Die Regelung des § 1906 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BGB ist dahingehend auszulegen, dass eine Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme auch dann genehmigt werden kann, wenn ein nach § 1901 a BGB zu beachtender Wille des Betroffenen nicht festgestellt werden kann.

Gemäß § 1906 a Abs. 2 BGB bedarf die Einwilligung des Betreuers in eine ärztliche Zwangsmaßnahme der Genehmigung des Betreuungsgerichts. Dabei kann der Betreuer nach § 1906 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BGB in die ärztliche Zwangsmaßnahme nur einwilligen, wenn diese dem nach § 1901 a BGB zu beachtenden Willen des Betreuten entspricht. Liegen – wie hier – weder eine Patientenverfügung noch Behandlungswünsche des Betroffenen vor, ist insoweit gemäß § 1901 a Abs. 2 BGB der mutmaßliche Wille des Betreuten festzustellen. Der mutmaßliche Wille ist aufgrund konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln. Zu berücksichtigen sind insbesondere frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen, ethische oder religiöse Überzeugungen und sonstige persönliche Wertvorstellungen des Betreuten1.
Die Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme nach § 1906 a Abs. 2, Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BGB kann auch genehmigt werden, wenn ein nach § 1901 a BGB zu beachtender Wille des Betroffenen nicht festgestellt werden kann.
Nach seinem Wortlaut setzt § 1906 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BGB voraus, dass die ärztliche Zwangsmaßnahme dem nach § 1901 a BGB zu beachtenden Willen des Betroffenen entspricht. Dies steht entgegen der Auffassung des Landgerichts einer Auslegung dahingehend nicht entgegen, dass eine Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme auch dann genehmigt werden kann, wenn ein nach § 1901 a BGB zu beachtender Wille des Betroffenen nicht festgestellt werden kann. Denn dann besteht kein nach § 1901 a BGB zu beachtender Wille, dem die ärztliche Zwangsmaßnahme entsprechen müsste und sie ist unter den übrigen Voraussetzungen nach § 1906 a Abs. 1 Satz 1 BGB zulässig.
Diese Auslegung entspricht auch dem durch die Gesetzgebungsgeschichte belegten Willen des Gesetzgebers.
Die Regelung des § 1906 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BGB wurde durch das Gesetz zur Änderung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten vom 17.07.20172 geschaffen. Das Gesetz geht auf einen Entwurf der Bundesregierung zurück, die damit auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts reagierte. Das Bundesverfassungsgericht hatte § 1906 Abs. 3 BGB in der seit der 26.02.2013 geltenden Fassung insoweit mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG für unvereinbar erklärt, als für Betreute, denen schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigungen drohen und die die Notwendigkeit der erforderlichen ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln können, eine ärztliche Behandlung gegen ihren natürlichen Willen unter keinen Umständen möglich ist, sofern sie zwar stationär behandelt werden, aber nicht geschlossen untergebracht werden können, weil sie sich der Behandlung räumlich nicht entziehen wollen oder hierzu körperlich nicht in der Lage sind; zugleich wurde der Gesetzgeber verpflichtet, unverzüglich eine Regelung für diese Fallgruppe zu treffen3.
Die Bundesregierung wollte mit ihrem Gesetzentwurf nicht nur die beanstandete Regelungslücke schließen, sondern verfolgte darüber hinaus das Ziel, das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen bei medizinischen Behandlungen weiter zu stärken. Dazu sollte zur Klarstellung ausdrücklich als weitere Voraussetzung für die Zulässigkeit der Einwilligung des Betreuers in eine ärztliche Zwangsmaßnahme bestimmt werden, dass ein nach § 1901 a BGB zu beachtender Wille des Betroffenen der ärztlichen Zwangsmaßnahme nicht entgegenstehen darf4. Dementsprechend sah § 1906 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BGB‑E vor, dass der Betreuer in die ärztliche Zwangsmaßnahme nur einwilligen kann, wenn „ein nach § 1901 a zu beachten- der Wille des Betreuten der ärztlichen Zwangsmaßnahme nicht entgegensteht„5.
Demgegenüber hat der im Rahmen der Gesetzesberatung im Deutschen Bundestag federführende Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz folgende Formulierung empfohlen: „3. … die ärztliche Zwangsmaßnahme dem nach § 1901 a BGB zu beachtenden Willen des Betreuten entspricht„6. Zur Begründung hat der Ausschuss ausgeführt, eine Patientenverfügung, die Behandlungswünsche des Betreuten und sein mutmaßlicher Wille seien nach § 1901 a Abs. 1 und 2 BGB in dieser Reihenfolge maßgeblich für eine Einwilligung des Betreuers in eine Zwangsmaßnahme. Dafür reiche es nicht aus, dass der Betreute zu einem früheren Zeitpunkt der ärztlichen Zwangsmaßnahme mit freiem Willen nicht widersprochen habe. Vielmehr sei positiv festzustellen, dass die ärztliche Zwangsmaßnahme dem nach § 1901 a BGB zu beachtenden Willen des Betreuten entspreche. Dies solle durch eine positiv gewendete Formulierung klargestellt werden. Die Beachtung des Willens des Betreuten nach § 1901 a BGB sei jedoch nur möglich, soweit ein Wille nach dieser Vorschrift festgestellt werden kann. Sei mangels konkreter Anhaltspunkte auch ein mutmaßlicher Wille gemäß § 1901 a Abs. 2 BGB nicht feststellbar, so könne der Betreuer dennoch zum Wohl und Schutz des Betreuten in die ärztliche Zwangsmaßnahme einwilligen, wenn alle weiteren Voraussetzungen nach § 1901 a Abs. 1 Satz 1 BGB‑E erfüllt seien7. In der durch den Ausschuss empfohlenen Fassung wurde das Gesetz nachfolgend beschlossen8.
Die Begründung des Rechtsausschusses macht deutlich, dass durch die vorgeschlagene positive Formulierung ein engerer Rahmen nur für die Fälle abgesteckt werden sollte, dass eine Patientenverfügung, ein Behandlungswunsch oder ein mutmaßlicher Wille des Betroffenen bekannt ist. In solchen Fällen muss positiv festgestellt werden, dass die geplante Maßnahme dieser Willensäußerung entspricht9. Ist hingegen eine solche Willensäußerung nicht zu ermitteln, beinhaltet die Vorschrift keine weitere Einschränkung. Indem der Gesetzgeber die vom Rechtsausschuss vorgeschlagene Formulierung übernommen und verabschiedet hat, ohne eine abweichende Begründung hinzuzufügen, hat er auch die durch den Rechtsausschuss gegebene Begründung mitübernommen.
Nur ein solches Verständnis des § 1906 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BGB wird auch den verfassungsgerichtlichen Vorgaben gerecht, wonach sich hinsichtlich einer ärztlichen Zwangsbehandlung die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgende Schutzpflicht des Staates gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht des Betreuten durchsetzt, wenn es keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür gibt, dass gerade die Behandlungsverweigerung einem ursprünglich freien Willen des Betreuten entspricht. Allerdings muss die Gesetzgebung gewährleisten, dass eine medizinische Zwangsbehandlung nur vorgenommen werden darf, wenn feststeht, dass tatsächlich kein freier Wille der Betreuten vorhanden ist, dem gleichwohl vorhandenen natürlichen Willen nach Möglichkeit Rechnung getragen wird und dass die materiellen Voraussetzungen einer Zwangsbehandlung nachweisbar vorliegen10.
Daher ist die Regelung des § 1906 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BGB dahingehend auszulegen, dass eine Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme auch dann genehmigt werden kann, wenn ein nach § 1901 a BGB zu beachtender Wille des Betroffenen nicht festgestellt werden kann.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 29. Juli 2020 – XII ZB 173/18
- vgl. BGH, Beschluss BGHZ 214, 62 = FamRZ 2017, 748 Rn. 34[↩]
- BGBl. I, 2426[↩]
- BVerfG FamRZ 2016, 1738 Rn. 66 ff.; vgl. auch Vorlagebeschluss des Bundesgerichtshofs vom 01.07.2015 – XII ZB 89/15 , FamRZ 2015, 1484 Rn. 39 ff.[↩]
- vgl. BT-Drs. 18/11240 S. 2, 13 ff. und 19[↩]
- vgl. BT-Drs. 18/11240 S. 8[↩]
- BT-Drs. 18/12842 S. 3[↩]
- BT-Drs. 18/12842 S. 8[↩]
- vgl. abschließend BT-PlPr 18/240 S. 24649 D und BR-PlPr 959 S. 345 C – 345 D[↩]
- vgl. BGH, Beschluss BGHZ 214, 62 = FamRZ 2017, 748 Rn. 34 ff.[↩]
- vgl. BVerfG FamRZ 2016, 1738 Rn. 67 ff., 78 ff. mwN[↩]
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