Ausschluss eines Elternteils von der elterlichen Sorge – und die Begründung der Verfassungsbeschwerde

Sind fachgerichtliche Entscheidungen über den Ausschluss eines Elternteils von der gemeinsamen Sorge auf ihre Vereinbarkeit mit dem Elternrecht zu überprüfen, sind Prüfungsmaßstab und Prüfungsintensität des Bundesverfassungsgerichts im Verhältnis zur Konstellation des Art. 6 Abs. 3 GG zurückgenommen.

Ausschluss eines Elternteils von der elterlichen Sorge – und die Begründung der Verfassungsbeschwerde

Die von den Fachgerichten getroffenen tatsächlichen Feststellungen dazu, ob die Voraussetzungen des § 1671 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB erfüllt sind, sowie die von ihnen im Einzelnen vorgenommene Abwägung werden vom Bundesverfassungsgericht nicht kontrolliert. 4

Der verfassungsgerichtlichen Prüfung unterliegt jedoch, ob fachgerichtliche Entscheidungen auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts beruhen1.

Aus der grundrechtlichen Gewährleistung des Elternrechts wie auch aus der Verpflichtung des Staates, über dessen Ausübung im Interesse des Kindeswohls zu wachen, ergeben sich allerdings Folgerungen für das Prozessrecht und seine Handhabung in Sorgerechtsverfahren2. Das Verfahren muss grundsätzlich geeignet sein, eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu erlangen. Das gerichtliche Verfahren muss in seiner Ausgestaltung dem Gebot effektiven Grundrechtsschutzes entsprechen. Die Gerichte müssen daher ihr Verfahren so gestalten, dass sie möglichst zuverlässig die Grundlage einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung erkennen können3. Eine dem Elternrecht genügende Entscheidung kann nur aufgrund der Abwägung aller Umstände des Einzelfalls getroffen werden4, bei der allerdings auch zu berücksichtigen ist, dass die Abwägung nicht an einer Sanktion des Fehlverhaltens eines Elternteils, sondern vorrangig am Kindeswohl zu orientieren ist4.

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Hinsichtlich der Ermittlung der Grundlage einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung in Eilverfahren bleiben die praktisch verfügbaren Aufklärungsmöglichkeiten angesichts der spezifischen Eilbedürftigkeit dieser Verfahren allerdings regelmäßig hinter den im Hauptsacheverfahren bestehenden Möglichkeiten zurück. Den Gerichten ist es in kindesschutzrechtlichen Eilverfahren insbesondere regelmäßig nicht möglich, noch vor der Eilentscheidung ein Sachverständigengutachten einzuholen. Dies steht einer Entscheidung über das Sorgerecht jedoch nicht entgegen5.

Nichts anderes gilt für fachgerichtliche Entscheidungen über Herausgabeverlangen (vgl. § 1632 BGB), wenn es um eine Herausgabe im Zusammenhang mit Sorgerechtsentscheidungen geht, durch die die bisherige gemeinsame elterliche Sorge auf einen Elternteil übertragen wurde.

Daran gemessen verletzen im hier entschiedenen Fall die angegriffenen Entscheidungen des Oberlandesgerichts München6 die Beschwerdeführerin nicht in ihrem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Das Oberlandesgericht hat auf einer hinreichend zuverlässigen Grundlage die Voraussetzungen für eine vorläufige Übertragung des Sorgerechts auf den Vater festgestellt.

Mit den Berichten des Jugendamts und der Verfahrensbeiständin sowie den Erkenntnissen aus der persönlichen Anhörung der genannten fachlich Beteiligten und der Eltern stand dem Oberlandesgericht eine ausreichend tragfähige tatsächliche Grundlage für die zu treffenden Sorge- und Herausgabeentscheidungen zur Verfügung. Es dürfte bereits fachrechtlich nicht gehalten gewesen sein, sich einen persönlichen Eindruck von dem Sohn zu verschaffen, weil die Voraussetzungen von § 159 Abs. 2 FamFG nicht vorlagen. Denn es handelte sich nicht um ein Verfahren nach §§ 1666, 1666a BGB. Verfassungsrechtlich gebot Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG jedenfalls nicht, sich einen persönlichen Eindruck von dem Kind zu verschaffen.

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Es ist nicht ersichtlich, dass das Oberlandesgericht § 1671 BGB in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verletzender Weise ausgelegt und angewendet hätte. Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich davon ausgegangen, dass den hochgradig zerstrittenen Eltern, die sich nur noch mit massiven gegenseitigen Vorwürfen begegnen und denen jegliches gegenseitige Vertrauen verloren gegangen ist, eine gemeinsame Ausübung der elterlichen Sorge nicht möglich ist. Die Beschwerdeführerin war vor der Geburt des Sohnes bis Ende Oktober 2022 verschwunden und hat die Geburt des Sohnes verheimlicht. Die Eltern können sich nicht einmal auf einen Vornamen für den Sohn einigen und nutzen unterschiedliche Vornamen.

Das Jugendamt hatte aufgrund der Erfahrungen mit der Schwester des Säuglings Anhaltspunkte für eine eingeschränkte psychische Stabilität der Beschwerdeführerin und hielt jedenfalls ambulante Hilfen für zwingend geboten. Die Beschwerdeführerin hat im August und September 2022 über ihre Bevollmächtigte deutlich gemacht, bezüglich des Ungeborenen in keiner Weise mit dem Jugendamt kooperieren zu wollen. Der Vater akzeptierte hingegen alle Hilfsmaßnahmen und war kooperativ. Vor diesem Hintergrund bestehen gegen eine Übertragung des Sorgerechts auf den Vater keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Dies gilt auch für die Folgenabwägung des Oberlandesgerichts; insoweit ist nachvollziehbar, jedenfalls dann einen erneuten Aufenthaltswechsel des Kindes zu vermeiden, wenn es – soweit im einstweiligen Anordnungsverfahren bereits erkennbar – im laufenden Hauptsacheverfahren keine deutlichen Anhaltspunkte dafür gibt, dass dort nahezu sicher der Beschwerdeführerin das Sorgerecht zu übertragen wäre. Die Gerichte sind insoweit auch den klaren fachlichen Empfehlungen von Verfahrensbeiständin und Jugendamt gefolgt.

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Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 26. Dezember 2022 – 1 BvR 2333/22

  1. vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.> 72, 122 <138> BVerfGK 16, 355 <359> stRspr[]
  2. vgl. BVerfGE 55, 171 <182> BVerfGK 15, 509 <514>[]
  3. vgl. BVerfGE 55, 171 <182> BVerfGK 17, 407 <412>[]
  4. vgl. BVerfGK 15, 509 <514> m.w.N.[][]
  5. so selbst für einen Entzug des Sorgerechts: BVerfG, Beschluss vom 23.04.2018 – 1 BvR 383/18, Rn. 18 m.w.N.[]
  6. OLG München, Beschlüsse vom 08.12.2022 – 4 UF 1160/22 und 4 UF 1228/22[]

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