Kruzifixe in Klassenzimmern

In seinem aktuellen Urteil im Fall „Lautsi und andere gegen Italien“ hat der die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte mit einer Mehrheit von fünfzehn zu zwei Stimmen Stimmen festgestellt, dass das Aufhängen von Kruzfixen und Kreuzen in Klassenzimmern keine Verletzung von Artikel 2 Protokoll Nr. 1 (Recht auf Bildung) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) darstellt.

Kruzifixe in Klassenzimmern

Der jetzt von der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entschiedene Fall betraf die in Klassenzimmern staatlicher Schulen in Italien angebrachten Kruzifixe, die von den Beschwerdeführern als Verstoß gegen die Verpflichtung des Staates gerügt wurden, bei Ausübung der von ihm auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts übernommenen Aufgaben das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen.

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Der Ausgangssachverhalt[↑]

Die Beschwerdeführer, Soile Lautsi, geboren 1957, und ihre 1988 und 1990 geborenen Söhne, Dataico und Sami Albertin, sind italienische Staatsangehörige und leben in Italien. In ihrer 2006 eingelegten Beschwerde gab Frau Lautsi an, im Namen ihrer damals minderjährigen Söhne zu handeln. Die inzwischen volljährigen Söhne haben ihre Einwilligung erklärt, selbst als Beschwerdeführer aufzutreten.

Die Söhne besuchten im Schuljahr 2001/02 das Istituto comprensivo statale Vittorino da Feltre, eine staatliche Schule in Abano Terme, in deren Klassenzimmern Kruzifixe angebracht waren. Bei einer Versammlung des Schulbeirats am 22. April 2002 sprach Frau Lautsis Ehemann die Präsenz religiöser Symbole, insbesondere von Kruzifixen, in den Klassenzimmern an und fragte, ob diese entfernt werden könnten. Nachdem der Schulbeirat entschieden hatte, die Symbole in den Klassenzimmern zu belassen, legte Frau Lautsi am 23. Juli 2002 Klage beim Verwaltungsgericht Venetien ein und machte einen Verstoß gegen das Gebot staatlicher Neutralität in Religionsfragen geltend.

Der Minister für Unterricht, Universitäten und Forschung erließ im Oktober 2002 eine Vorschrift, nach der die Schulverwaltungen die Präsenz eines Kruzifixes in den Klassenzimmern sicherzustellen hatten. Am 30. Oktober 2003 trat der Minister dem von Frau Lautsi angestrengten Verfahren als Partei bei und vertrat, dass ihre Beschwerde unbegründet sei, da die Präsenz von Kruzifixen in Klassenzimmern staatlicher Schulen sich auf zwei Königliche Dekrete von 1924 und 1928 stütze1.

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Das italienische Verfassungsgericht erklärte die Vorlage des Verwaltungsgerichts Venetien zur Frage der Verfassungsmäßigkeit 2004 für unzulässig, da die anwendbaren Bestimmungen der beiden Königlichen Dekrete keinen Gesetzesrang hätten, sondern es sich lediglich um Verordnungen handele, die nicht Gegenstand einer Verfassungsmäßigkeitsprüfung sein könnten.

Das Verwaltungsgericht Venetien wies die Klage Frau Lautsis am 17. März 2005 mit der Begründung ab, dass die fraglichen Dekrete noch immer in Kraft seien und Kruzifixe in Klassenzimmern staatlicher Schulen keinen Verstoß gegen das Gebot staatlicher Neutralität in Religionsfragen darstellten, „das zum Rechtserbe Europas und der westlichen Demokratien gehört.“ Insbesondere vertrat das Gericht die Auffassung, das Kruzifix sei Symbol des Christentums im Allgemeinen, nicht nur des Katholizismus, so dass es auch auf andere Glaubensbekenntnisse verweise. Weiterhin handele es sich um ein historisch-kulturelles Symbol, das einen „identitätsstiftenden Charakter“ für das italienische Volk habe, und um ein Symbol für das der italienischen Verfassung zugrundeliegende Wertesystem.

Der von Frau Lautsi angerufene Staatsrat, das oberste Verwaltungsgericht Italiens, bestätigte mit Urteil vom 13. April 2006, dass die Präsenz von Kruzifixen in Klassenzimmern staatlicher Schulen eine Rechtsgrundlage in den Dekreten von 1924 und 1928 habe und, angesichts der dem Kruzifix beizumessenden Bedeutung, mit dem Gebot staatlicher Neutralität in Religionsfragen vereinbar sei. Insofern als es Werte symbolisiere, die die italienische Kultur kennzeichneten – Toleranz, Bekräftigung der Rechte des Einzelnen, die Autonomie des moralischen Gewissens gegenüber der Autorität, Solidarität, die Ablehnung jeglicher Diskriminierung – könne das Kruzifix in Klassenzimmern selbst aus einem „säkularen“ Blickwinkel eine wichtige erzieherische Funktion erfüllen.

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Das Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte:[↑]

Unter Berufung auf Artikel 2 Protokoll Nr. 1 (Recht auf Bildung) und Artikel 9 EMRK (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) beklagten sich die Beschwerdeführer über die Kruzifixe in den Klassenzimmern der staatlichen Schule, die Frau Lautsis Söhne besucht hatten.

Unter Berufung auf Artikel 14 EMRK (Diskriminierungsverbot), machten sie geltend, dass sie aufgrund dessen als Nichtkatholiken eine diskriminierende Ungleichbehandlung im Vergleich zu katholischen Eltern und deren Kindern erfahren hatten.

Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte[↑]

In seinem Kammerurteil vom 3. November 2009 stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung von Artikel 2 Protokoll Nr. 1 (Recht auf Bildung) in Verbindung mit Artikel 9 EMRK (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) fest.

Daraufhin beantragte die italienische Regierung die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer gemäß Artikel 43 EMRK (Verweisung an die Große Kammer). Und nachdem der Ausschuss der Großen Kammer diesen Antrag angenommen hatte, entschied nun die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und stellte mit einer Mehrheit von fünfzehn zu zwei Stimmen Stimmen fest, dass das Aufhängen von Kruzfixen in Klassenzimmern keine Verletzung von Artikel 2 Protokoll Nr. 1 (Recht auf Bildung) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) darstellt.

Das Urteil ist rechtskräftig, Urteile der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sind endgültig (Artikel 44 EMRK). Rechtskräftige Urteile werden dem Ministerkomitee des Europarats übermittelt, das die Umsetzung der Urteile überwacht.

Art. 2 Protokoll Nr. 1 EMRK[↑]

In seiner Rechtsprechung2 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte unterstrichen, dass die Pflicht der Mitgliedstaaten des Europarats, die religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern zu achten, nicht nur den Gegenstand und die Art und Weise des Unterrichts betrifft, sondern auch „bei Ausübung“ der Gesamtheit der „Aufgaben“, die die Staaten auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts übernehmen, zum Tragen kommt. Dies schließt die Gestaltung der schulischen Umgebung ein, sofern diese nach nationalem Recht eine staatliche Aufgabe ist. Die Entscheidung, ob Kruzifixe in Klassenzimmern staatlicher Schulen angebracht sein sollen, gehört zu den Aufgaben, die der italienische Staat übernimmt und fällt folglich in den Anwendungsbereich von Artikel 2 Protokoll Nr. 1 EMRK. Daraus ergibt sich auf diesem Gebiet eine staatliche Verpflichtung, das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen.

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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte war der Auffassung, dass sich nicht beweisen lässt, ob ein Kruzifix an der Wand eines Klassenzimmers einen Einfluss auf die Schüler hat, auch wenn es in erster Linie als religiöses Symbol zu betrachten ist. Zwar war es nachvollziehbar, dass Frau Lautsi die Kruzifixe in den Klassenräumen ihrer Kinder als staatliche Missachtung ihres Rechts sah, deren Unterricht entsprechend ihren eigenen weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen; diese subjektive Wahrnehmung reichte aber nicht aus, um eine Verletzung von Artikel 2 Protokoll Nr. 1 zu begründen.

Die italienische Regierung vertrat die Auffassung, dass das Kruzifix in Klassenzimmern staatlicher Schulen heute eine Tradition darstelle, auf deren Bewahrung sie Wert lege. Das Kruzifix symbolisiere über die religiöse Bedeutung hinaus die Werte und Prinzipien, die die westliche Demokratie und Zivilisation begründeten. Seine Präsenz in den Klassenzimmern sei dadurch zu rechtfertigen. Im Hinblick auf den ersten Gesichtspunkt unterstrich der Gerichtshof, dass die Entscheidung, eine Tradition zu bewahren, zwar im Prinzip in den Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten des Europarats fällt, der Verweis auf eine Tradition die Staaten aber nicht von ihrer Verpflichtung entbinden kann, die Konventionsrechte zu achten. Im Hinblick auf den zweiten Gesichtspunkt stellte der Gerichtshof fest, dass der italienische Staatsrat und der Kassationsgerichtshof zur Bedeutung des Kruzifixes voneinander abweichende Auffassungen vertraten und das italienische Verfassungsgericht sich zu dieser Frage nicht geäußert hat; dem Gerichtshof stand es nicht zu, in einem Streit zwischen nationalen Gerichten Position zu beziehen.

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Schließlich genießen Staaten einen Beurteilungsspielraum, wenn es darum geht, ihre Aufgaben auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts mit der Achtung des Rechts der Eltern zu vereinbaren, diesen Unterricht entsprechend ihren religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen. Der Gerichtshof hat daher im Prinzip die Entscheidungen der Staaten auf diesem Gebiet zu respektieren, einschließlich des Stellenwerts, den sie der Religion beimessen, sofern diese Entscheidungen zu keiner Form der Indoktrinierung führen. Die Entscheidung, Kruzifixe in Klassenzimmern anzubringen, fällt folglich in den Beurteilungsspielraum des Staates, zumal es in der Frage der Präsenz religiöser Symbole in staatlichen Schulen unter den Mitgliedstaaten des Europarats keine Übereinstimmung gibt. Der Beurteilungsspielraum der Staaten geht allerdings Hand in Hand mit der Kontrolle durch den Gerichtshof, dem es obliegt, sicherzustellen, dass Entscheidungen auf diesem Gebiet nicht zu einer Indoktrinierung führen.

In diesem Zusammenhang stellte der Gerichtshof fest, dass die gesetzliche Regelung in Italien, die das Anbringen von Kruzifixen in Klassenzimmern vorschreibt, der Mehrheitsreligion eine dominante Sichtbarkeit in der schulischen Umgebung gibt. Der Gerichtshof war aber der Auffassung, dass dies nicht ausreicht, um von einem staatlichen Indoktrinierungsprozess zu sprechen und um einen Verstoß gegen Artikel 2 Protokoll Nr. 1 EMRK zu begründen. Der Gerichtshof verwies auf seine Rechtsprechung3, nach der die Tatsache, dass einer Religion angesichts ihrer dominanten Bedeutung in der Geschichte eines Landes im Lehrplan mehr Raum gegeben wird als anderen Religionen, für sich genommen noch keine Indoktrinierung darstellt. Er hob hervor, dass ein an der Wand angebrachtes Kruzifix ein seinem Wesen nach passives Symbol ist, dessen Einfluss auf die Schüler nicht mit einem didaktischen Vortrag oder mit der Teilnahme an religiösen Aktivitäten verglichen werden kann.

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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte war weiter der Auffassung, dass die Wirkung der höheren Sichtbarkeit, die das Kruzifix dem Christentum in der schulischen Umgebung gibt, angesichts folgender Gesichtspunkte noch relativiert werden muss: Die Präsenz des Kruzifixes steht nicht im Zusammenhang mit einem verpflichtenden christlichen Religionsunterricht; die schulische Umgebung ist laut der italienischen Regierung offen für andere Religionen (so sei das Tragen von Symbolen und Kleidung mit religiöser Konnotation Schülern nicht verboten, die Praktiken von Nichtmehrheitsreligionen würden berücksichtigt, freiwilliger Religionsunterricht in allen anerkannten Konfessionen sei möglich, das Ende des Ramadan werde häufig in Schulen gefeiert); nichts weist darauf hin, dass die Behörden sich gegenüber Schülern intolerant verhalten, die anderen Konfessionen angehören, die nicht religiös sind oder Weltanschauungen vertreten, die nicht mit einer Konfession in Verbindung stehen. Schließlich behaupten die Beschwerdeführer nicht, dass das Kruzifix in den Klassenzimmern eine Unterrichtspraxis mit missionarischer Tendenz gefördert oder dass ein Lehrer von Frau Lautsis Kindern in tendenziöser Weise auf dessen Präsenz Bezug genommen hätte. Im Übrigen blieb Frau Lautsis elterliches Recht, ihre Kinder aufzuklären, sie zu beraten und sie im Sinne ihrer eigenen weltanschaulichen Überzeugungen anzuleiten, unberührt.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kam folglich zu dem Schluss, dass sich die Entscheidung der Behörden, die Kruzifixe in den Klassenzimmern der von Frau Lautsis Söhnen besuchten staatlichen Schule zu belassen, in den Grenzen des Beurteilungsspielraums hielt, den der italienische Staat im Zusammenhang mit seiner Verpflichtung, in der Ausübung seiner Aufgaben auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts das Recht der Eltern zu achten, diesen Unterricht entsprechend ihren religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen, genießt. Somit lag keine Verletzung von Artikel 2 Protokoll Nr. 1 EMRK vor. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befand außerdem, dass sich im Hinblick auf Artikel 9 keine anderen Fragen stellten.

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Im Hinblick auf Frau Lautsis Söhne kam der Gerichtshof zu demselben Schluss.

Artikel 14 EMRK[↑]

In seinem Kammerurteil hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zunächst befunden, dass es angesichts seiner Feststellung einer Verletzung von Artikel 2 Protokoll Nr. 1 in Verbindung mit Artikel 9 keinen Anlass gab, die Beschwerde unter Berufung auf Artikel 14 separat zu prüfen.

Die Große Kammer erinnerte daran, dass Artikel 14 nur in Bezug auf die anderen Bestimmungen der Konvention und ihrer Protokolle gilt. Selbst unter der Annahme, dass die Beschwerdeführer sich auch darüber beklagen wollten, in ihren Rechten gemäß Artikel 9 und Artikel 2 Protokoll Nr. 1 diskriminiert worden zu sein, sah der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte darin keine andere Frage als diejenigen, die er bereits im Anwendungsbereich von Artikel 2 Protokoll Nr. 1 untersucht hatte. Es gab für die Große Kammer des EGMR folglich keinen Anlass, diesen Teil der Beschwerde zu prüfen.

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil der Großen Kammer vom 18. März 2011 – Beschwerde-Nr. 30814/06

  1. Artikel 118 Königliches Dekret Nr. 965 vom 30. April 1924 (interne Vorschriften der Mittelschulen) und Artikel 119 Königliches Dekret Nr. 1297 vom 26. April 1928 (Annahme der allgemeinen Vorschriften für den Grundschulunterricht).[]
  2. EGMR, Urteile vom 07.12.1976 – „Kjeldsen, Busk Madsen und Pedersen gegen Dänemark“ (§ 50); vom 18.12.1996 – „Valsamis gegen Griechenland“ (§ 27); vom 09.10.2007 – „Hasan und Eylem Zengin gegen die Türkei“ (§ 49); und Urteil der Großen Kammer vom 29.06.2007 – „Folgero und andere gegen Norwegen“ (§ 84).[]
  3. EGMR, Urteil der Großen Kammer vom 29.06.2007 – „Folgero und andere gegen Norwegen“; Kammerurteil vom 09.10.2007 – „Hasan und Eylem Zengin gegen die Türkei“.[]