Das Beschwerdegericht darf nicht von der erneuten persönlichen Anhörung des Betroffenen im Beschwerdeverfahren absehen, wenn von dieser neue Erkenntnisse zu erwarten sind, was etwa dann der Fall ist, wenn das Beschwerdegericht für seine Entscheidung eine neue Tatsachengrundlage wie ein neues Sachverständigengutachten heranzieht1. Bei der Frage, ob die gemäß § 278 Abs. 5 bis 7 FamFG zu Gebote stehende Vorführung des Betroffenen und deren zwangsweise Vollziehung ausnahmsweise unverhältnismäßig sind, ist insbesondere die Bedeutung des Verfahrensgegenstands in den Blick zu nehmen2.

In dem hier vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall leidet der 81jährige Betroffene an einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis, wegen derer sie ihre Angelegenheiten nicht mehr selbst besorgen kann. Auf Anregung ihres Sohns hat das Amtsgericht Ebersberg eine Betreuung für den Aufgabenkreis der Vermögenssorge, Gesundheitssorge, Aufenthaltsbestimmung, Vertretung gegenüber Behörden, Versicherern, Renten- und Sozialleistungsträgern, Wohnungsangelegenheiten sowie Postkontrolle in den übertragenen Angelegenheiten eingerichtet und eine Berufsbetreuerin bestellt3. Auf die Beschwerde der Betroffenen hat das Landgericht München II den Aufgabenkreis der Betreuung nur um den Punkt der Aufenthaltsbestimmung reduziert; die weitergehende Beschwerde hat es zurückgewiesen´((LG München II, Beschluss vom 15.11.2021 – 6 T 1572/19 und 2542/21)). Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Betroffenen, die jetzt vor dem Bundesgerichtshof zur Aufhebung der Beschwerdeentscheidung und Zurückverweisung der Sache an das Landgericht München II führte; die Betroffene rügte zu Recht als verfahrensfehlerhaft, dass sie nach Einholung der Sachverständigengutachten nicht ordnungsgemäß angehört worden sei:
Nach § 278 Abs. 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor der Bestellung eines Betreuers oder der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Die Pflichten aus § 278 Abs. 1 FamFG bestehen nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG dem Beschwerdegericht auch in einem Betreuungsverfahren die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung im Beschwerdeverfahren keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind4.
Das Landgericht hat seine Entscheidung außer auf das vom Amtsgericht eingeholte Gutachten vom 20.10.2018 noch auf das von ihm selbst eingeholte Ergänzungsgutachten der Sachverständigen C. vom 19.03.2021 sowie auf das Gutachten des Sachverständigen R. vom 10.08.2020 gestützt.
Zieht das Beschwerdegericht für seine Entscheidung aber mit einem neuen oder ergänzenden Sachverständigengutachten eine neue Tatsachengrundlage heran, die nach der amtsgerichtlichen Entscheidung datiert, so sind von einer erneuten Anhörung des Betroffenen regelmäßig neue Erkenntnisse im Sinne des § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG zu erwarten, und es ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs schon deshalb eine erneute Anhörung im Beschwerdeverfahren geboten5.
Diesen Anforderungen wird das vorliegende Verfahren nicht gerecht. Zwar hat das Landgericht die Betroffene am 14.07.2020 im Wege der Rechtshilfe durch das Betreuungsgericht anhören lassen. Unabhängig von Bedenken gegen die Zulässigkeit dieser Verfahrensweise datiert diese Anhörung aber zeitlich vor dem Ergänzungsgutachten der Sachverständigen C. vom 19.03.2021 und ebenfalls vor dem Gutachten des Sachverständigen R. vom 10.08.2020, weshalb sie die Funktion einer Gegenkontrolle insoweit nicht erfüllen konnte. Vielmehr hätte die Betroffene nach Vorliegen aller Gutachten, auf die das Landgericht seine Entscheidung zu stützen beabsichtigte, abschließend angehört werden müssen.
Zwar ist die Betroffene einem vom Landgericht anberaumten Anhörungstermin ferngeblieben und konnte bei einer weiteren, in der Wohnung beabsichtigten Anhörung nicht angetroffen werden. Da die Anhörung in Betreuungssachen aber nicht nur der Gewährung rechtlichen Gehörs, sondern auch der Sachverhaltsaufklärung dient, darf das Betreuungsgericht in einem solchen Fall grundsätzlich nur dann nach § 34 Abs. 3 FamFG verfahren, wenn und soweit die gemäß § 278 Abs. 5 bis 7 FamFG zu Gebote stehende Vorführung des Betroffenen unverhältnismäßig ist und zudem alle zwanglosen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, den Betroffenen anzuhören und sich von ihm einen persönlichen Eindruck zu verschaffen6.
Dem angefochtenen Beschluss lassen sich keine tragenden Erwägungen dazu entnehmen, dass eine Vorführung der Betroffenen nach § 278 Abs. 5 bis 7 FamFG unverhältnismäßig und mithin unzulässig gewesen wäre. Das Landgericht hätte, nach Ausschöpfung aller zwanglosen Möglichkeiten, die Vorführung der Betroffenen und deren zwangsweise Vollziehung ins Verhältnis zum Verfahrensgegenstand setzen müssen. Nachdem es um eine Betreuung ging, die weiteLebensbereiche der Betroffenen abdeckt, wäre die Annahme einer Unverhältnismäßigkeit allenfalls dann in Betracht gekommen, wenn von der Vorführung und deren Durchsetzung gemäß § 278 Abs. 6 und 7 FamFG sonstige negative Folgen erheblichen Ausmaßes für die Betroffene zu erwarten gewesen wären. Zu denken wäre hierbei insbesondere an eine sachverständig festgestellte Gefahr, dass es durch die Vorführung zu erheblichen Nachteilen für die Gesundheit käme7. Derartiges ist aber weder festgestellt noch im Hinblick auf die bereits im Rahmen der Begutachtung erfolgte Vorführung anderweitig ersichtlich. Die Nichtdurchsetzung einer notwendigen Anhörung mit den Mitteln des § 278 Abs. 5 bis 7 FamFG stellt einen Verstoß gegen § 26 FamFG dar.
Der angefochtene Beschluss des Landgerichts München II konnte daher insoweit keinen Bestand haben. Der Bundesgerichtshof kann in der Sache nicht abschließend entscheiden, da er die noch erforderlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 6. Juli 2022 – XII ZB 551/21
- im Anschluss an BGH, Beschluss vom 12.05.2021 XII ZB 427/20 FamRZ 2021, 1312[↩]
- im Anschluss an den BGH, Beschluss vom 03.11.2021 XII ZB 215/21 FamRZ 2022, 379[↩]
- AG Ebersberg, Beschluss vom 22.02.2019 – XVII 374/17[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 24.11.2021 XII ZB 269/21 BtPrax 2022, 63 Rn. 8 mwN[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 12.05.2021 XII ZB 427/20 FamRZ 2021, 1312 Rn. 11 mwN[↩]
- BGH, Beschluss vom 03.11.2021 XII ZB 215/21 FamRZ 2022, 379 Rn. 13[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 03.11.2021 XII ZB 215/21 FamRZ 2022, 379 Rn. 14 mwN[↩]