Die in einer Pflegefamilie untergebrachten Kinder – und ihre Rückführung

Eine räumliche Trennung des Kindes von seinen Eltern gegen deren Willen stellt den stärksten Eingriff in das Elterngrundrecht dar1, der nur unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgen oder aufrechterhalten werden darf2.

Die in einer Pflegefamilie untergebrachten Kinder – und ihre Rückführung

6 Abs. 3 GG gestattet diesen Eingriff nur unter der strengen Voraussetzung, dass das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreicht, dass das Kind bei Verbleib bei oder Rückkehr zu den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre3.

Begehren Eltern die Rückführung ihres in einer Pflegefamilie lebenden Kindes, müssen bei der Kindeswohlprüfung die Tragweite der Trennung des Kindes von seiner Pflegefamilie und die Erziehungsfähigkeit der Ursprungsfamilie auch im Hinblick auf ihre Eignung berücksichtigt werden, die negativen Folgen einer Traumatisierung des Kindes gering zu halten. Das Kindeswohl gebietet es, die neuen gewachsenen Beziehungen des Kindes zu seinen Pflegepersonen zu bedenken und das Kind aus seiner Pflegefamilie lediglich herauszunehmen, wenn die körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigungen des Kindes als Folge der Trennung von den bisherigen Bezugspersonen unter Berücksichtigung der Grundrechtsposition des Kindes noch hinnehmbar sind4. Allerdings folgt aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, dass Pflegeverhältnisse nicht in einer Weise verfestigt werden dürfen, die in nahezu jedem Fall zu einem dauerhaften Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie führte. Da eine Rückkehr zu den Eltern auch nach längerer Fremdunterbringung – soweit Kindeswohlbelange nicht entgegenstehen – möglich bleiben muss, dürfen die mit einem Wechsel der Hauptbezugspersonen immer verbundenen Belastungen eine Rückführung nicht automatisch dauerhaft ausschließen5.

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Die Trennung des Kindes von seinen Eltern darf nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit aufrechterhalten werden6. An die Verhältnismäßigkeit der Aufrechterhaltung der Trennung sind besonders strenge Anforderungen zu stellen, wenn die Voraussetzungen des § 1666 Abs. 1 Satz 1 BGB bei der Wegnahme des Kindes nicht vorlagen7. Strengere Anforderungen gelten auch dann, wenn die ursprünglich durch § 1666 BGB begründete Trennung des Kindes von seinen Eltern nicht auf einer missbräuchlichen Ausübung der elterlichen Sorge, sondern auf einem unverschuldeten Elternversagen beruhte8. Die Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verschärfen sich zudem, wenn die Eltern (mittlerweile) grundsätzlich als erziehungsgeeignet anzusehen sind und den Kindern in deren Haushalt für sich genommen keine nachhaltige Gefahr droht, sondern die Kindeswohlgefährdung gerade aus den spezifischen Belastungen einer Rückführung resultiert9.

Die fachgerichtlichen Annahmen dazu, ob die Voraussetzungen für eine Trennung des Kindes von den Eltern oder das Aufrechterhalten dieser Trennung im Einzelfall erfüllt sind, unterliegen wegen des besonderen Eingriffsgewichts einer strengen verfassungsgerichtlichen Überprüfung. Diese beschränkt sich nicht darauf, ob eine angegriffene Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts beruht10. Wegen der besonderen Intensität des Eingriffs kommt bei dieser verfassungsgerichtlichen Prüfung ein strenger Kontrollmaßstab zur Anwendung, der sich ausnahmsweise auch auf einzelne Auslegungsfehler sowie auf deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts erstrecken kann11.

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Soweit dies auf der Grundlage der mit der hier entschiedenen Verfassungsbeschwerde vorgelegten Unterlagen beurteilt werden kann, ist das Oberlandesgericht Frankfurt am Main12 zwar bei der Anwendung der §§ 1666, 1666a BGB und § 1632 Abs. 4 Satz 1 BGB von diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben ausgegangen. Allerdings gibt es Anhaltspunkte dafür, dass es ungeachtet der gebotenen Ausrichtung seiner Entscheidung auf das Kindeswohl dem Elternrecht des Beschwerdeführers und den hier strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs darin nicht durchgängig in vollem Umfang Rechnung getragen hat.

Die Erwägung des Oberlandesgerichts, die vom Beschwerdeführer angestrebte Rückführung der Kinder im Rahmen eines Übergangsprozesses in engem Kontakt mit den Pflegeeltern zu gestalten, verändere das bestehende Bezugssystem und gehe zwangläufig mit einem Abbruch der gelebten Eltern-Kind-Beziehung einher, was die kindliche Entwicklung gefährde, ist nicht unbedenklich. Denn damit stellt es letztlich auf einen Umstand ab, der mit jedem Wechsel der aktuellen Hauptbezugspersonen der Kinder verbunden ist und einer Rückführung in den Haushalt des Beschwerdeführers automatisch dauerhaft entgegenstehen würde. Gerade das wäre mit dessen Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG aber nicht vereinbar13. Das gilt erst recht wegen der beanstandungsfrei festgestellten grundsätzlich vorhandenen Erziehungsfähigkeit des Beschwerdeführers. Zwar stützt sich das Oberlandesgericht auf die mit sachverständiger Hilfe festgestellte besondere Verletzlichkeit der Kinder wegen der bereits mehrfach erlebten Bindungsabbrüche. Das ist im Ausgangspunkt nicht zu beanstanden. Allerdings darf bei der Verhältnismäßigkeit des Aufrechterhaltens der Trennung des Beschwerdeführers von seinen Kindern nicht aus dem Blick geraten, dass deren Inobhutnahme im August 2020 und damit einer der vorangegangenen Bindungsabbrüche wesentlich durch eine unzureichend vorbereitete und begleitete Rückführung in den Haushalt des Beschwerdeführers mit bedingt gewesen sein dürfte, was bei einer schrittweisen Rückführung anders verlaufen könnte.

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Ebenfalls nicht ohne jedes Bedenken ist, dass das Oberlandesgericht die Gefahr einer Bindungsstörung auch für den Fall einer durch einen längeren Prozess begleiteten Rückführung der Kinder in den Haushalt des Beschwerdeführers prognostiziert und dies vor allem auf das schwierige Verhältnis zwischen dem Beschwerdeführer und den Pflegeeltern stützt. Wegen der hier sehr strengen Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in das Elternrecht, auf das sich der Beschwerdeführer anders als die Pflegeeltern berufen kann, dürfen derartige Spannungen nicht ohne Weiteres zu Lasten des Beschwerdeführers gehen. Anderenfalls könnte entgegen den Anforderungen des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG dem Beschwerdeführer keine ausreichende Chance auf Rückkehr seiner Kinder in seinen Haushalt eröffnet sein. Es ist wegen des Erforderlichkeitsgebots der Verhältnismäßigkeit insoweit Sache des Staates, eine Trennung der Kinder von ihren Eltern nach Möglichkeit durch helfende und unterstützende Maßnahmen zu vermeiden14. Ob dem hier im Hinblick auf die Möglichkeiten der Rückführung der Kinder in den Haushalt des Beschwerdeführers hinreichend nachgekommen wurde, kann wegen der unterbliebenen Vorlage der Einschätzungen und Stellungnahmen des Jugendamtes, der Umgangsbegleiterinnen und der Verfahrensbeiständin allerdings nicht zuverlässig beurteilt werden.

Es wird zukünftig darauf ankommen, durch geeignete Maßnahmen dafür Sorge zu tragen, die von den Fachgerichten festgestellten Spannungen zwischen dem Beschwerdeführer und den Pflegeeltern so zu vermindern, dass die Möglichkeit einer Rückkehr der Kinder zum Beschwerdeführer ohne Kindeswohlgefährdung eröffnet wird.

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Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 15. November 2022 – 1 BvR 1667/22

  1. vgl. BVerfGE 60, 79 <91>[]
  2. vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.04.2018 – 1 BvR 383/18, Rn. 16; Beschluss vom 07.02.2022 – 1 BvR 1655/21, Rn. 3; Beschluss vom 13.07.2022 – 1 BvR 580/22, Rn. 10; stRspr[]
  3. vgl. BVerfG, Beschluss vom 07.02.2022 – 1 BvR 1655/21, Rn. 3; Beschluss vom 13.07.2022 – 1 BvR 580/22, Rn. 10, jeweils m.w.N.[]
  4. BVerfG, Beschluss vom 13.07.2022 – 1 BvR 580/22, Rn. 11 m.w.N.[]
  5. vgl. BVerfGE 68, 176 <191> BVerfG, Beschluss vom 22.05.2014 – 1 BvR 2882/13, Rn. 31; Beschluss vom 13.07.2022 – 1 BvR 580/22, Rn. 11, jeweils m.w.N.[]
  6. vgl. BVerfGE 60, 79 <89> BVerfG, Beschluss vom 22.03.2014 – 1 BvR 2882/13, Rn. 33[]
  7. vgl. BVerfGE 68, 176 <189>[]
  8. vgl. BGH, Beschluss vom 22.01.2014 – XII ZB 68/11, Rn. 22[]
  9. BVerfG, Beschluss vom 22.03.2014 – 1 BvR 2882/13, Rn. 34[]
  10. vgl. BVerfGE 18, 85 <93>[]
  11. vgl. BVerfGE 136, 382 <391 Rn. 28> stRspr[]
  12. OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 23.11.2021 – 404 F 4095/21 SO[]
  13. vgl. BVerfGE 60, 79 <89> BVerfG, Beschluss vom 14.06.2014 – 1 BvR 725/14, Rn.20[]
  14. vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.05.2014 – 1 BvR 2882/13, Rn. 33[]

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