Zu jung für den Kündigungsschutz? – Kücükdeveci und die Folgen

Nach § 622 Abs. 2 BGB verlängert sich bei einem Arbeitsverhältnis die vom Arbeitgeber einzuhaltenden Kündigungsfrist in mehreren Stufen, je länger das Arbeitsverhältnis besteht. So kann nach fünf Jahren besipielsweise nur noch mit einer Frist von zwei Monaten zum Monatsende gekündigt werden, bei einem seit 20 Jahren bestehenden Arbeitsverhältnis verlängert sich gar auf sieben Monate, usw. Allerdings sieht das Gesetz für diese Verlängerungen eine Einschränkung vor: Gemäß § 622 Abs. 2 S. 2 BGB werden bei der Berechnung der für die Kündigungsfrist maßgeblichen Beschäftigungsdauer die Zeiten, die vor der Vollendung des 25. Lebensjahrs des Arbeitnehmers liegen, nicht berücksichtigt.

Zu jung für den Kündigungsschutz? – Kücükdeveci und die Folgen

Nach einem heute verkündeten Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union verstößt diese deutsche Regelung des § 622 Abs. 2 S. 2 BGB gegen das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78 und ist daher von den nationalen Gericht auch in einem Rechtsstreit zwischen Privaten erforderlichenfalls unangewendet zu lassen.

Die europarechtliche Vorgeschichte[↑]

Die Anti-Diskriminierungs-Richtlinie 2000/781 verbietet die Diskriminierung unter anderem wegen des Alters, gestattet aber dem nationalen Gesetzgeber, vorzusehen, dass eine Ungleichbehandlung, obwohl sie auf dem Alter beruht, in bestimmten Fällen keine Diskriminierung und somit nicht verboten ist. Eine Ungleichbehandlung wegen des Alters ist danach, wie der Gerichtshof der Europäischen Union erst kürzlich in zwei Urteilen zu Altersgrenzen für Vertragszahnärzte und Feuerwehrleute bestätigt hat, etwa dann zulässig, wenn sie durch ein legitimes Ziel aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung gerechtfertigt ist und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind.

Bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist dieser Richtlinie hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im Jahre 2005 in seinem Mangold-Urteil2 geurteilt, dass ein Verbot der Diskriminierung wegen des Alters besteht, das als ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts anzusehen ist.

Auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon im Dezember 2009 den gleichen rechtlichen Rang wie die EU-Verträge hat, verbietet in ihrem Art. 21 Abs. 1 Diskriminierungen wegen des Alters.

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Der Fall[↑]

Die Klägerin des deutschen Ausgangsverfahrens, Frau Kücükdeveci, war seit ihrem vollendeten 18. Lebensjahr bei dem Unternehmen Swedex GmbH & Co. KG beschäftigt. Im Alter von 28 Jahren wurde sie unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von einem Monat entlassen. Der Arbeitgeber berechnete die Kündigungsfrist unter Zugrundelegung einer Beschäftigungsdauer von drei Jahren, obwohl die Arbeitnehmerin seit zehn Jahren bei ihm beschäftigt war. Wie in § 622 Abs. 2 S. 2 BGB vorgesehen, hatte er die vor der Vollendung des 25. Lebensjahrs liegenden Beschäftigungszeiten von Frau Kücükdeveci bei der Berechnung der Kündigungsfrist nicht berücksichtigt.

Frau Kücükdeveci klagte gegen ihre Entlassung und machte dabei unter anderem geltend, dass die Nichtberücksichtigung der vor dem 25. Lebensjahr liegenden Beschäftigungszeiten eine aufgrund der Antidiskriminierungsrichtlinie unionsrechtlich verbotene Diskriminierung wegen des Alters darstelle. Die Kündigungsfrist hätte daher in ihrem Fall auf der Grundlage einer 10jährigen Betriebszugehörigkeit berechnet werden und damit vier Monate betragen müssen.

Nachdem das zunächst mit diesem Rechtsstreit befasste Arbeitsgericht Mönchengladbach der Klage von Frau Kücükdeveci stattgegeben hatte, hat das in der Berufungsinstanz mit diesem Kündigungsrechtsstreit befasste Landesarbeitsgericht Düsseldorf den bei ihm anhängigen Rechtsstreit ausgesetzt und zunächst den Gerichtshof der Europäischen Union im Wege des Vorabentscheidungsersuchens die Frage einer Vereinbarkeit der Kündigungsregelung des § 622 Abs. 2 S. 2 BGB mit dem Unionsrecht und zu den Folgen einer etwaigen Unvereinbarkeit vorgelegt.

Angesichts der Argumentation des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften im Urteil Mangold hat das vorlegende Landesarbeitsgericht Düsseldorf Zweifel, ob die in § 622 Abs. 2 S. 2 BGB normierte Ungleichbehandlung nach den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts oder im Licht des Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 sachlich zu rechtfertigen ist.

In seinem Vorlagebeschluss legt das Landesarbeitsgericht dar, dass die Gestaltung des Bestandsschutzes das Einstellungsverhalten der Arbeitgeber zwar mittelbar beeinflussen möge, dass aber nicht belegt sei, dass die Altersschwelle von 25 Jahren Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik und Arbeitsmarkt konkret verfolge und verwirkliche. Die Verknüpfung der Kündigungsfristverlängerung mit einem Mindestalter beruhe wesentlich auf sozial-, gesellschafts- und familienpolitischen Gestaltungsvorstellungen des deutschen Gesetzgebers und auf der Einschätzung, dass ältere Arbeitnehmer wegen ihrer familiären und wirtschaftlichen Verpflichtungen und abnehmender beruflicher Flexibilität und Mobilität von den Folgen der Arbeitslosigkeit stärker betroffen seien. § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB spiegele daher die Einschätzung des Gesetzgebers wider, dass es jüngeren Arbeitnehmern regelmäßig leichter falle und schneller gelinge, auf den Verlust ihres Arbeitsplatzes zu reagieren, und dass ihnen aufgrund ihres Alters größere Flexibilität und Mobilität zugemutet werden könne. § 622 Abs. 2 BGB habe nach seinem auf den Schutz länger beschäftigter, älterer Arbeitnehmer ausgerichteten Zweck unzweifelhaft zum Regelungsinhalt, dass bis zum vollendeten 25. Lebensjahr zurückgelegte Beschäftigungszeiten unbeachtlich bleiben und erst ab diesem Alter Arbeitnehmer sukzessive nach der Dauer ihrer Betriebszugehörigkeit in den Besitzstand längerer Kündigungsfristen hineinwachsen sollten.

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Mit einem solchen Vorabentscheidungsersuchens können die Fachgerichte der EU-Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof der Europäischen Union u.a. Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet dabei nicht über den nationalen Rechtsstreit, sondern ausschließlich über die ihm vorgelegte abstrakte Rechtsfrage. Es obliegt sodann den nationalen Gerichte, über den konkreten Rechtsstreit im Einklang mit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zu entscheiden. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs die nationalen Gerichte nicht nur in dem Rechtsstreit, in dem das Vorabentscheidungsersuchen erging, sie bindet in gleicher Weise auch andere nationale Gerichte aller Mitgliedsstaaten, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.

Das Verbot der Altersdiskriminierung[↑]

Der Europäische Gerichtshof prüft die Fragen der Vereinbarkeit einer solchen Berechnung der Kündigungsfristen mit dem Unionsrecht ausdrücklich auf der Grundlage des von ihm bereits in der Mangold-Entscheidung festgestellten, jede Diskriminierung wegen des Alters verbietenden allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts, wie er nunmehr in der Antidiskriminierungs-Richtlinie 2000/78 konkretisiert ist.

Anders als noch bei der Mangold-Entscheidung war zu dem Zeitpunkt, zu dem Frau Kücükdeveci entlassen worden war, die Umsetzungsfrist der Antidiskriminierungs-Richtlinie 2000/78 bereits abgelaufen, d.h. zum Zeitpunkt der Kündigung von Frau Kücükdeveci musste die Richtlinie durch die Mitgliedsstaaten (und damit auch durch die Bundesrepublik Deutschland) in innerstaatliches Recht umgesetzt worden sein. Dies hat nach dem Urteil des EuGH zur Folge, dass die deutsche Kündigungsregelung in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.

Der Europäische Gerichtshof stellt fest, dass diese Kündigungsregelung formal eine Ungleichbehandlung enthält, die auf dem Kriterium des Alters beruht, denn die Regelung des § 622 Abs. 2 S. 2 BGB sieht eine weniger günstige Behandlung für Arbeitnehmer vor, die ihre Beschäftigung bei dem Arbeitgeber vor Vollendung des 25. Lebensjahrs aufgenommen haben. Sie behandelt somit Personen, die die gleiche Betriebszugehörigkeitsdauer aufweisen, unterschiedlich, je nachdem, in welchem Alter sie in den Betrieb eingetreten sind.

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Gleichzeitig versagte der Gerichtshof der Europäischen Union dieser Ungleichbehandlung aber eine Rechtfertigung aus Gründen der Beschäftigungspolitik oder der Arbeitsmarktpolitik. Der Europäische Gerichtshof akzeptiert zwar, dass die mit dieser Regelung der Kündigungsfrist beabsichtigten Ziele zum Bereich der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik zählen und daher legitim sind. Allerdings ist die die konkrete Regelung des § 622 Abs. 2 S. 2 BGB zur Erreichung dieser legitimen Ziele nach Auffassung des Gerichtshofs der Europäischen Union weder angemessen noch geeignet.

Zu dem angeführten Ziel, dem Arbeitgeber eine größere personalwirtschaftliche Flexibilität zu verschaffen, indem seine Belastung im Zusammenhang mit der Entlassung jüngerer Arbeitnehmer verringert werde, denen eine größere berufliche und persönliche Mobilität zugemutet werden könne, stellt der Europäische Gerichtshof ausdrücklich fest, dass die fragliche Regelung keine im Hinblick auf die Erreichung dieses Zieles angemessene Maßnahme ist, weil sie für alle Arbeitnehmer, die vor Vollendung des 25. Lebensjahrs in den Betrieb eingetreten sind, unabhängig davon gilt, wie alt sie zum Zeitpunkt ihrer Entlassung sind.

Damit steht nach Auffassung des EuGH das Unionsrecht, insbesondere das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Antidiskriminierungs-Richtlinie 2000/78 einer nationalen Regelung wie der deutschen entgegensteht, nach der vor Vollendung des 25. Lebensjahrs liegende Beschäftigungszeiten des Arbeitnehmers bei der Berechnung der Kündigungsfrist nicht berücksichtigt werden.

Das Problem der unmittelbaren Geltung der Richtlinie[↑]

Mit der damit getroffenen Feststellung einer mangelhaften Umsetzung der Antidiskriminierungs-Richtlinie 2000/78 durch den deutschen Gesetzgeber entstand für den Gerichtshof der Europäischen Union jedoch ein weiteres Problem: Adressat einer EU-Richtlinie ist nicht der einzelne Unionsbürger, Adressaten einer EU-Richtlinie sind ausschließlich die EU-Mitgliedsstaaten, die diese Richtlinie in nationales Recht umzusetzen haben. Die Richtlinie gilt daher unmittelbar stets nur im Verhältnis der EU zu ihren Mitgliedsstaaten.

Im Verhältnis eines Mitgliedsstaates zu seinen Bürgern ist seit langem anerkannt, dass sich der Mitgliedsstaat nach Ablauf der Umsetzungsfrist nicht auf die mangelhafte Umsetzung berufen kann, so dass sich der Bürger gegenüber dem Staat bei einer falschen oder lückenhaften Umsetzung der Richtlinie gegenüber dem Mitgliedsstaat unmittelbar auf die Regelungen der Richtlinie berufen kann.

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Anders sieht dies jedoch bei einem Rechtsstreit zwischen privaten Rechtspersönlichkeiten aus: Diese sind – anders als der jeweilige Mitgliedsstaat – nicht Adressat der Richtlinie, so dass diese nicht unmittelbar gegenüber dem Privaten Anwendung finden kann. Zwar hat das angerufene nationale Gericht – als staatliches Organ – das nationale Recht in diesen Fällen nach Möglichkeit richtlinienkonform auszulegen und bestehende Lücken richtlinienkonform zu schließen, wenn dies aber – etwa wegen des eindeutigen Gesetzeswortlauts – nicht möglich ist, ist dem Urteil das richtlinienwidrige nationale Recht zugrunde zu legen. Dem in diesem Fall von der mangelhaften Umsetzung der Richtlinie betroffenen (quasi um sein EU-Recht gebrachten) Bürger blieb in diesem Fall nur, seinen aus der mangelhaften Umsetzung der EU-Richtlinie resultierenden Schaden nach Möglichkeit als Staatshaftungsanspruch geltend zu machen.

Dies beruhte (vor Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages) auf der Regelung des Art. 249 EG bzw. (seit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages) auf Art. 288 AEU, wonach die Richtlinie für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich ist, jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel überlässt.

Der zuständige Generalanwalt beim EuGH, Yves Bot, hat insoweit in seinem Schlussantrag dem Europäischen Gerichtshof eine „radikale“ Lösung vorgeschlagen: Nach dem Schlussantrag des Generalanwalts soll das nationale Gericht, wenn es das innerstaatliche Recht nicht gemäß der Antidiskriminierungs-Richtlinie 2000/78 auslegen kann, nach dem Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts und unter Berücksichtigung des Verbots der Altersdiskriminierung befugt sein, die Anwendung des der Richtlinie entgegenstehenden innerstaatlichen Rechts auszuschließen, und zwar auch im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Privaten3.

Diese Kehrtwende hin zu einer unmittelbaren Anwendbarkeit mangelhaft umgesetzter EU-Richtlinien auch zwischen privaten Rechtspersonen mochte der Gerichtshof der Europäischen Union nun aber doch nicht vollziehen. Und er behalf sich mit dem gleichen Kunstgriff, den er – vor Ablauf der Umsetzungsfrist zur Antidiskriminierungs-Richtlinie – auch schon in seiner Mangold-Entscheidung angewendet hat:

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Der EuGH bestätigte zunächst den Grundsatz, dass eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen kann, so dass ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche nicht möglich ist. Dann erinnerte er jedoch an die von ihm bereits in seinem Mangold-Urteil getroffene Feststellung, dass das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts sei. Und dieser allgemeine Grundsatz der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf werde in der Antidiskriminierungs-Richtlinie 2000/78 nur konkretisiert. Und dieser allgemeine Grundsatz des EU-Rechts gelte auch zwischen Privaten.

Das Urteil[↑]

Die Bestimmung des § 622 Abs. 2 S. 2 BGB verstößt daher nach Auffassung der Luxemburger EU-Richter nicht nur gegen die Antidiskriminierungs-Richtlinie 2000/78, sondern auch gegen den vom EuGH bereits im Mangold-Urteil festgestellten EU-rechtlichen Grundsatzes des Verbots der Altersdiskriminierung in Beschäftigung und Beruf.

Nachdem er auf die Möglichkeit für das nationale Gericht hingewiesen hat, den Europäischen Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung um Auslegung des Unionsrechts zu ersuchen, stellt der Gerichtshof abschließend fest, dass es dem nationalen Gericht obliegt, in einem Rechtsstreit zwischen Privaten die Beachtung des Verbots der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78 sicherzustellen, indem es erforderlichenfalls entgegenstehende Vorschriften des innerstaatlichen Rechts unangewendet lässt, unabhängig davon, ob es von seiner Befugnis Gebrauch macht, den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung über die Auslegung dieses Verbots zu ersuchen.

Der EuGH verpflichtet damit die deutschen Arbeitsgerichte, die Bestimmung des § 622 Abs. 2 S. 2 BGB zukünftig nicht mehr anzuwenden.

Die Folgen[↑]

Der Europäische Gerichtshof vermeidet die unmittelbare Anwendung einer mangelhaft umgesetzten EU-Richtlinie zwischen Privaten und greift hierzu auf seine Rechtsprechung im Mangold-Urteil zu einem dem EU-Recht immanenten Antidiskriminierungsgrundsatz zurück. Gleichzeitig postuliert er eine Verpflichtung der Gerichte der Mitgliedsstaaten, innerstaatliches Rechts bei einem Verstoß gegen diesen vom EuGH postulierten EU-rechltichen Grundsatz unangewendet zu lassen.

Bereits das 2005 ergangene Mangold-Urteil hat eine lebhafte Diskussion nicht nur in der deutschen Rechtswissenschaft erfahren. Dabei geht es um die Frage, ob die „Erfindung“ eines bis dahin nicht wirksam im EU-Recht normierten Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts, der die Diskriminierung aufgrund des Alters verbiete, noch von den Kompetenzen umfasst ist, wie sie von den EU-Mitgliedsstaaten in den nationalen Zustimmungsgesetzen zu den EU-Verträgen an die Europäischen Gemeinschaften übertragenen wurde, oder ob es sich hierbei – wie etwa der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts und spätere Bundespräsident Roman Herzog vertritt4, um einen sogenannten „ausbrechenden Rechtsakt“ handelt, der von den Mitgliedsstaaten so nicht hinzunehmen ist.

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Zu genau dieser Frage, ob es sich bei dem Mangold-Entscheidung um einen „ausbrechenden Rechtsakt“ handelt, wird demnächst auch das Bundesverfassungsgericht im Honeywell-Verfahren Stellung nehmen müssen, das bei ihm anhängig ist. Sollten auch die Karlsruhe Bundesverfassungsrichter in dem bei ihm zur Entscheidung anstehenden Honeywell-Verfahren das Mangold-Urteil als „ausbrechenden Rechtsakt“ ansehen, wäre eine weitere Anwendung dieser EuGH-Rechtsprechung in Deutschland ausgeschlossen.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner EU-Rechtsprechung bisher noch nie einen solchen ausbrechenden Rechtsakt festgestellt, sondern immer nur die Grenzen der EU-Kompetenzen aufgezeigt. Doch in seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag hat das Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht, dass es diese Zurückhaltung zukünftig aufgeben könnte: Die mit dem Ver­trag von Lis­s­abon noch ein­mal ver­stärk­te Über­tra­gung von Zu­stän­dig­kei­ten und die Ver­selb­stän­di­gung der Entschei­dungs­ver­fah­ren setzt, so das BVerfG in seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag, eine wirk­sa­me Ul­tra-?vi­res-?Kon­trol­le und eine Iden­ti­täts­kon­trol­le von Rechts­ak­ten eu­ro­päi­schen Ur­sprungs im An­wen­dungs­be­reich der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land vor­aus5.

Mit seinem jetzigen Kückdeveci-Urteil hat der EuGH dieses Mangold-Urteil nochmals bestätigt.
Die Antwort aus Karlsruhe hierauf könnte bereits in dem dort anhängigen Honeywell-Verfahren erfolgen.
Die Andeutungen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Lissabon-Urteil lassen dies möglich erscheinen. Dann allerdings wäre die Verfassungskrise der Europäischen Union perfekt.

  1. Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. L 303, S. 16.[]
  2. EuGH, Urteil vom 22. November 2005, C-144/04 „Mangold“.[]
  3. EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 7. Juli 20091 – C-555/07[]
  4. Herzog/Gerken, DRiZ 2009, 141, 144; ebenso Herzog/Gerken, Stoppt den Europäischen Gerichtshof, FAZ v. 08.09.2008, S. 8.[]
  5. Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt, Ur­teil vom 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08, 2 BvE 5/08, 2 BvR 1010/08, 2 BvR 1022/08, 2 BvR 1259/08 und 2 BvR 182/09[]