Die Erteilung eines Visums an einen drittstaatsangehörigen Arbeitnehmer nach § 6 Abs. 3, § 18 AufenthG i.V.m. § 21 BeschV und den Grundsätzen der Vander Elst-Rechtsprechung des EuGH (sog. „Vander Elst-Visum“) kommt nur zur Erbringung einer Dienstleistung durch ein Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der EU in Betracht.

Der unionsrechtliche Begriff der Dienstleistung umfasst nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH in Abgrenzung zum Niederlassungsrecht alle Dienstleistungen, die in einem anderen Mitgliedstaat nicht in stabiler und kontinuierlicher Weise, sondern nur vorübergehend erbracht werden1.
Die Prüfung, ob eine wirtschaftliche Tätigkeit nach den vom EuGH aufgestellten Kriterien den für eine Dienstleistung erforderlichen vorübergehenden Charakter aufweist, obliegt den nationalen Gerichten2.
Der Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit ist in der Rechtsprechung des EuGH – auch für die vorliegende Fallkonstellation – hinreichend geklärt.
Hinsichtlich der Auslegung des Begriffs der Dienstleistungsfreiheit in Art. 56 ff. AEUV (früher: Art. 49 ff. EG-Vertrag) in Abgrenzung zum Niederlassungsrecht in Art. 49 ff. AEUV (früher: Art. 43 ff. EG-Vertrag) ergibt sich aus der Rechtsprechung des EuGH, dass eine wirtschaftliche Tätigkeit entweder der Niederlassungs- oder der Dienstleistungsfreiheit unterfällt3 und die Vorschriften über die Dienstleistungen gegenüber denen über das Niederlassungsrecht subsidiär sind, weil für die Dienstleistungsfreiheit schon nach dem Wortlaut des Art. 56 Abs. 1 AEUV erforderlich ist, dass der Erbringer und der Empfänger der betreffenden Dienstleistung in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten „ansässig“ sind und weil nach Art. 57 AEUV die Vorschriften über die Dienstleistungen nur Anwendung finden, wenn die Vorschriften über das Niederlassungsrecht nicht anwendbar sind („unbeschadet des Kapitels über die Niederlassungsfreiheit“)4.
Das Niederlassungsrecht kann sowohl juristischen als auch natürlichen Personen zustehen, die Angehörige eines Mitgliedstaats der EU sind. Es umfasst grundsätzlich die Aufnahme und Ausübung selbständiger Tätigkeiten jeder Art, die Gründung und Leitung von Unternehmen und die Errichtung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften im Hoheitsgebiet jedes anderen Mitgliedstaats. Folglich kann eine Person in mehreren Mitgliedstaaten niedergelassen sein. Der unionsrechtliche Begriff der Niederlassung ist nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ein sehr weiter Begriff, der für Angehörige eines Mitgliedstaats die Möglichkeit impliziert, in stabiler und kontinuierlicher Weise am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaats teilzunehmen und daraus Nutzen zu ziehen, wodurch die wirtschaftliche und soziale Verflechtung innerhalb der Union im Bereich der selbständigen Tätigkeiten gefördert wird5. Hierfür bedarf es der tatsächlichen Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung im Aufnahmemitgliedstaat auf unbestimmte Zeit6. Eine ständige Präsenz im Aufnahmemitgliedstaat muss nicht die Form einer Zweigniederlassung oder Agentur angenommen haben7; sie muss sich aber auf der Grundlage objektiver und nachprüfbarer Anhaltspunkte feststellen lassen, die sich u.a. auf das Ausmaß des greifbaren Vorhandenseins in Form von Geschäftsräumen, Personal und Ausrüstungsgegenständen beziehen8.
Dagegen sehen die Vorschriften des Kapitels über die Dienstleistungen für den Fall, dass sich der Erbringer einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat begibt, vor, dass dieser seine Tätigkeit dort vorübergehend ausübt (vgl. Art. 57 Abs. 3 AEUV; früher: Art. 50 Abs. 3 EG-Vertrag). Soweit die Leistungserbringung in diesem Mitgliedstaat nicht stabil und kontinuierlich ist, sondern vorübergehend bleibt, fällt dies weiterhin unter die Vorschriften des Kapitels über die Dienstleistungen9. Diese erfassen alle Dienstleistungen, die nicht in stabiler und kontinuierlicher Weise von einem Berufsdomizil/einer Niederlassung im Empfängermitgliedstaat aus angeboten werden10. Dabei kommt es nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH für den vorübergehenden Charakter der Tätigkeiten im Aufnahmemitgliedstaat nicht nur auf die Dauer der Leistung, sondern auch auf ihre Häufigkeit, regelmäßige Wiederkehr oder Kontinuität an und schließt der vorübergehende Charakter der Leistung für den Dienstleistenden nicht die Möglichkeit aus, sich im Aufnahmemitgliedstaat mit einer bestimmten Infrastruktur (einschließlich eines Büros, einer Praxis oder einer Kanzlei) auszustatten, soweit diese Infrastruktur für die Erbringung der fraglichen Leistung erforderlich ist11. Der Begriff „Dienstleistung“ kann somit Dienstleistungen ganz unterschiedlicher Art umfassen, einschließlich solcher, deren Erbringung sich über einen längeren Zeitraum, bis hin zu mehreren Jahren, erstreckt, z.B., wenn es sich um Dienstleistungen handelt, die im Rahmen eines Großbauprojekts erbracht werden. Auch Leistungen, die ein in einem Mitgliedstaat ansässiger Wirtschaftsteilnehmer mehr oder weniger häufig oder regelmäßig, auch über einen längeren Zeitraum, für Personen erbringt, die in einem oder mehreren anderen Mitgliedstaaten niedergelassen sind, können Dienstleistungen sein, etwa die entgeltliche Beratung oder Auskunftserteilung. Das Unionsrecht enthält keine Vorschrift, die eine abstrakte Bestimmung der Dauer oder Häufigkeit ermöglicht, ab der die Erbringung einer Dienstleistung oder einer bestimmten Art von Dienstleistung in einem anderen Mitgliedstaat nicht mehr als eine Dienstleistung angesehen werden kann. Folglich reicht allein die Tatsache, dass ein in einem Mitgliedstaat niedergelassener Wirtschaftsteilnehmer gleiche oder ähnliche Dienstleistungen mehr oder weniger häufig oder regelmäßig in einem anderen Mitgliedstaat erbringt, ohne dass er dort über eine Infrastruktur verfügt, die es ihm erlauben würde, in diesem Mitgliedstaat in stabiler und kontinuierlicher Weise einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, nicht aus, um ihn als in diesem Mitgliedstaat niedergelassen anzusehen12.
In Anwendung dieser vom EuGH aufgestellten Grundsätze zur Abgrenzung der Dienstleistungs- von der Niederlassungsfreiheit ist das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg13 in der Vorinstanz zu dem Ergebnis gekommen, dass der laufenden Produktion von Betonfertigteilen durch die polnische Arbeitgeberin in Deutschland der Charakter einer vorübergehenden Dienstleistung fehlt und die geplante Entsendung des (hier:) ukrainischen Arbeitnehmers damit nicht von der Dienstleistungsfreiheit gedeckt war. Dabei hat es – entgegen der Ausführungen in der Beschwerde – nicht lediglich auf die Gesamtdauer der Werkverträge abgestellt, sondern die unionsrechtlich den Gerichten der Mitgliedstaaten belassene Gesamtbetrachtung vorgenommen. In diese hat es eingestellt, dass die polnische Arbeitgeberin im Rahmen der immer wieder für zwei Jahre abgeschlossenen Verträge mit einer Belegschaft von 50 bis 60 Arbeitnehmern, darunter mit einem Anteil von 10 bis 15 % Drittstaatsangehörige, die turnusmäßig ausgetauscht würden, in einem abgegrenzten Bereich und einer separaten Werkhalle auf dem Gelände der B. B. GmbH & Co. KG unter der Kontrolle von drei bis vier eigenen Vorarbeitern Betonfertigteile herstelle und dabei Arbeitnehmer der deutschen Firma nur für unterstützende Arbeiten (technische Dienste, Hilfsdienste, Zulieferung, Qualitätskontrollen), nicht aber in der eigentlichen Produktion zum Einsatz kämen. Für die Unterbringung der Arbeitnehmer habe die polnische Arbeitgeberin ein Hotel (Wohnheim) angemietet. Die Arbeitnehmer würden je nach Arbeitsanfall in Deutschland oder dem Werk der polnischen Arbeitgeberin in Polen eingesetzt und hin und her geschickt. Diese Umstände habe der Geschäftsführer der polnischen Arbeitgeberin in der mündlichen Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg zutreffend mit den Worten beschrieben, dass man eigentlich seine Arbeit in zwei Werken führe. Für eine verfestigte und kontinuierliche Tätigkeit in Deutschland spreche ferner die Gestaltung der Werkverträge, die immer wieder für zwei Jahre geschlossen würden und keine abgrenzbaren Projekte zum Gegenstand hätten, sondern die laufende Produktion von Betonfertigteilen, begrenzt lediglich durch die vom zeitlichen Rahmen der einzelnen Verträge bestimmte mengenmäßige Beschränkung. Zudem füge sich die beabsichtigte Entsendung des ukrainischen Arbeitnehmers ein in ein längerfristig angelegtes Rotationssystem von Arbeitnehmern zur Unterstützung der Produktionsstätte in Deutschland. Die Tätigkeit der polnische Arbeitgeberin für die deutsche GmbH & Co. KG dauere nach den Angaben des Geschäftsführers der polnischen Arbeitgeberin vor dem Verwaltungsgericht seit mindestens 2009 an. Aus der von der polnische Arbeitgeberin vorgelegten Übersicht über die seit 2012 an ukrainische Arbeitnehmer der polnischen Arbeitgeberin erteilten Visa nach Vander Elst ergebe sich, dass die polnische Arbeitgeberin kontinuierlich und durchgehend Arbeitnehmer stets an die B. B. GmbH & Co. KG entsende, um in deren Werk Betonfertigteile herzustellen. Diesen Umständen hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg in der Gesamtschau eine vom Anwendungsbereich des freien Dienstleistungsverkehrs nicht mehr erfasste verfestigte und auf Dauer angelegte Zuführung von Arbeitskräften zugunsten der Produktionsstätte in Deutschland entnommen.
Dass die Sachverhalte, die den vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg13 zitierten EuGH, Entscheidungen zugrunde lagen, mit der hier vorliegenden Fallgestaltung nicht identisch waren, begründet entgegen der Auffassung der Beschwerde keine Vorlagepflicht. Denn die vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg herangezogenen Ausführungen des EuGH zur Abgrenzung der Dienstleistungs- von der Niederlassungsfreiheit sind abstrakt-genereller Art und beruhen – wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt – auf einer seit Jahren gefestigten Rechtsprechung. Zudem weist der EuGH selbst darauf hin, dass die Prüfung, ob eine wirtschaftliche Tätigkeit hiernach den für eine Dienstleistung erforderlichen vorübergehenden Charakter aufweist, den nationalen Gerichten obliegt, die den Sachverhalt unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls dahingehend zu würdigen haben, ob ein Unternehmen in Anwendung der vom EuGH aufgestellten Grundsätze in einem Mitgliedstaat über eine Infrastruktur verfügt, aufgrund derer es als in diesem Mitgliedstaat niedergelassen anzusehen ist14. Vor diesem Hintergrund wirft der vorliegende Fall keine unionsrechtlichen Zweifelsfragen zum Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit auf, sondern betrifft lediglich die den nationalen Gerichten vorbehaltene Prüfung der vom EuGH aufgestellten Grundsätze auf einen konkreten Einzelfall.
Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 20. Juni 2019 – 1 B 10.19
- vgl. u.a. EuGH, Urteile vom 11.12 2003 – C-215/01, Schnitzer, Rn. 27; und vom 19.07.2012 – C-470/11, SIA Garkalns, Rn. 27[↩]
- EuGH, Urteile vom 11.12 2003 – C-215/01, Schnitzer, Rn. 33; und vom 19.07.2012 – C-470/11, SIA Garkalns, Rn. 30 f.[↩]
- EuGH, Urteil vom 30.11.1995 – C-55/94, Rn.20[↩]
- vgl. EuGH, Urteil vom 30.11.1995 – C-55/94, Rn. 22; s.a. Urteile vom 12.12 1996 – C-3/95 [ECLI:EU:C:1996:487], Reisebüro Broede, Rn.19; vom 11.12 2003 – C-215/01 [ECLI:EU:C:2003:662], Schnitzer, Rn. 26; und vom 11.03.2010 – C-384/08 [ECLI:EU:C:2010:133], Attanasio, Rn. 39[↩]
- EuGH, Urteil vom 30.11.1995 – C-55/94, Rn. 23 bis 25; s.a. Urteile vom 12.12 1996 – C-3/95, Rn.20; vom 14.09.2006 – C-386/04 [ECLI:EU:C:2006:568], Stauffer, Rn. 18; vom 11.10.2007 – C-451/05 [ECLI:EU:C:2007:594], ELISA, Rn. 59; vom 11.03.2010 – C-384/08, Rn. 36; und vom 26.10.2010 – C-97/09 [ECLI:EU:C:2010:632], Schmelz, Rn. 37[↩]
- EuGH, Urteil vom 25.07.1991 – C-221/89 [ECLI:EU:C:1991:320], Factortame, Rn.20; s.a. Urteile vom 12.09.2006 – C-196/04 [ECLI:EU:C:2006:544], Cadbury Schweppes, Rn. 54; und vom 22.11.2018 – C-625/17 [ECLI:EU:C:2018:939], Vorarlberger Landes- und Hypothekenbank AG, Rn. 35[↩]
- EuGH, Urteile vom 11.10.2007 – C-451/05, , Rn. 59; und vom 08.09.2010 – C-316/07, – C-358/07 bis – C-360/07, – C-409/07 und – C-410/07 [ECLI:EU:C:2010:504], Stoß u.a., Rn. 59[↩]
- EuGH, Urteil vom 26.10.2010 – C-97/09, Rn. 38[↩]
- EuGH, Urteile vom 13.02.2003 – C-131/01 [ECLI:EU:C:2003:96], Kommission/Italien, Rn. 23; und vom 11.12 2003 – C-215/01, Rn. 27[↩]
- EuGH, Urteile vom 29.04.2004 – C-171/02 [ECLI:EU:C:2004:270], Kommission/Portugal, Rn. 25; vom 10.05.2012 – C-357/10 bis 359/10 [ECLI:EU:C:2012:283], Duomo Gpa u.a., Rn. 31; und vom 19.07.2012 – C-470/11 [ECLI:EU:C:2012:505], SIA Garkalns, Rn. 27[↩]
- EuGH, Urteil vom 30.11.1995 – C-55/94, Rn. 26 f.; s.a. Urteile vom 12.12 1996 – C-3/95, Rn. 21; und vom 11.12 2003 – C-215/01, Rn. 28[↩]
- EuGH, Urteil vom 11.12 2003 – C-215/01, Rn. 30 bis 32; s.a. Urteile vom 10.05.2012 – C-357/10 bis 359/10, Rn. 32; vom 19.07.2012 – C-470/11, Rn. 28; und vom 30.04.2014 – C-475/12 [ECLI:EU:C:2014:285], UPC DTH Sàrl, Rn. 74 f.[↩]
- OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 09.11.2018 – OVG 6 B 10.17[↩][↩]
- EuGH, Urteile vom 11.12 2013 – C-215/01, Rn. 33; und vom 19.07.2012 – C-470/11, Rn. 30 f.[↩]