Die Notare in Polen, die auf gemeinsamen Antrag aller Beteiligten des notariellen Verfahrens eine Urkunde über die Bestätigung der Erbenstellung errichten, sind keine „Gerichte“ im Sinne der Erbsachenverordnung, und diese Urkunde ist folglich keine in einer Erbsache erlassene „Entscheidung“. Diese Urkunde ist jedoch eine „öffentliche Urkunde“

Dies entschied jetzt Gerichtshof der Europäischen Union auf ein entsprechendes Vorabentscheidungsersuchen des polnischen Sad Okregowy w Gorzowie Wielkopolskim (Bezirksgericht Gorzów Wielkopolski) in einem deutschpolnischen Erfall: Der am 6. August 2016 verstorbene Vater des Antragstellers WB war polnischer Staatsangehöriger und hatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Polen. WB war Beteiligte des Verfahrens über den Nachlass ihres Vaters vor Frau Przemyslawa Bac, einer Notarin in Slubice (Polen). Die Notarin erstellte am 21. Oktober 2016 eine Urkunde über die Bestätigung der Erbenstellung. Der Erblasser war ein Unternehmer, der eine wirtschaftliche Tätigkeit im deutschpolnischen Grenzgebiet ausübte. WB wollte wissen, ob er bei einer oder mehreren deutschen Banken über Guthaben verfügte, und, wenn ja, über den Betrag dieser möglicherweise in den Nachlass fallenden Guthaben informiert werden. Zu diesem Zweck beantragte WB die Aushändigung einer Ausfertigung der von der Notarin errichteten Urkunde über die Bestätigung der Erbenstellung und eine Bescheinigung, dass diese Urkunde eine in einer Erbsache erlassene Entscheidung im Sinne des Unionsrechts sei. Für den Fall der Ablehnung dieses Antrags beantragte WB die Erteilung einer Ausfertigung der Urkunde über die Bestätigung der Erbenstellung und eine Bescheinigung, dass diese Urkunde eine öffentliche Urkunde in Erbsachen sei.
Mit Protokoll vom 7. Juni 2017 lehnte ein in der Kanzlei von Frau Bac tätiger Notarvertreter diese Anträge ab. Er stellte im Wesentlichen fest, dass die Urkunde über die Bestätigung der Erbenstellung eine „Entscheidung“ im Sinne des Unionsrechts sei und er keine Bescheinigung nach dem im Unionsrecht vorgeschriebenen Muster ausstellen könne, da die Republik Polen der Kommission die Liste der Behörden und Angehörigen der Rechtsberufe nicht mitgeteilt habe. Zum Hilfsantrag von WB wies der Notarvertreter darauf hin, dass die Einstufung der Urkunde über die Bestätigung der Erbenstellung als „Entscheidung“ ihre Einstufung als „öffentliche Urkunde“ ausschließe, so dass die Ausstellung der entsprechenden Bescheinigung nach dem im Unionsrecht vorgeschriebenen Muster nicht möglich sei.
WB legte bei dem Sad Okregowy w Gorzowie Wielkopolskim (Bezirksgericht Gorzów Wielkopolski, Polen) eine Beschwerde ein. Dieses Gericht richtete daraufhin ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zu der Rechtsfrage, ob ein polnischer Notar, der mit der Errichtung einer Urkunde über die Bestätigung der Erbenstellung betraut ist, gerichtliche Funktionen ausübt und ob das von ihm errichtete Schriftstück eine öffentliche Urkunde ist, von der auf Antrag jeder Person, die an der Verwendung dieses Schriftstücks in einem anderen Mitgliedstaat interessiert ist, eine Ausfertigung zusammen mit dem in der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses1 genannten Formblatt erteilt werden kann.
Im Wege eines solchen Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Europäischen Union vorlegen. Der Unionsgerichtshof entscheidet dabei nur über die vorgelegte Rechtsfrage, nicht aber über den nationalen Rechtsstreit. Es ist und bleibt vielmehr Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache sodann im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Unionsgerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
In seinem jetzt verkündeten Urteil stellt der Gerichtshof der Europäischen Union zunächst fest, dass der Begriff „Gericht“ im Sinne dieser Verordnung jedes Gericht und alle sonstigen Behörden und Angehörigen von Rechtsberufen mit Zuständigkeiten in Erbsachen bezeichnet, die gerichtliche Funktionen ausüben oder in Ausübung einer Befugnisübertragung durch ein Gericht oder unter der Aufsicht eines Gerichts handeln, sofern diese anderen Behörden und Angehörigen von Rechtsberufen ihre Unparteilichkeit und das Recht der Parteien auf rechtliches Gehör gewährleisten und ihre Entscheidungen nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem sie tätig sind, vor einem Gericht angefochten oder von einem Gericht nachgeprüft werden können und vergleichbare Rechtskraft und Rechtswirkung haben wie eine Entscheidung eines Gerichts in der gleichen Sache.
Nachdem der Unionsgerichtshof festgestellt hat, dass es nur einen Hinweischarakter hat, wenn Polen nicht mitgeteilt hat, dass die Notare gerichtliche Funktionen ausüben, und ihre Einstufung als „Gericht“ nicht ausschließt, wenn sie die in der genannten Verordnung vorgesehenen Anforderungen erfüllen, prüft er, ob ein Notar, der auf gemeinsamen Antrag aller Beteiligten des notariellen Verfahrens eine Urkunde über die Bestätigung der Erbenstellung errichtet, gerichtliche Funktionen im Sinne der Verordnung ausübt. Er weist darauf hin, dass die Ausübung gerichtlicher Funktionen voraussetzt, kraft eigener Befugnis über zwischen den Parteien bestehende Streitpunkte entscheiden zu können. Damit davon ausgegangen werden kann, dass eine Behörde angesichts der besonderen Natur der von ihr ausgeübten Tätigkeit eine Rechtsprechungstätigkeit ausübt, muss sie die Befugnis haben, einen möglichen Rechtsstreit zu entscheiden. Dies ist nicht der Fall, wenn die Befugnis des in Rede stehenden Angehörigen der Rechtsberufe allein vom Willen der Beteiligten abhängt. Da die notariellen Tätigkeiten in Bezug auf die Ausstellung von Urkunden über die Bestätigung der Erbenstellung auf einstimmigen Antrag der Beteiligten unbeschadet der Vorrechte des Gerichts bei fehlender Einigkeit der Beteiligten ausgeübt werden, üben die polnischen Notare keine Entscheidungsbefugnis aus. Da eine Urkunde über die Bestätigung der Erbenstellung nicht von einem Gericht ausgestellt wird, ist sie keine in einer Erbsache erlassene „Entscheidung“ im Sinne der Verordnung.
Was schließlich die Frage betrifft, ob eine Urkunde über die Bestätigung der Erbenstellung wie die polnische Urkunde über die Bestätigung der Erbenstellung, die von einem Notar auf Antrag aller Beteiligten eines notariellen Verfahrens errichtet wird, eine „öffentliche Urkunde“ ist, weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Notare nach polnischem Recht ermächtigt sind, Schriftstücke in Erbsachen auszustellen, und dass die Urkunde über die Bestätigung der Erbenstellung förmlich als öffentliche Urkunde eingetragen wird. Darüber hinaus hebt der Unionsgerichtshof hervor, dass diese Urkunde dieselben Wirkungen hat wie ein rechtskräftiger Beschluss über die Feststellung des Erbschaftserwerbs. Im Übrigen führt der Notar Prüfungen durch, die dazu führen können, dass er die Errichtung der Urkunde über die Bestätigung der Erbenstellung ablehnt, so dass die Authentizität dieses Schriftstücks sich auf ihre Unterschrift und ihren Inhalt bezieht. Eine Urkunde über die Bestätigung der Erbenstellung ist daher eine öffentliche Urkunde im Sinne der genannten Verordnung.
Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 23. Mai 2019 – C -658/17
- ABl. 2012, L 201, S. 107[↩]
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