Alkoholismus – und die bereits mehrere Jahre andauernde Unterbringung

Auch bei einer bereits länger andauernden Unterbringung setzt die gemäß § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB erfolgende (weitere) zivilrechtliche Unterbringung eine nach wie vor bestehende ernstliche und konkrete Gefahr für Leib oder Leben des Betroffenen voraus1.

Alkoholismus – und die bereits mehrere Jahre andauernde Unterbringung

Besonderheiten können sich bei einer bereits mehrere Jahre währenden Unterbringung allerdings mit Blick auf die Feststellung der von § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB vorausgesetzten Gefährdung von Leib oder Leben des Betroffenen und die hierfür gebotene Begründungstiefe der gerichtlichen Entscheidung sowie für die Frage der Verhältnismäßigkeit der Freiheitsentziehung ergeben1.

Gemäß § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB ist eine Unterbringung des Betreuten durch den Betreuer, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, nur zulässig, solange sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, weil aufgrund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung des Betreuten die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt.

Zwar ist Alkoholismus für sich gesehen keine psychische Krankheit bzw. geistige oder seelische Behinderung in diesem Sinne, so dass allein darauf die Genehmigung der Unterbringung nicht gestützt werden kann. Etwas anderes gilt, wenn der Alkoholismus entweder im ursächlichen Zusammenhang mit einem geistigen Gebrechen steht, insbesondere einer psychischen Erkrankung, oder ein auf den Alkoholmissbrauch zurückzuführender Zustand eingetreten ist, der das Ausmaß eines geistigen Gebrechens erreicht hat2. Daher ist aus Sicht des Bundesgerichtshofs nichts dagegen einzuwenden, wenn die psychische Krankheit des Betroffenen nicht (allein) aus der von der Sachverständigen gestellten Diagnose eines Abhängigkeitssyndroms vom Alkoholtyp abgeleitet, sondern vor allem auf das daneben bestehende mittelschwer ausgeprägte amnestische Syndrom sowie die beim Betroffenen von der Sachverständigen diagnostizierte alkoholtoxisch bedingte organische Persönlichkeitsstörung abgestellt wird.

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Die nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB mögliche zivilrechtliche Unterbringung durch einen Betreuer wegen Selbstgefährdung des Betroffenen verlangt keine akute, unmittelbar bevorstehende Gefahr. Notwendig, aber auch ausreichend ist vielmehr eine ernstliche und konkrete Gefahr für Leib oder Leben des Betreuten. Der Grad der Gefahr ist in Relation zum möglichen Schaden ohne Vornahme der freiheitsentziehenden Maßnahme zu bemessen. Die Gefahr für Leib oder Leben erfordert kein zielgerichtetes Verhalten des Betroffenen, so dass etwa auch eine völlige Verwahrlosung ausreichen kann, wenn damit eine Gesundheitsgefahr durch körperliche Verelendung und Unterversorgung verbunden ist. Das setzt allerdings objektivierbare und konkrete Anhaltspunkte für den Eintritt eines erheblichen Gesundheitsschadens voraus. Die Prognose einer nicht anders abwendbaren Suizidgefahr oder einer Gefahr erheblicher gesundheitlicher Schäden ist im Wesentlichen Sache des Tatrichters3.

In diesem Fall können sich allerdings Besonderheiten mit Blick auf die Feststellung der von § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB vorausgesetzten Gefährdung von Leib oder Leben des Betroffenen und die hierfür gebotene Begründungstiefe der gerichtlichen Entscheidung sowie für die Frage der Verhältnismäßigkeit der Freiheitsentziehung ergeben. Denn der durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und 3 iVm Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG verfassungsrechtlich geschützte Anspruch auf persönliche Freiheit gewinnt mit Fortdauer der zivilrechtlichen Unterbringung an Gewicht, weil die Intensität des Grundrechtseingriffs zunimmt. Die Dauer der zivilrechtlichen Unterbringung beeinflusst mithin ebenfalls die Anforderungen an die Begründung der gerichtlichen Entscheidung. Für die im Rahmen des § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB zu treffende Prognose, welcher Gefährdung von Leib oder Leben der Betroffene ohne eine freiheitsentziehende Unterbringung ausgesetzt wäre, muss die bereits verstrichene Unterbringungszeit berücksichtigt und geprüft werden, ob angesichts des Zeitablaufs die Selbstgefährdung in der für eine Unterbringung erforderlichen Intensität fortbesteht. Die die Gefährdungsprognose ursprünglich tragenden tatsächlichen Umstände werden mit wachsendem zeitlichen Abstand nicht selten an Gewicht verlieren, während die Entwicklung des Betroffenen in der Unterbringung Anhaltspunkte für eine geringere Wahrscheinlichkeit des Eintritts erheblicher Gesundheitsschäden oder gar einer Lebensgefahr außerhalb der Unterbringung liefern kann. Dies kann letztlich dazu führen, dass allein wegen des Zeitraums, in dem der Betroffene untergebracht war, eine hinreichend sichere Gefährdungsprognose nicht mehr möglich und daher die Beendigung der Unterbringung geboten ist. Zugleich wird sich im Rahmen der Verhältnismäßigkeit bei der Prüfung des Vorliegens milderer Mittel in Fällen einer lang andauernden Unterbringung die Frage aufdrängen, inwieweit es inzwischen vertretbar und praktisch durchführbar ist, dass der Betroffene etwa in einer betreuten, aber offenen Wohnform mit entsprechend engmaschiger Begleitung wieder ein Leben außerhalb der Unterbringung führt. Die tatrichterliche Entscheidung muss im Einzelnen offenlegen, dass der Richter diese Einflussmöglichkeiten der bereits verstrichenen Unterbringungsdauer auf die Frage des Fortbestehens der Unterbringungsvoraussetzungen erkannt und wie er sie in deren Prüfung hat einfließen lassen4.

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Diesen rechtlichen Anforderungen wurde die vorliegend angefochtene Entscheidung nicht gerecht: Zu der Frage, inwiefern die zum Zeitpunkt der landgerichtlichen Beschlussfassung mehr als 13 Jahre währende Unterbringung die für den Betroffenen zu treffende Gefährdungsprognose und die Verhältnismäßigkeit seiner weiteren Unterbringung beeinflusst, finden sich in dem angegriffenen Beschluss keine fallbezogenen Ausführungen. Davon unabhängig sind die vom Landgericht angeführten Umstände jedenfalls auf der Grundlage der bislang hierzu getroffenen Feststellungen nicht geeignet, die weitere Unterbringung des Betroffenen nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB zu rechtfertigen.

Das Landgericht begründet die mögliche Selbstgefährdung des Betroffenen im Wesentlichen damit, dass dieser außerhalb einer geschlossenen Einrichtung schnell und in erheblichem Umfang Alkohol zu sich nehmen werde und sich dadurch selbst gefährde. Die bloße Rückfallgefahr vermag allerdings eine Anordnung der zivilrechtlichen Unterbringung nicht zu rechtfertigen5. Ausführungen zu der zu befürchtenden Intensität und zu den konkret zu erwartenden, damit verbundenen gesundheitlichen Folgen für den Betroffenen finden sich in den Gründen der angefochtenen Entscheidung nicht. Ebenso wenig genügt zur Rechtfertigung einer weiteren Unterbringung des Betroffenen, dass dieser nach wie vor über keine Krankheitseinsicht verfügt und dazu neigt, seine Erkrankung zu verharmlosen.

Schließlich war für den Bundesgerichtshof aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung nicht ersichtlich, dass das Landgericht geprüft hat, ob den für den Betroffenen bestehenden Gefährdungen nicht jedenfalls inzwischen etwa in einer offenen Wohnform bei engmaschiger Betreuung und Überwachung in vertretbarer Weise begegnet werden kann. Das Landgericht führt insoweit unter Bezugnahme auf das eingeholte Sachverständigengutachten lediglich aus, dass eine geschlossene Unterbringung des Betroffenen bei der selbstgefährdenden Tendenz seines Verhaltens weiter erforderlich sei. Tragfähige Feststellungen, warum dieser möglichen Selbstgefährdung nicht auch außerhalb einer geschlossenen Einrichtung begegnet werden kann, trifft das Landgericht nicht. Sie ergeben sich auch nicht aus dem in Bezug genommenen Sachverständigengutachten. Dass der Betroffene in der Vergangenheit bei unbegleiteten Einkaufsgängen rückfällig geworden ist, ist ebenfalls kein ausreichender Grund, der für sich genommen die weitere Unterbringung des Betroffenen erforderlich macht und die Möglichkeit anderer betreuter Wohnformen ausschließt.

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Bundesgerichtshof, Beschluss vom 16. November 2022 – XII ZB 184/22

  1. im Anschluss an BGH, Beschluss BGHZ 218, 111 = FamRZ 2018, 950[][]
  2. BGH, Beschluss BGHZ 218, 111 = FamRZ 2018, 950 Rn. 10 mwN[]
  3. BGH, Beschluss BGHZ 218, 111 = FamRZ 2018, 950 Rn. 14 mwN[]
  4. BGH, Beschlüsse BGHZ 218, 111 = FamRZ 2018, 950 Rn. 17 ff. mwN; und vom 10.06.2020 XII ZB 215/20 FamRZ 2020, 1406 Rn. 11[]
  5. BGH, Beschlüsse BGHZ 218, 111 = FamRZ 2018, 950 Rn. 10; und vom 30.03.2022 XII ZB 35/22 FamRZ 2022, 1134 Rn. 10[]

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