EU-Recht – und die Grenzen richterlicher Rechtsauslegung

Die richtlinienkonforme Auslegung eines deutschen Gesetzes entgegen seinem eindeutigen Wortlaut, seinem Sinn und Zweck und der Gesetzgebungsgeschichte überschreitet die Befugnis der Gerichte. Dies gilt auch dann, wenn nur hierdurch den Anforderungen einer unionsrechtlichen Richtlinie bzw. einer entsprechenden Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union genügt werden kann.

EU-Recht – und die Grenzen richterlicher Rechtsauslegung

Das verbietet dem Gericht das in Art.20 Abs. 3 GG verankerte Rechtsstaatsprinzip. Die Beachtung des klar erkennbaren Willens des Gesetzgebers ist Ausdruck demokratischer Verfassungsstaatlichkeit. Dies trägt dem Grundsatz der Gewaltenteilung (Art.20 Abs. 2 Satz 2 GG) Rechnung. Das Gesetz bezieht seine Geltungskraft aus der demokratischen Legitimation des Gesetzgebers, dessen artikulierter Wille den Inhalt des Gesetzes daher mitbestimmt. Der klar erkennbare Wille des Gesetzgebers darf nicht übergangen oder verfälscht werden. So verwirklicht sich die in Art.20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG vorgegebene Bindung der Gerichte an das Gesetz, weil dies eine Bindung an die im Normtext zum Ausdruck gebrachte demokratische Entscheidung des Gesetzgebers ist1.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs darf die Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen2.

Die Auslegung des nationalen Rechts darf nicht dazu führen, dass einer nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Norm ein entgegengesetzter Sinn gegeben oder der normative Gehalt der Norm grundlegend neu bestimmt wird. Richterliche Rechtsfortbildung berechtigt den Richter nicht dazu, seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers zu setzen3. Demgemäß kommt eine richtlinienkonforme Auslegung nur in Frage, wenn eine Norm tatsächlich unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten im Rahmen dessen zulässt, was der gesetzgeberischen Zweckund Zielsetzung entspricht. Die Pflicht zur Verwirklichung des Richtlinienziels im Auslegungswege findet ihre Grenzen an dem nach der innerstaatlichen Rechtstradition methodisch Erlaubten4.

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Die richtlinienkonforme Auslegung eines deutschen Gesetzes entgegen seinem eindeutigen Wortlaut, seinem Sinn und Zweck und der Gesetzgebungsgeschichte überschreitet die Befugnis der Gerichte.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 31. März 2020 – XI ZR 198/19

  1. BVerfGE 149, 126 Rn. 75[]
  2. EuGH, Urteil vom 16.06.2005 [Große Kammer] – C-105/03, „Pupino“, Slg. 2005, I- 5285 Rn. 47; Urteil vom 04.07.2006 [Große Kammer] – C-212/04, „Adeneler“, Slg. 2006, I-6057 Rn. 110; Urteil vom 15.04.2008 [Große Kammer] – C-268/06, „Impact“, Slg. 2008, I-2483 Rn. 100, 103; Urteil vom 24.01.2012 [Große Kammer] – C-282/10, „Dominguez“, NJW 2012, 509 Rn. 25; Urteil vom 22.01.2019 [Große Kammer] – C-193/17, „Cresco Investigation“, NZA 2019, 297 Rn. 74; Urteil vom 08.05.2019 – C-486/18, „Praxair MRC“, NZA 2019, 1131 Rn. 38; Urteil vom 11.09.2019 – C-143/18, „Romano“, WM 2019, 1919 Rn. 38; BVerfG, WM 2012, 1179, 1181; BGH, Urteil vom 15.10.2019 – XI ZR 759/17, WM 2019, 2164 Rn. 22 mwN[]
  3. BVerfG, WM 2012, 1179, 1181[]
  4. BGH, Urteile vom 07.05.2014 – IV ZR 76/11, BGHZ 201, 101 Rn.20; vom 28.06.2017 – IV ZR 440/14, BGHZ 215, 126 Rn. 24; vom 26.03.2019 – II ZR 244/17, WM 2019, 925 Rn. 21; und vom 15.10.2019 – XI ZR 759/17, WM 2019, 2164 Rn. 24 mwN; BVerfG, aaO[]
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