Überlange Verfahrensdauer beim Sozialgericht

Beim Bundesverfassungsgericht war jetzt eine Verfassungsbeschwerde gegen überlange Verfahrensdauer beim Sozialgericht Osnabrück erfolgreich:

Überlange Verfahrensdauer beim Sozialgericht

Der 1958 geborene Beschwerdeführer war selbständig tätig und nicht krankenversichert. Seine finanzielle Situation war schwierig. Am 3. Mai 2005 erlitt er einen beidseitigen Hirninfarkt und ist seither pflegebedürftig. Der Krankenhausträger, in dessen Klinikum der Beschwerdeführer nach seinem Hirninfarkt mehrere Monate behandelt worden war, macht gegen ihn Krankenhaus- und Pflegekosten von über 86.000 € geltend. Nach seinem Hirninfarkt wurde der Beschwerdeführer von einer GmbH als deren Arbeitnehmer ab dem 1. Mai 2005 zur Sozialversicherung angemeldet. Die betroffene gesetzliche Krankenkasse stellte jedoch im Jahr 2006 mit Bescheid fest, dass eine Mitgliedschaft des Beschwerdeführers bei ihr nicht bestehe.

Hiergegen erhob dieser am 24. Juni 2006 Klage beim Sozialgericht. Nach Klagebegründung im Juli 2006 und weiterem Schriftwechsel der Verfahrensbeteiligten verfügte die Kammervorsitzende im April 2007 das Verfahren ins Terminsfach. Auf zwei Sachstandsanfragen teilte die Vorsitzende u. a. mit, dass noch weitaus ältere Verfahren vorrangig zu entscheiden seien; zuletzt wies sie im September 2008 darauf hin, es würden derzeit Klagen aus dem Jahrgang 2004 terminiert. Die Klage wurde schließlich mit Urteil vom 27. Mai 2010 durch das Sozialgericht abgewiesen. Mit seiner bereits im Januar 2010 eingelegten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die überlange Verfahrensdauer.

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Das Bundesverfassungsgericht entschied nun, dass die überlange Dauer des sozialgerichtlichen Verfahrens von knapp vier Jahren den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Absatz 4 Satz 1 GG verletzt:

Die Dauer des sozialgerichtlichen Klageverfahrens von knapp vier Jahren genügt vorliegend den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG nicht. Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet nicht nur das formelle Recht, die Gerichte gegen jede behauptete Verletzung subjektiver Rechte durch ein Verhalten der öffentlichen Gewalt anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes. Wirksam ist nur ein zeitgerechter Rechtsschutz. Im Interesse der Rechtssicherheit sind strittige Rechtsverhältnisse in angemessener Zeit zu klären1. Dem Grundgesetz lassen sich allerdings keine allgemein gültigen Zeitvorgaben dafür entnehmen, wann von einer überlangen, die Rechtsgewährung verhindernden und damit unangemessenen Verfahrensdauer auszugehen ist; dies ist vielmehr eine Frage der Abwägung im Einzelfall2.

Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Frage, ab wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauert, sind sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Natur des Verfahrens und die Bedeutung der Sache für die Parteien, die Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer für die Beteiligten, die Schwierigkeit der Sachmaterie, das den Beteiligten zuzurechnende Verhalten, insbesondere Verfahrensverzögerungen durch sie, sowie die gerichtlich nicht zu beeinflussende Tätigkeit Dritter, vor allem der Sachverständigen3. Dagegen kann sich der Staat nicht auf solche Umstände berufen, die in seinem Verantwortungsbereich liegen4.

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Bei Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls liegt hier eine verfassungswidrig lange Verfahrensdauer vor.

Das Verfahren betraf eine Statusfrage. Es ist für den pflegebedürftigen Beschwerdeführer von grundlegender Bedeutung, ob er ab 1. Mai 2005 gesetzlich krankenversichert war oder nicht. Daran ändert auch nichts, dass der Beschwerdeführer seit 1. September 2008 als Sozialhilfeempfänger von der AOK N… betreut wird. Die Ungewissheit, ob sich Forderungen der behandelnden Krankenhausträgergesellschaften von über 86.000 € gegen den Beschwerdeführer richten, ist für die Vermögenssorge des sozialhilfebedürftigen Beschwerdeführers von eminenter Bedeutung.

Das Verfahren war fast vier Jahre anhängig und war jedenfalls seit 23. April 2007, als die Vorsitzende die Sache ins Terminsfach verfügte, sitzungsreif. Den Beteiligten oder Dritten zuzurechnende, nennenswerte Verfahrensverzögerungen sind nicht ersichtlich. Die Schwierigkeit der Sachmaterie verlangte keine weiteren Ermittlungen außer der Zeugenvernehmung, die in der mündlichen Verhandlung stattfand. Gerade wegen der Notwendigkeit der Beweiserhebung durch Zeugenvernehmung und der Gefahr eines Beweisverlusts infolge abnehmenden Erinnerungsvermögens des Zeugen war es geboten, die mündliche Verhandlung zügig anzuberaumen. Der Zeitablauf von fast drei Jahren von der Verfügung ins Terminsfach bis zur ersten Ladung zum 25. März 2010 war offenbar allein dem Umstand geschuldet, dass vorrangig ältere Verfahren abgearbeitet wurden. Die hohe Verfahrensbelastung der Sozialgerichtsbarkeit erster Instanz, auf die das Niedersächsische Justizministerium in seiner Stellungnahme hinweist, ist für sich genommen jedoch kein Grund, der eine längere Verfahrensdauer rechtfertigt4. Es sind keine die erhebliche Verfahrensdauer rechtfertigenden Umstände erkennbar.

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Erledigt sich im Verlauf des verfassungsgerichtlichen Verfahrens das eigentliche Rechtsschutzanliegen des Beschwerdeführers in der Hauptsache, besteht das Rechtsschutzbedürfnis fort, wenn der gerügte Grundrechtseingriff besonders schwer wiegt5, wenn die gegenstandslos gewordene Maßnahme den Beschwerdeführer weiter beeinträchtigt6 oder wenn eine Gefahr der Wiederholung des Grundrechtseingriffs besteht7. Eine geltend gemachte Verletzung hat ferner dann besonderes Gewicht, wenn sie auf einer groben Verkennung des durch ein Grundrecht gewährten Schutzes oder einem geradezu leichtfertigen Umgang mit grundrechtlich geschützten Positionen beruht oder rechtsstaatliche Grundsätze krass verletzt8.

Das mit der Verfassungsbeschwerde verfolgte Ziel des Beschwerdeführers, eine Entscheidung in dem fachgerichtlichen Klageverfahren zu beschleunigen, hat sich inzwischen erledigt, nachdem am 27. Mai 2010 ein die Klage abweisendes Urteil des Sozialgerichts ergangen ist. Damit ist insofern für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auch das Rechtsschutzbedürfnis entfallen.

Es besteht jedoch die Gefahr der Wiederholung des Grundrechtseingriffs. Es ist zu befürchten, dass sich die erhebliche Verfahrensverzögerung in anderen beim Sozialgericht schon anhängigen oder in Zukunft anhängig werdenden Klageverfahren wiederholen wird. Denn die betroffene Kammer schiebt offenbar schon über Jahre hin einen Verfahrensberg vor sich her mit der Folge, dass ein Verfahren durchschnittlich nach etwa vier Jahren zur Verhandlung kommt, wie sich etwa der Sachstandsmitteilung des Gerichts vom 25. September 2008 entnehmen lässt, wonach im September 2008 Klagen aus dem Jahrgang 2004 verhandelt wurden.

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Der Beschwerdeführer hatte im Februar 2010 zwei weitere Verfahren am Sozialgericht Osnabrück in anderen Kammern anhängig, eines aus dem Bereich der Krankenversicherung und eines aus dem Bereich der Sozialhilfe. Auch kann aufgrund der gesundheitlichen und sozialen Situation des pflege- und sozialhilfebedürftigen Beschwerdeführers nicht ausgeschlossen werden, dass er in Zukunft weiter um sozialgerichtlichen Rechtsschutz nachsuchen wird, so dass eine Wiederholungsgefahr zu bejahen ist.

Durch die Handhabung der Verfahrenslast durch das Sozialgericht werden die Grundrechte der Rechtsuchenden allgemein vernachlässigt und die Bedeutung der Garantie effektiven Rechtschutzes verkannt. Sowohl die Antworten der Kammervorsitzenden auf die Sachstandsanfragen des Beschwerdeführers als auch die Stellungnahme des Niedersächsischen Justizministeriums deuten darauf hin, dass die Verfahrensverzögerung einer starken Belastung beziehungsweise Überlastung des Gerichts erster Instanz zuzuschreiben ist, die zu einem grundsätzlichen Versagen effektiven Rechtsschutzes durch generell überlange Dauer der Verfahren in der betroffenen Kammer führt.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 24. August 2010 – 1 BvR 331/10

  1. vgl. BVerfGE 60, 253, 269; 88, 118, 124; 93, 1, 13[]
  2. vgl. BVerfGE 55, 349, 369; BVerfG, Beschluss vom 20.09.2007 – 1 BvR 775/07, NJW 2008, 503; BVerfG, Beschluss vom 24.09.2009 – 1 BvR 1304/09, GesR 2009, 651[]
  3. vgl. BVerfG, Beschluss vom 20.07.2000 – 1 BvR 352/00, NJW 2001, 214, 215[]
  4. vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.10.2003 – 1 BvR 901/03, NVwZ 2004, 334, 335[][]
  5. vgl. BVerfGE 104, 220, 232 f.; 105, 239, 246[]
  6. vgl. BVerfGE 91, 125, 133; 99, 129, 138[]
  7. vgl. BVerfGE 91, 125, 133; 103, 44, 58 ff.). Besonders gewichtig ist eine Grundrechtsverletzung, die auf eine generelle Vernachlässigung von Grundrechten hindeutet oder wegen ihrer Wirkung geeignet ist, von der Ausübung von Grundrechten abzuhalten ((vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.07.2008 – 1 BvR 547/06[]
  8. vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.07.2008 – 1 BvR 547/06[]
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