Immer wieder „beliebt“ ist die Praxis mancher Amtsgericht, die verschiedensten Rechtssachen auf einen Beratungshilfeschein zusammen zu fassen und später dann auch als nur eine Beratungshilfe abzurechnen. Dieser Praxis ist jetzt das Oberlandesgericht Stuttgart – unter Aufgabe seiner bisherigen Spruchpraxis [1] – in einem familienrechtlichen Fall entgegen getreten:

Wird ein Beratungshilfeschein für die Angelegenheiten „Trennung, Scheidung und Folgesachen“ erteilt, sind bei einer anschließenden umfassenden Beratung durch einen Rechtsanwalt die vier Komplexe
- Scheidung als solche,
- das persönliche Verhältnis zu den Kindern (Personensorge, Umgangsrecht),
- Fragen im Zusammenhang mit Ehewohnung und Hausrat,
- finanzielle Auswirkungen von Trennung und Scheidung (Unterhaltsansprüche, Güterrecht, Vermögensauseinandersetzung)
jeweils als gesonderte gebührenrechtliche Angelegenheiten zu behandeln, so dass die Beratungsgebühr für insgesamt bis zu vier Angelegenheiten geltend gemacht werden kann [2].
Das Beratungshilfegesetz sieht Beratung in „Angelegenheiten“ vor (§§ 2 Abs. 2, 6 BerHG). Gemäß § 44 RVG erhält der Rechtsanwalt für die Tätigkeit im Rahmen der Beratungshilfe außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens eine Vergütung nach § 2 Abs. 2 RVG i.V.m. Nrn 2500 bis 2508 VV RVG. Da es sich bei der Beratungshilfe-Vergütung um Festgebühren handelt und das Korrektiv des Gegenstandswerts fehlt, kommt dem Begriff der „Angelegenheit“ besondere Bedeutung zu. Eine nähere Bestimmung dieses Begriffs findet sich im Beratungshilfegesetz nicht, wohl aber in den §§ 15 ff. RVG ()vgl. dazu Büttner/Wrobel-Sachs/Gottschalk/Dürbeck, Prozess- und Verfahrenskostenhilfe, Beratungshilfe, 6. Aufl., Rn. 1012)). Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 31.10 2001 [3] ausgeführt, dass der Begriff der Angelegenheit wegen der ohnehin niedrigen Gebühren des Rechtsanwalts nicht zu weit gefasst werden dürfe, es komme aber auf den konkreten Einzelfall an. Um eine Angelegenheit bejahen zu können, müssen als Kriterien vorliegen: gleichzeitiger Auftrag, gleichartiges Verfahren, innerer Zusammenhang der Beratungsgegenstände bei zeitlichem und sachlichem Zusammenhang der Bearbeitung [4].
Wurde – wie auch vorliegend – Beratungshilfe für die Angelegenheiten „Trennung, Scheidung und Folgesachen“ gewährt, ist das Oberlandesgericht Stuttgart [5] bisher vom Vorliegen von zwei Angelegenheiten ausgegangen, weil der Rechtsgedanke des § 16 Nr. 4 RVG – Scheidung und Folgesachen als dieselbe Angelegenheit im Verbundverfahren – auf die Beratungshilfe-Vergütung übertragbar sei und Rechtskraft der Scheidung eine Zäsur zu Regelungen für die Zeit der Trennung bilde [6].
Dem sind die Mehrzahl der Oberlandesgerichte [7] und namhafte Stimmen in der Literatur [8] nicht gefolgt. Eingewandt wird insbesondere, § 16 Nr. 4 RVG könne weder direkt noch analog angewandt werden. Die Vorschrift betreffe nur das gerichtliche Verfahren und setze die Anhängigkeit einer Ehesache voraus, nicht jedoch die vorgelagerte außergerichtliche Beratung, bei welcher bereits begrifflich eine Verbundsache nicht vorliegen könne. Auch eine entsprechende Anwendung komme wegen der unterschiedlichen Sachlage nicht in Betracht. Als Ausgleich für die Zusammenfassung von Ehesache und Folgesachen zu einer Angelegenheit folge aus §§ 22 Abs. 1, 23 Abs. 1 S. 3 RVG, dass die Werte der verschiedenen Gegenstände zu addieren seien. Eine vergleichbares Korrektiv gebe es für den Bereich der Beratungshilfe nicht.
Das Oberlandesgericht Stuttgart vermag sich diesen Einwänden nicht zu verschließen und hält an seiner bisher geäußerten Rechtsauffassung nicht fest.
Zu weit geht aus Sicht des Oberlandesgerichts Stuttgart jedoch die Auffassung, wonach die Beratung zu jedem Gegenstand, zu dem Beratungsbedarf im Zusammenhang mit einer Trennung oder Scheidung anfällt, eine gesonderte Gebühr auslöst [9]. Dadurch findet der zeitliche und sachliche Zusammenhang, der regelmäßig zwischen einzelnen Beratungsgegenständen bei Trennung und Scheidung besteht, nicht ausreichend Berücksichtigung [10].
Mit dem OLG Nürnberg [11] und dem OLG Celle [12] ist auch aus Sicht des Oberlandesgerichts Stuttgart sachgerecht, unter Berücksichtigung des inneren Zusammenhangs der unterschiedlichen Lebenssachverhalte insgesamt von bis zu vier Komplexen (Angelegenheiten) auszugehen [13]:
- die Scheidung als solche,
- das persönliche Verhältnis zu den Kindern (Personensorge, Umgangsrecht),
- Fragen im Zusammenhang mit Ehewohnung und Hausrat,
- finanzielle Auswirkungen von Trennung und Scheidung (Unterhaltsansprüche, Güterrecht, Vermögensauseinandersetzung).
Wenn es gleichzeitig um Fragen der Trennung und Scheidung geht, verdoppeln sich die Angelegenheiten dadurch nicht.
Diese Handhabung berücksichtigt in generalisierender Weise die vom Bundesverfassungsgericht [14] aufgestellten Grundsätze und bleibt dennoch für die amtsgerichtliche Praxis noch einfach anzuwenden [15].
Oberlandesgericht Stuttgart, Beschluss vom 17. Oktober 2012 – 8 W 379/11
- so noch OLG Stuttgart FamRZ 2007, 574[↩]
- im Anschluss an OLG Nürnberg NJW 2011, 3108; und OLG Celle NJW 2011, 3109[↩]
- BVerfG AGS 2002, 273[↩]
- Büttner u.a., a.a.O[↩]
- OLG Stuttgart, a.a.O.[↩]
- so auch OLG München AGS 2012, 25[↩]
- ablehnend u.a.: OLG Düsseldorf FamRZ 2009, 1244; OLG Köln FamRZ 2009, 1345; OLG Hamm FamRZ 2011, 377; OLG Dresden FamRZ 2011, 1684; OLG Nürnberg NJW 2011, 3108; OLG Celle NJW 2011, 3109; zustimmend lediglich OLG Brandenburg FamRZ 2010, 833; OLG München AGS 2012, 25[↩]
- Büttner u.a. a.a.O. Rn. 1022; Gerold/Schmidt/Müller-Rabe, RVG, 20. Aufl., § 16 Rn. 28; AnwK-RVG/N.Schneider, 5. Aufl., vor VV 2501 ff. Rn. 31[↩]
- so OLG Düsseldorf FamRZ 2009, 1244[↩]
- Büttner u.a., a.a.O. Rn. 1022; OLG Nürnberg NJW 2011, 3108[↩]
- OLG Nürnberg, a.a.O.[↩]
- OLG Celle NJW 2011, 3109[↩]
- so auch Gerold/Schmidt/Müller-Rabe a.a.O. § 16 Rn. 28; AG Pforzheim FamRZ 2012, 1415[↩]
- BVerfG, a.a.O.[↩]
- Gerold/Schmidt/Müller-Rabe a.a.O[↩]