem Erlass dieser Richtlinie bestehenden einzelnen Instrumenten des Unionsrechts vorgesehen waren, sowie der zuvor ergangenen Rechtsprechung im Recht auf Daueraufenthalt mündet3.
Was die ersten drei Monate des Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat betrifft, die allein Gegenstand der Vorlagefrage sind, sieht Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie vor, dass ein Unionsbürger das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten hat, wobei er lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen braucht. Nach Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie besteht dieses Recht für den Unionsbürger und seine Familienangehörigen fort, solange sie die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen4.
Folglich verfügt ein Unionsbürger, auch wenn er wirtschaftlich nicht aktiv ist, unter Beachtung der in Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 in Verbindung mit deren Art. 14 Abs. 1 genannten Voraussetzungen über ein Recht auf Aufenthalt von drei Monaten in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt. Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass sich die Mutter in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts in Deutschland gemäß Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 rechtmäßig dort aufhielt.
Zweitens geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass der Ausgangsrechtsstreit die Gewährung von Kindergeld durch den Aufnahmemitgliedstaat gemäß den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats betrifft. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass als „Familienleistungen“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. j in Verbindung mit Art. 1 Buchst. z der Verordnung Nr. 883/2004 Leistungen anzusehen sind, die unabhängig von einer auf Ermessensausübung beruhenden Einzelfallbeurteilung der persönlichen Bedürftigkeit ohne Weiteres solchen Familien gewährt werden, die bestimmte objektive Kriterien insbesondere hinsichtlich ihrer Größe, ihres Einkommens und ihrer Kapitalrücklagen erfüllen, und die dem Ausgleich von Familienlasten dienen5.
Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht auch hervor, dass dies bei dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kindergeld der Fall ist, da dieses seinen Empfängern aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands gewährt wird, der unabhängig von ihrer persönlichen Bedürftigkeit ist, und seine Gewährung nicht auf ihre Existenzsicherung abzielt, sondern auf den Ausgleich von Familienlasten.
Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung Nr. 883/2004 eine „Kollisionsnorm“ vorsieht, die bestimmen soll, welches nationale Recht für den Bezug der in Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung genannten Leistungen der sozialen Sicherheit, darunter Familienleistungen, gilt, die andere als die in Art. 11 Abs. 3 Buchst. a bis d dieser Verordnung genannten Personen, d. h. insbesondere wirtschaftlich nicht aktive Personen, beanspruchen können. Aus der Anwendung dieser Norm ergibt sich, dass diese Personen grundsätzlich den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats unterliegen6. Nach Art. 1 Buchst. j der Verordnung Nr. 883/2004 bezeichnet der Ausdruck „Wohnort“ für die Zwecke dieser Verordnung den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts der betreffenden Person.
Im vorliegenden Fall führt das vorlegende Finanzgericht Bremen aus, dass die Mutter und ihre Familie während des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zeitraums von drei Monaten ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland begründet hatten. Als wirtschaftlich nicht aktive Person unterliegt S daher gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. e in Verbindung mit Art. 1 Buchst. z und Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der Verordnung Nr. 883/2004 hinsichtlich der Gewährung von Familienleistungen den deutschen Rechtsvorschriften.
Im Licht dieser einleitenden Klarstellungen ist zu prüfen, ob sich ein wirtschaftlich nicht aktiver Unionsbürger, wenn er sich in einer Situation des rechtmäßigen Aufenthalts nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 dieser Richtlinie befindet, für die Zwecke der Gewährung von Familienleistungen im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. j in Verbindung mit Art. 1 Buchst. z der Verordnung Nr. 883/2004 auf den Grundsatz der Gleichbehandlung mit wirtschaftlich nicht aktiven Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats berufen kann, die, nachdem sie gemäß dem Unionsrecht von ihrem Recht Gebrauch gemacht haben, sich in einem anderen Mitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, in diesen Mitgliedstaat zurückkehren.
Wie sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen des Finanzgerichts Bremen ergibt, betrifft die Vorlagefrage die Auslegung sowohl von Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 als auch von Art. 24 der Richtlinie 2004/38, da diese beiden Bestimmungen den Grundsatz der Gleichbehandlung in ihrem jeweiligen Anwendungsbereich konkretisieren. Da diese Frage insbesondere mit der Bestimmung des Anwendungsbereichs von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 zusammenhängt, ist zunächst die Tragweite dieser Vorschrift und dann die Tragweite von Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 zu bestimmen.
Nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 genießt jeder Unionsbürger, der sich aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, im Anwendungsbereich des Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats.
Der Grundsatz der Gleichbehandlung kommt somit jedem Unionsbürger zugute, dessen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats die Voraussetzungen der Richtlinie 2004/38 erfüllt7.
Allerdings sieht Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 eine Abweichung vom Gleichbehandlungsgrundsatz vor, auf den sich andere Unionsbürger als Arbeitnehmer oder Selbständige, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihre Familienangehörigen, die sich im Hoheitsgebiet eines Aufnahmemitgliedstaats aufhalten, berufen können, indem dem Aufnahmemitgliedstaat erlaubt wird, insbesondere während der ersten drei Monate des Aufenthalts den Anspruch auf Sozialhilfe nicht zu gewähren8.
Der Aufnahmemitgliedstaat kann sich daher auf die Ausnahmebestimmung des Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 berufen, um einem Unionsbürger, der von seinem Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats Gebrauch macht, in den ersten drei Monaten dieses Aufenthalts eine Sozialhilfeleistung zu verweigern9.
Somit ist zu prüfen, ob das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Kindergeld eine „Sozialhilfeleistung“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 darstellt.
Insoweit hat der Unionsgerichtshof bereits entschieden, dass sich der Begriff „Sozialhilfeleistungen“ im Sinne der letztgenannten Bestimmung auf sämtliche von öffentlichen Stellen eingerichteten Hilfssysteme bezieht, die auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene bestehen und die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt und deshalb während seines Aufenthalts möglicherweise die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats belasten muss, was Auswirkungen auf das gesamte Niveau der Beihilfe haben kann, die dieser Staat gewähren kann10. Wie bereits ausgeführt, wird das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Kindergeld jedoch unabhängig von der persönlichen Bedürftigkeit seines Empfängers gewährt und dient nicht dazu, dessen Lebensunterhalt sicherzustellen. Dieses Kindergeld fällt daher nicht unter den Begriff „Sozialhilfeleistungen“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38.
Unter diesen Umständen ist noch zu prüfen, ob, wie die deutsche Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen vorgeschlagen hat, Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 angesichts des in ihm zum Ausdruck kommenden Rechtsgedankens dahin auszulegen ist, dass er es dem Aufnahmemitgliedstaat in Bezug auf die Gewährung von anderen Leistungen als „Sozialhilfeleistungen“ im Sinne dieser Bestimmung gleichwohl erlaubt, von der Gleichbehandlung abzuweichen, die Unionsbürgern, die sich gemäß Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 dieser Richtlinie rechtmäßig in seinem Hoheitsgebiet aufhalten, grundsätzlich zu gewähren ist.
Hierzu ist zum einen darauf hinzuweisen, dass Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 als Ausnahme von dem in Art. 18 Abs. 1 AEUV normierten Grundsatz der Gleichbehandlung, der in Art. 24 Abs. 1 dieser Richtlinie lediglich einen besonderen Ausdruck findet, eng und im Einklang mit den Vertragsbestimmungen, einschließlich derjenigen über die Unionsbürgerschaft, auszulegen ist11.
Zum anderen sind nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Auslegung einer Unionsrechtsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden, zu berücksichtigen12.
Was zunächst den Wortlaut von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 betrifft, lässt nichts darin die Annahme zu, dass der Unionsgesetzgeber es dem Aufnahmemitgliedstaat mit dieser Bestimmung erlauben wollte, in Bezug auf andere Leistungen als Sozialhilfeleistungen vom Grundsatz der Gleichbehandlung abzuweichen, der für Unionsbürger, die sich rechtmäßig in seinem Hoheitsgebiet aufhalten, grundsätzlich gelten muss. Vielmehr geht, wie der Generalanwalt in Nr. 57 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, aus dieser Bestimmung klar hervor, dass sie ausschließlich die Sozialhilfe betrifft.
Sodann ist zum Regelungszusammenhang von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 darauf hinzuweisen, dass, wie sich aus Rn. 31 des vorliegenden Urteils ergibt, Art. 14 Abs. 1 dieser Richtlinie das Aufenthaltsrecht von bis zu drei Monaten aufrechterhält, solange der Unionsbürger und seine Familienangehörigen „die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen“. Art. 14 der Richtlinie stützt somit die Auslegung, wonach die Möglichkeit, auf der Grundlage von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 vom Grundsatz der Gleichbehandlung abzuweichen, auf Sozialhilfeleistungen beschränkt ist und sich nicht auf Leistungen der sozialen Sicherheit erstrecken kann.
Schließlich entspricht diese Auslegung dem Ziel von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38, der nach dem zehnten Erwägungsgrund dieser Richtlinie das finanzielle Gleichgewicht nicht des Systems der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten, sondern ihrer „Sozialhilfeleistungen“ wahren soll.
Daraus folgt, dass die in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 vorgesehene Ausnahme vom Grundsatz der Gleichbehandlung nicht auf den Fall anwendbar ist, dass ein Unionsbürger in den ersten drei Monaten seines Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat keine „Sozialhilfe“ im Sinne dieser Bestimmung, sondern „Familienleistungen“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. j in Verbindung mit Art. 1 Buchst. z der Verordnung Nr. 883/2004 beantragt.
Sodann erinnert der Unionsgerichtshof daran, dass ein wirtschaftlich nicht aktiver Unionsbürger, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt in den Aufnahmemitgliedstaat verlegt hat, nach Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung Nr. 883/2004 hinsichtlich der Gewährung von Leistungen der sozialen Sicherheit den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats unterliegt.
Insoweit hat der Unionsgerichtshof bereits entschieden, dass diese Bestimmung nicht nur die gleichzeitige Anwendung verschiedener nationaler Rechte auf eine konkrete Situation und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben können, vermeiden, sondern auch verhindern soll, dass Personen, die in den Geltungsbereich dieser Verordnung fallen, der Schutz im Bereich der sozialen Sicherheit vorenthalten wird, weil keine Rechtsvorschriften auf sie anwendbar sind13.
Allerdings schafft die Verordnung Nr. 883/2004 kein gemeinsames System der sozialen Sicherheit, sondern lässt unterschiedliche nationale Systeme bestehen und soll diese nur koordinieren, um zu gewährleisten, dass das Recht auf Freizügigkeit wirksam ausgeübt werden kann. Ihre Bestimmungen, wie beispielsweise ihr Art. 11 Abs. 3 Buchst. e, haben folglich nicht zum Gegenstand, die inhaltlichen Voraussetzungen für das Vorliegen eines Anspruchs auf Leistungen der sozialen Sicherheit festzulegen14. Zwar bleiben die Mitgliedstaaten dafür zuständig, in ihren Rechtsvorschriften festzulegen, unter welchen Voraussetzungen diese Leistungen gewährt werden, diese Zuständigkeit muss aber im Einklang mit dem Unionsrecht ausgeübt werden15.
Insoweit konkretisiert Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 den Grundsatz der Gleichbehandlung gegenüber Unionsbürgern, die im Aufnahmemitgliedstaat die in Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung genannten Leistungen der sozialen Sicherheit in Anspruch nehmen wollen16. Nach diesem Art. 4 haben, sofern in der Verordnung Nr. 883/2004 nichts anderes bestimmt ist, Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates.
Die Verordnung Nr. 883/2004 enthält keine Bestimmung, die es dem Aufnahmemitgliedstaat eines Unionsbürgers, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist und sich rechtmäßig im erstgenannten Mitgliedstaat aufhält, ermöglichen würde, diesen Unionsbürger im Hinblick auf den Umstand, dass er wirtschaftlich nicht aktiv ist, hinsichtlich der Voraussetzungen für die Gewährung von „Familienleistungen“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. j in Verbindung mit Art. 1 Buchst. z der Verordnung Nr. 883/2004 anders zu behandeln als seine eigenen Staatsangehörigen. Daher steht Art. 4 dieser Verordnung einer Maßnahme entgegen, die eine solche Ungleichbehandlung vornimmt.
Zwar hat der Unionsgerichtshof bereits entschieden, dass nichts dagegen spricht, die Gewährung von in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 fallenden Leistungen an Unionsbürger, die wirtschaftlich nicht aktiv sind, von dem Erfordernis abhängig zu machen, dass diese die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat gemäß der Richtlinie 2004/38 erfüllen17.
Allerdings befindet sich ein Unionsbürger, der sich gemäß Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, dort, wie aus den Rn. 31 bis 33 des vorliegenden Urteils hervorgeht, in einer Situation des rechtmäßigen Aufenthalts im Sinne dieser Richtlinie.
Daraus folgt, dass einem solchen Unionsbürger der in Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehene Grundsatz der Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats zugutekommt, und zwar auch dann, wenn er während der ersten drei Monate seines Aufenthalts in diesem Mitgliedstaat gemäß den in der vorstehenden Randnummer genannten Bestimmungen der Richtlinie 2004/38 wirtschaftlich nicht aktiv ist.
Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass sich ein wirtschaftlich nicht aktiver Unionsbürger, der sich gemäß Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aufhält und seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Hoheitsgebiet begründet hat, im Aufnahmemitgliedstaat für die Zwecke der Gewährung von Familienleistungen im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. j in Verbindung mit Art. 1 Buchst. z der Verordnung Nr. 883/2004 auf den in Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehenen Grundsatz der Gleichbehandlung berufen kann.
Da Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 den Grundsatz der Gleichbehandlung im Bereich des Zugangs zu solchen Leistungen konkretisiert, ist nunmehr zu prüfen, ob eine nationale Regelung wie die in Rn. 27 des vorliegenden Urteils genannte eine gegen diese Bestimmung verstoßende Ungleichbehandlung darstellt.
Eine unmittelbare Diskriminierung eines Unionsbürgers liegt vor, wenn eine Regelung des Aufnahmemitgliedstaats diesen Bürger, obwohl er sich rechtmäßig nach Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält und dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat, deshalb von Familienleistungen im Sinne der Verordnung Nr. 883/2004 ausschließt, weil dieser Bürger wirtschaftlich nicht aktiv ist, während derselbe Mitgliedstaat seinen eigenen Staatsangehörigen, auch wenn sie wirtschaftlich nicht aktiv sind, solche Leistungen gewährt, sobald sie, nachdem sie nach dem Unionsrecht von ihrem Recht Gebrauch gemacht haben, sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats frei zu bewegen und aufzuhalten, in diesen Mitgliedstaat zurückkehren. Eine solche Diskriminierung kann mangels einer ausdrücklichen Ausnahme in der Verordnung Nr. 883/2004 nicht gerechtfertigt werden. Daher ist Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen, dass er dem Erlass einer Regelung wie der in Rn. 67 des vorliegenden Urteils genannten durch den Aufnahmemitgliedstaat entgegensteht.
Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass der wirtschaftlich nicht aktive Unionsbürger, der sich im Aufnahmemitgliedstaat auf die Anwendung des in diesem Artikel verankerten Grundsatzes der Gleichbehandlung in Bezug auf die Voraussetzungen für die Gewährung von Familienleistungen im Sinne der Verordnung Nr. 883/2004 beruft, nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Buchst. j dieser Verordnung während des Zeitraums der ersten drei Monate, in dem ihm in diesem Mitgliedstaat nach Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 ein Aufenthaltstitel erteilt wird, seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat begründet haben muss und sich nicht im Sinne von Art. 1 Buchst. k dieser Verordnung vorübergehend dort aufhalten darf. Insoweit enthält zum einen Art. 11 („Bestimmung des Wohnortes“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 eine Reihe von Kriterien für die Bestimmung des Mitgliedstaats, in dem die betreffende Person wohnt. Art. 11 Abs. 2 stellt klar, dass unter „Wohnort“ im Sinne der Verordnung Nr. 883/2004 der „tatsächliche“ Wohnort dieser Person zu verstehen ist.
Zum anderen spiegelt der Begriff des „gewöhnlichen Aufenthalts“ nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Wesentlichen eine Tatsachenfrage wider, die der Beurteilung durch das nationale Gericht unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls unterliegt. Hierzu ist festzustellen, dass die in Rn. 70 des vorliegenden Urteils genannte Voraussetzung, wonach ein Unionsbürger seinen gewöhnlichen Aufenthalt in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats verlegt haben muss, impliziert, dass er den Willen zum Ausdruck gebracht hat, den gewöhnlichen Mittelpunkt seiner Lebensinteressen in diesem Mitgliedstaat zu errichten, und dass er nachweist, dass seine Anwesenheit im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats hinreichend dauerhaft ist, um sie von einem vorübergehenden Aufenthalt zu unterscheiden18.
Nach alledem hat der Gerichtshof der Europäischen Union (Große Kammer) auf die Vorlagefrage wie folgt geantwortet:
Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der einem Unionsbürger, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats begründet hat und der wirtschaftlich nicht aktiv ist, weil er in diesem Staat keine Erwerbstätigkeit ausübt, die Gewährung von „Familienleistungen“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. j in Verbindung mit Art. 1 Buchst. z der Verordnung Nr. 883/2004 in den ersten drei Monaten seines Aufenthalts im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats verweigert wird, während einem wirtschaftlich nicht aktiven Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats, nachdem dieser gemäß dem Unionsrecht von seinem Recht Gebrauch gemacht hat, sich in einem anderen Mitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, diese Leistungen auch in den ersten drei Monaten nach seiner Rückkehr in diesen Mitgliedstaat gewährt werden.
Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG ist dahin auszulegen, dass er auf eine solche Regelung nicht anwendbar ist.
Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 1. August 2022 – C -411/20
- vgl. in diesem Sinne EuGH, Urteile vom 20.09.2001, Grzelczyk, C-184/99, EU:C:2001:458, Rn. 31; und vom 15.07.2021, The Department for Communities in Northern Ireland, C-709/20, EU:C:2021:602, Rn. 62[↩]
- vgl. in diesem Sinne EuGH, Urteile vom 20.09.2001, Grzelczyk, C-184/99, EU:C:2001:458, Rn. 32 und 33; vom 21.02.2013, N., C-46/12, EU:C:2013:97, Rn. 28; und vom 15.07.2021, A [Öffentliche Gesundheitsversorgung], C-535/19, EU:C:2021:595, Rn. 40 und 42[↩]
- EuGH, Urteil vom 21.12.2011, Ziolkowski und Szeja, C-424/10 und C-425/10, EU:C:2011:866, Rn. 38[↩]
- vgl. in diesem Sinne EuGh, Urteile vom 21.12.2011, Ziolkowski und Szeja, C-424/10 und C-425/10, EU:C:2011:866, Rn. 39; und vom 25.02.2016, García-Nieto u. a., C-299/14, EU:C:2016:114, Rn. 42[↩]
- vgl. in diesem Sinne EuGH, Urteile vom 14.06.2016, Kommission/Vereinigtes Königreich, C-308/14, EU:C:2016:436, Rn. 60; und vom 21.06.2017, Martinez Silva, C-449/16, EU:C:2017:485, Rn. 22[↩]
- vgl. in diesem Sinne EuGH, Urteile vom 14.06.2016, Kommission/Vereinigtes Königreich, C-308/14, EU:C:2016:436, Rn. 63; und vom 15.07.2021, A [Öffentliche Gesundheitsversorgung], C-535/19, EU:C:2021:595, Rn. 45[↩]
- vgl. in diesem Sinne EuGH, Urteile vom 11.11.2014, Dano, C-333/13, EU:C:2014:2358, Rn. 69; und vom 25.02.2016, García-Nieto u. a., C-299/14, EU:C:2016:114, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung[↩]
- EuGH, Urteil vom 19.09.2013, Brey, C-140/12, EU:C:2013:565, Rn. 56, und die dort angeführte Rechtsprechung[↩]
- vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25.02.2016, García-Nieto u. a., C-299/14, EU:C:2016:114, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung[↩]
- EuGH, Urteile vom 19.09.2013, Brey, C-140/12, EU:C:2013:565, Rn. 61; sowie vom 11.11.2014, Dano, C-333/13, EU:C:2014:2358, Rn. 63[↩]
- vgl. in diesem Sinne EuGH, Urteile vom 21.02.2013, N., C-46/12, EU:C:2013:97, Rn. 33; und vom 06.10.2020, Jobcenter Krefeld, C-181/19, EU:C:2020:794, Rn. 60[↩]
- EuGH, Urteil vom 06.10.2020, Jobcenter Krefeld, C-181/19, EU:C:2020:794, Rn. 61, und die dort angeführte Rechtsprechung[↩]
- EuGH, Urteile vom 14.06.2016, Kommission/Vereinigtes Königreich, C-308/14, EU:C:2016:436, Rn. 64; und vom 15.07.2021, A [Öffentliche Gesundheitsversorgung], C-535/19, EU:C:2021:595, Rn. 46[↩]
- vgl. in diesem Sinne EuGH, Urteil vom 14.06.2016, Kommission/Vereinigtes Königreich, C-308/14, EU:C:2016:436, Rn. 65 und 67[↩]
- vgl. in diesem Sinne EuGH, Urteil vom 11.04.2013, Jeltes u. a., C-443/11, EU:C:2013:224, Rn. 59[↩]
- vgl. in diesem Sinne EuGH, Urteil vom 15.07.2021, A [Öffentliche Gesundheitsversorgung], C-535/19, EU:C:2021:595, Rn. 40[↩]
- vgl. in diesem Sinne EuGH, Urteile vom 19.09.2013, Brey, C-140/12, EU:C:2013:565, Rn. 44; vom 11.11.2014, Dano, C-333/13, EU:C:2014:2358, Rn. 83; und vom 14.06.2016, Kommission/Vereinigtes Königreich, C-308/14, EU:C:2016:436, Rn. 68[↩]
- vgl. entsprechend EuGH, Urteil vom 25.11.2021, IB [Gewöhnlicher Aufenthalt eines Ehegatten – Scheidung], C-289/20, EU:C:2021:955, Rn. 58[↩]