Der Betroffene ist in Betreuungssachen als verfahrensfähig anzusehen, ohne dass es auf seine Fähigkeit ankommt, einen natürlichen Willen zu bilden. Die Verfahrensfähigkeit umfasst auch die Befugnis, einen Verfahrensbevollmächtigten zu bestellen.

Gemäß § 275 FamFG ist der Betroffene im Betreuungsverfahren ohne Rücksicht auf seine Geschäftsfähigkeit verfahrensfähig. Die Verfahrensfähigkeit umfasst dabei das gesamte Verfahren, so dass dem Betroffenen insoweit alle Befugnisse eines Geschäftsfähigen zur Verfügung stehen.
Die ganz herrschende Meinung leitet daraus auch die grundsätzliche Befugnis des Betroffenen ab, jederzeit selbst einen Verfahrensbevollmächtigten zu bestellen1. Der Bundesgerichtshof teilt diesen Ansatz.
Die Norm des § 275 FamFG ersetzt § 66 FGG, der wiederum auf das Gesetz zur Reform des Rechts der Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige (Betreuungsgesetz) vom 12.09.19902 zurückging. Ein wesentliches Ziel der mit dem Betreuungsgesetz vorgenommenen Änderungen des Gesetzes über die Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit war es, die Rechtsposition des Betroffenen auch im Verfahren zu stärken. In einem fairen Verfahren sollte er eigenständiger Beteiligter und nicht „Verfahrensobjekt“ sein. Als Kernstück der Verfahrensvorschriften wurde daher schon in § 66 FGG die Verfahrensfähigkeit des Betroffenen ausdrücklich geregelt und auf alle die Betreuung betreffenden Verfahren ausgedehnt. Damit sollte der Betroffene in die Lage versetzt werden, seinen Willen nach Kräften selbst zu vertreten, ohne auf Andere, insbesondere gesetzliche Vertreter, angewiesen zu sein3.
Der vom Gesetzgeber verfolgte Zweck einer Stärkung der verfahrensrechtlichen Position des Betroffenen würde ohne die Möglichkeit, selbst einen Verfahrensbevollmächtigten zu bestellen, in vielen Fällen verfehlt. Denn wie schon der Blick auf die in § 1896 Abs. 1 Satz 1 BGB genannten medizinischen Voraussetzungen der Betreuung verdeutlicht, wird es dem Betroffenen häufig nur mit anwaltlicher Vertretung möglich sein, seine Rechte im Betreuungsverfahren effektiv wahrzunehmen.
Unterschiedliche Auffassungen werden in Rechtsprechung und Literatur allerdings dazu vertreten, ob die Erteilung einer wirksamen Verfahrensvollmacht durch den Betroffenen zumindest das Vorliegen eines auf die Vertretung durch einen Bevollmächtigten gerichteten natürlichen Willens erfordert.
Die Befürworter einer solchen Einschränkung des § 275 FamFG4 verweisen auf die Natur der Vollmachterteilung als Willenserklärung und darauf, dass die gesetzgeberische Vorstellung vom Betroffenen als selbstbestimmtem Verfahrenssubjekt zuweilen nicht verwirklicht werden könne, wenn der Betroffene durch seine Erkrankung jegliche Fähigkeit eingebüßt habe, sich verständlich zu artikulieren, den Sinn und die Folgen seiner Erklärung auch nur ansatzweise zu erkennen oder sich eine wenigstens ungefähre Vorstellung von seiner Lage zu bilden. Die Anerkennung von Äußerungen des Betroffenen als rechtserheblich berge dann die Gefahr, den Betroffenen – mehr oder weniger wohlmeinender – privater Herrschaft Dritter zu unterwerfen.
Demgegenüber hält die in der Literatur herrschende Meinung5 das Erfordernis eines natürlichen Willens für mit Wortlaut und Zweck der Vorschrift unvereinbar und in der Praxis problematisch.
Die letztgenannte Auffassung ist zutreffend.
Nach dem Wortlaut des § 275 FamFG besteht die Verfahrensfähigkeit des Betroffenen uneingeschränkt und ist an keine weiteren Voraussetzungen geknüpft. Den Gesetzesmaterialien lässt sich nichts dazu entnehmen, dass der Gesetzgeber gleichwohl eine Differenzierung etwa nach unterschiedlichen Graden der geistigen Leistungsfähigkeit oder aber nach der Schwere der psychischen und physischen Beeinträchtigungen des Betroffenen vornehmen wollte. Vielmehr ging es ihm darum, die Rolle des Betroffenen als eigenständigem Verfahrensbeteiligten zu sichern6. Damit trug der Gesetzgeber Art. 1 Abs. 1 GG Rechnung, aus dem folgt, dass niemand zum bloßen Objekt eines ihn betreffenden staatlichen Verfahrens werden darf7.
Mit dieser gesetzgeberischen Intention wäre es nicht vereinbar, aus den das Betreuungsverfahren erst auslösenden krankheitsbedingten Beeinträchtigungen der Willensbildungsfähigkeit eines Betroffenen wiederum auf Einschränkungen der Verfahrensfähigkeit – und der daraus folgenden Fähigkeit zur Erteilung einer Verfahrensvollmacht – rückzuschließen. Dies würde § 275 FamFG einen maßgeblichen Teil seiner Wirkung nehmen und zu einer gegenüber der Geschäftsfähigkeit nur wenig erweiterten Verfahrensfähigkeit führen8. Das war jedoch vom Gesetzgeber ersichtlich nicht gewollt.
Hinzu kommt, dass es dem Merkmal eines natürlichen Willens in dem von seinen Befürwortern vertretenen Bedeutungsgehalt an der für § 275 FamFG erforderlichen Trennschärfe fehlt9.
Grundsätzlich liegt ein (nur) natürlicher Wille vor, wenn es einem Betroffenen an einem der beiden für eine freie Willensbestimmung erforderlichen Elemente, der Einsichtsfähigkeit oder der Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln, fehlt10. Die im Zusammenhang mit § 275 FamFG verwendeten – zudem uneinheitlichen – Definitionen des „natürlichen Willens“ greifen daher teilweise auf Begrifflichkeiten wie „ungefähre Vorstellung“ und „ansatzweise“ zurück11. Das ist folgerichtig, weil die Unterscheidung zur „einfachen“ Geschäftsunfähigkeit, bei der § 275 FamFG noch Platz greifen soll, nur mittels gradueller Kriterien möglich ist. Diese entziehen sich jedoch weitgehend einer für die gerichtliche Praxis brauchbaren Handhabung.
Die von den Befürwortern des Erfordernisses eines natürlichen Willens angeführte Möglichkeit eines Missbrauchs der Befugnis des Betroffenen zur Erteilung einer Verfahrensvollmacht12 steht der Annahme einer uneingeschränkten Verfahrensfähigkeit des Betroffenen ebenso wenig entgegen wie die allgemeine Gefahr, dass der Betroffene Verfahrenshandlungen zu seinem Nachteil vornehmen kann.
Zum einen schließt die Sollvorschrift des § 276 Abs. 4 FamFG die Bestellung eines Verfahrenspflegers etwa bei Vorliegen eines Interessenkonflikts auch dann nicht aus, wenn der Betroffene durch einen Rechtsanwalt oder einen anderen geeigneten Verfahrensbevollmächtigten vertreten wird13. Zum anderen war dem Gesetzgeber bewusst, dass mit der uneingeschränkten Verfahrensfähigkeit des Betroffenen Probleme einhergehen können14. Gleichwohl hat er in § 275 FamFG keine Einschränkungen aufgenommen.
Von der aus der unbeschränkten Verfahrensfähigkeit folgenden Befugnis des Betroffenen zur Erteilung einer Verfahrensvollmacht ist die Frage zu trennen, ob der Betroffene eine Bevollmächtigungserklärung abgegeben hat. Eine solche ist mündlich, schriftlich oder konkludent möglich. Für den Nachweis gilt § 11 FamFG.
Die von der Betroffenen an ihren Rechtsanwalt erteilte schriftliche Verfahrensvollmacht ist mithin wirksam.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 30. Oktober 2013 – XII ZB 317/13
- KG FamRZ 2010, 835; OLG Schleswig FamRZ 2007, 1126; BayObLG BtPrax 2005, 148; BayObLG Beschluss vom 03.03.2004 – 3Z BR 268/03 – juris Rn. 5; OLG Saarbrücken FGPrax 1999, 108, 109; Keidel/Budde FamFG 17. Aufl. § 275 Rn. 5; MünchKomm-FamFG/SchmidtRecla 2. Aufl. § 275 Rn. 3; Prütting/Helms/Fröschle FamFG 3. Aufl. § 275 Rn. 11; Bork/Jacoby/Schwab/Heiderhoff FamFG 2. Aufl. § 275 Rn. 2; Damrau/Zimmermann Betreuungsrecht 4. Aufl. § 275 FamFG Rn. 5; Knittel Betreuungsrecht [Stand: 1.03.2013] § 275 FamFG Rn. 9; Horndrasch/Viefhues/Beermann FamFG § 275 Rn. 2; Brosey in Bahrenfuss FamFG § 275 Rn. 2; SchulteBunert/Weinreich/Rausch FamFG 3. Aufl. § 275 Rn. 5; Grabow in Holzer FamFG § 275 Rn. 2; BeckOKFamFG/Günter [Stand: 1.07.2013] § 275 Rn. 2; Heidebach in Haußleiter FamFG § 275 Rn. 3; Jurgeleit/Meier Betreuungsrecht 3. Aufl. § 275 FamFG Rn. 3; HKBUR/Bauer [Stand: Juli 2011] § 275 Rn. 7; a.A. Prütting/Helms/Roth FamFG 3. Aufl. § 316 Rn. 3 f.[↩]
- BGBl. I S.2002[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 04.05.2011 – XII ZB 632/10, FamRZ 2011, 1049 Rn. 10; BT-Drucks. 11/4528 S. 89 und 170[↩]
- Prütting/Helms/Fröschle FamFG 3. Aufl. § 275 Rn. 11; HKBUR/Bauer [Stand: Juli 2011] § 275 FamFG Rn. 8; vgl. auch OLG Saarbrücken FGPrax 1999, 108, 109; wohl auch BayObLG BtPrax 2005, 148 und Beschluss vom 03.03.2004 – 3Z BR 268/03 – juris Rn. 7; unklar Grabow in Holzer FamFG § 275 Rn. 2[↩]
- MünchKomm-FamFG/SchmidtRecla 2. Aufl. § 275 Rn. 2 und 6; Bork/Jacoby/Schwab/Heiderhoff FamFG 2. Aufl. § 275 Rn. 3; Knittel Betreuungsrecht [Stand: 1.03.2013] § 275 FamFG Rn. 9; Sonnenfeld in Bienwald/Sonnenfeld/Hoffmann Betreuungsrecht 5. Aufl. § 275 FamFG Rn. 13; Damrau/Zimmermann Betreuungsrecht 4. Aufl. § 275 FamFG Rn. 5; Horndasch/Viefhues/Beermann FamFG § 275 Rn. 3; Bassenge in Bassenge/Roth FamFG 12. Aufl. § 275 Rn. 1; SchulteBunert/Weinreich/Rausch FamFG 3. Aufl. § 275 Rn. 5; BeckOKFamFG/Günter [Stand: 1.07.2013] § 275 Rn. 2a; Heidebach in Haußleiter FamFG § 275 Rn. 2; Jurgeleit/Meier 3. Aufl. § 275 FamFG Rn. 4; Schmidt FGPrax 1999, 178, 179; vgl. auch OLG Schleswig FamRZ 2007, 1126[↩]
- BT-Drucks. 11/4528 S. 89 und 170[↩]
- BVerfGE 63, 332, 337[↩]
- vgl. Bork/Jacoby/Schwab/Heiderhoff FamFG 2. Aufl. § 275 Rn. 3[↩]
- vgl. MünchKomm-FamFG/SchmidtRecla 2. Aufl. § 275 Rn. 2; Damrau/Zimmermann Betreuungsrecht 4. Aufl. § 275 FamFG Rn. 5; Horndasch/Viefhues/Beermann FamFG § 275 Rn. 3[↩]
- BGH, Beschlüsse vom 09.02.2011 – XII ZB 526/10, FamRZ 2011, 630 Rn. 7 und vom 14.03.2012 – XII ZB 502/11, FamRZ 2012, 869 Rn. 14[↩]
- vgl. dazu Keidel/Budde FamFG 17. Aufl. § 275 Rn. 7 mwN; HKBUR/Bauer [Stand: Juli 2011] § 275 FamFG Rn. 8[↩]
- vgl. insbes. OLG Saarbrücken FGPrax 1999, 108, 109[↩]
- vgl. KG FGPrax 2004, 117; Keidel/Budde FamFG 17. Aufl. § 276 Rn. 15[↩]
- vgl. OLG Schleswig FamRZ 2007, 1126 mwN; ausführlich Sonnenfeld in Bienwald/Sonnenfeld/Hoffmann Betreuungsrecht 5. Aufl. § 275 FamFG Rn. 9; Jurgeleit/Meier 3. Aufl. § 275 FamFG Rn. 4; MünchKomm-FamFG/SchmidtRecla 2. Aufl. § 275 Rn. 6[↩]