Elternrecht und Sorgerechtsentziehung

Deutliche Worte des Bundesverfassungsgerichts an die Familienrichter – und wohl auch das Ende der oftmals geübten familiengerichtlichen Praxis, die Umgangsregelungen und Aufenthaltsbestimmung in Fällen starker Konflikte zwischen den Eltern den Jugendämtern zu überlassen:

Elternrecht und Sorgerechtsentziehung


Elternrecht und „Wächteramt des Staates“

Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Die Erziehung des Kindes ist damit primär in die Verantwortung der Eltern gelegt, die grundsätzlich frei von staatlichen Eingriffen nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden können, wie sie die Pflege und Erziehung ihrer Kinder gestalten und damit ihrer Elternverantwortung gerecht werden wollen1. Diese primäre Entscheidungszuständigkeit der Eltern beruht auf der Erwägung, dass die Interessen des Kindes am besten von den Eltern wahrgenommen werden2.

Kinder dürfen gegen den Willen des Sorgeberechtigten nur aufgrund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen3. Nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit der Eltern berechtigt den Staat auf der Grundlage seines ihm nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG zukommenden Wächteramtes, die Eltern von der Pflege und Erziehung ihres Kindes auszuschalten oder gar selbst diese Aufgabe zu übernehmen4. Das elterliche Fehlverhalten muss vielmehr ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei einem Verbleiben in der Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist5.

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Entzug des Sorgerechts

Wenn Eltern das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen und damit zugleich die Trennung der Kinder von ihnen gesichert oder ermöglicht wird, darf dies zudem nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen6. Dieser gebietet es, dass Art und Ausmaß des staatlichen Eingriffs sich nach dem Grund des Versagens der Eltern und danach bestimmen müssen, was im Interesse des Kindes geboten ist. Der Staat muss daher nach Möglichkeit zunächst versuchen, durch helfende, unterstützende, auf Herstellung oder Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens der leiblichen Eltern gerichtete Maßnahmen sein Ziel zu erreichen7.

In diesem Zusammenhang hat das Bundesverfassungsgericht befunden, dass der Gesetzgeber mit § 1666 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 1666a BGB eine Regelung geschaffen hat, die es dem Familiengericht ermöglicht, bei Maßnahmen zum Schutze des Kindes auch dem grundgesetzlich verbürgten Elternrecht hinreichend Rechnung zu tragen8.

Grundsätzlich ist die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes sowie die Auslegung und Anwendung verfassungsrechtlich unbedenklicher Regelungen im einzelnen Fall Angelegenheit der zuständigen Fachgerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen. Ihm obliegt lediglich die Kontrolle, ob die angegriffene Entscheidung Auslegungsfehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts oder vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen. Bei der Wahrnehmung dieser Aufgaben lassen sich die Grenzen der Eingriffsmöglichkeit des Bundesverfassungsgerichts aber nicht starr und gleichbleibend ziehen. Sie hängt namentlich von der Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung ab9.

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Bei gerichtlichen Entscheidungen, die Eltern das Sorgerecht für ihr Kind entziehen, besteht wegen des sachlichen Gewichts der Beeinträchtigung der Eltern in ihren Grundrechten aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 und Art. 2 Abs. 1 GG Anlass, über den grundsätzlichen Prüfungsumfang hinauszugehen10. Daher können neben der Frage, ob die angefochtene Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen, auch einzelne Auslegungsfehler nicht außer Betracht bleiben11.


Voraussetzung einer Sorgerechtsentziehung

Die Voraussetzungen für eine gerichtliche Regelung nach § 1696 Abs. 1 BGB reichen bei weitem nicht an die Anforderungen heran, die Art. 6 Abs. 3 GG an die Trennung der Kinder von der Familie stellt. Danach müssen die Erziehungsberechtigten versagen oder die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. Aufgrund dessen hat § 1666 BGB in Fällen, in denen es nicht darum geht, die getroffene Sorgeregelung wegen veränderter Umstände abzuändern, sondern bei Gefährdung des Kindeswohls gerichtlich einzuschreiten, Vorrang vor einer Abänderung nach § 1696 BGB12.

Voraussetzung der Entziehung elterlicher Sorge ist eine Gefährdung des Kindeswohls, also ein bereits eingetretener Schaden oder eine gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei seiner weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt13.

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Einrichtung einer Umgangspflegschaft für das Jugendamt

Die Einrichtung der Umgangspflegschaft begegnet auch insofern verfassungsrechtlichen Bedenken, als es Aufgabe der Familiengerichte ist, eine Entscheidung zu treffen und dabei sowohl die beiderseitigen Grundrechtspositionen der Eltern als auch das Wohl des Kindes und dessen Individualität als Grundrechtsträger zu berücksichtigen, wenn sich die Eltern über die Ausübung des Umgangsrechts nicht einigen können14. Dies bedeutet, dass die Entscheidung über den Umgang und seine Ausgestaltung nicht durch das Gericht auf Dritte, insbesondere das Jugendamt, überantwortet werden darf. Das Gericht selbst hat eine konkrete und vollständige Regelung zu treffen15.

Damit ist die vom Oberlandesgericht unbeanstandete, vom Familiengericht vorgenommene Entziehung des Umgangsregelungsrechts und die Bestellung eines Ergänzungspflegers, dem die Entscheidungskompetenz für zukünftige Umgangskontakte im Falle des Scheiterns einer elterlichen Vereinbarung übertragen worden ist, nicht vereinbar. Soweit der Familiensenat des OLG darin eine Möglichkeit sieht, das Kind aus Kindeswohlgesichtspunkten aus der Entscheidungsfindung der Eltern herauszuhalten, wäre dieses Ziel ebenso gut durch eine klare gerichtliche Umgangs(neu)regelung zu erreichen gewesen.


Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts

Das Oberlandesgericht begründet die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf einen Dritten mit dem Entzug des Rechts der Umgangsregelung, da es nur so dem Ergänzungspfleger möglich sei, Umgangskontakte bei Weigerung des Beschwerdeführers zu 1) auch mithilfe Dritter (Gerichtsvollzieher, Polizei) durchzusetzen und die Herausgabe des Kindes zu erzwingen.
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Die Vollstreckung einer gerichtlich gebilligten Umgangsvereinbarung unterscheidet sich von der des Herausgabeverlangens gemäß § 1632 BGB in § 33 Abs. 2 Satz 2 FGG, der die Gewaltanwendung gegen ein Kind zur Ausübung des Umgangsrechts verbietet. Daher lässt die Begründung des Senats darauf schließen, dass entweder diese Einschränkung unter Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz16 umgangen oder dem Ergänzungspfleger die Möglichkeit eröffnet werden sollte, von ihm angeordnete Umgangsregelungen, die weder auf einer einvernehmlichen elterlichen noch auf einer gerichtlichen Regelung basieren, mithilfe des Aufenthaltsbestimmungsrechts zu vollstrecken. Dies ist angesichts der Zuständigkeit der Familiengerichte, im Streitfall eine vollstreckbare Umgangsregelung zu treffen, nicht zulässig.

Auch die Spekulation des Oberlandesgerichts, es könne „die unter Umständen in nicht sehr weiter Ferne liegende Situation“ eintreten, in der ein weiterer Verbleib des Kindes bei dem Beschwerdeführer zu 1) als nicht mehr mit dem Kindeswohl vereinbar angesehen und aus diesem Grunde ein Obhutswechsel unerlässlich sein könnte, rechtfertigt unter keinem Gesichtspunkt den Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts und greift in verfassungswidriger Weise in das Elternrecht des Beschwerdeführers zu 1) ein. Da das Gericht offenbar selbst davon ausgeht, dass eine aktuelle Gefährdung des Kindeswohls nicht vorliegt („kann von einem gedeihlichen Heranwachsen von D. in der Obhut des Vaters wohl nicht mehr lange ausgegangen werden“), stellt die Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts eine Präventivmaßnahme auf völlig unsicherer Tatsachengrundlage dar, die zudem die Entscheidung, wann der Zeitpunkt für eine Herausnahme des Kindes aus dem väterlichen Haushalt gekommen sein könnte, ohne nochmalige richterliche Prüfung dem Ergänzungspfleger überlässt.

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Dies lässt sich – insbesondere angesichts der vom Oberlandesgericht festgestellten und für den Verbleib des Kindes beim Vater sprechenden wesentlichen Aspekte des Kindeswillens und des Kontinuitätsgrundsatzes – weder mit dem Elternrecht des Beschwerdeführers zu 1) noch mit den von Art. 6 Abs. 3 GG gestellten Anforderungen an die Trennung eines Kindes von seinen Eltern gegen deren Willen vereinbaren.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 17. Juni 2009 – 1 BvR 467/09

  1. BVerfGE 60, 79 <88>[]
  2. BVerfGE 34, 165 <184>[]
  3. vgl.BVerfGE 72, 122 <137 f.>[]
  4. vgl.BVerfGE 24, 119 <144 f.>; 60, 79 <91>[]
  5. BVerfGE 60, 79 <91>[]
  6. vgl.BVerfGE 60, 79 <89>[]
  7. vgl.BVerfGE 24, 119 <145>; 60, 79 <93>[]
  8. vgl. BVerfGE 60, 79 <88 f.>; 72, 122 <138>[]
  9. BVerfGE 72, 122 <138>; stRspr.[]
  10. BVerfGE 72, 122 <138>[]
  11. vgl.BVerfGE 60, 79 <91>; 75, 201 <222>[]
  12. vgl. Diederichsen, in: Palandt, BGB, 68. Aufl. 2009, § 1696 Rn. 9; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 29. November 1993 – 1 BvR 1045/93[]
  13. vgl. Diederichsen, in: Palandt, BGB, 68. Aufl. 2009, § 1666 Rn. 10[]
  14. vgl.BVerfGE 64, 180 <187 f.>[]
  15. vgl. Rauscher, in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2006, § 1684 Rn. 170[]
  16. vgl. Zimmermann, in: Keidel/Kuntze/Winkler, FGG, 15. Aufl. 2003, § 33 Rn. 38a[]
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