Inobhutnahme eines Kindes – und die vorrangige Entscheidung des Familiengerichts

Nach der familiengerichtlichen Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts ist der davon betroffene Elternteil nicht mehr gegen die jugendamtlich angeordnete und durchgeführte Inobhutnahme klagebefugt entsprechend § 42 Abs. 2 VwGO.

Inobhutnahme eines Kindes – und die vorrangige Entscheidung des Familiengerichts

Die Uneinholbarkeit einer familiengerichtlichen Entscheidung im Sinne von § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a SGB VIII liegt nicht schon deshalb vor, weil das Familiengericht in Anbetracht einer von dem Jugendamt angekündigten Inobhutnahme nicht von Amts wegen eine Entscheidung gemäß § 1666 BGB trifft. Die vorrangige Entscheidung des Familiengerichts wird auch nicht durch eine inhaltliche Zustimmung zur Inobhutnahme, die in den Gründen einer anderweitigen Entscheidung geäußert wird, entbehrlich.

Eine dringende Gefahr für das Kindeswohl im Sinne von § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII setzt konkrete und objektive Anhaltspunkte für eine Beeinträchtigung voraus; auch im Hinblick auf eine mögliche Tötung des Kindes reicht es nicht, dass dies lediglich nicht ausgeschlossen werden kann.

In der Entscheidung des Jugendamtes, die Inobhutnahme zu veranlassen, lag ein Verwaltungsakt gemäß § 31 Satz 1 des Zehnten Buchs des Sozialgerichtsgesetzes (SGB X), nämlich die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtete Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts. Diese auf § 42 SGB VIII gestützte Entscheidung ist von dem Vollzugsakt der tatsächlichen Inobhutnahme des betroffenen Kindes zu unterscheiden. Der betreffende Verwaltungsakt kann – wie im vorliegenden Fall geschehen – auch mündlich bekannt gegeben werden (§ 33 Abs. 2 Satz 1 SGB X).

Die Mutter war klagebefugt gemäß § 42 Abs. 2 VwGO. Nach dieser Vorschrift, die nach allgemeiner Auffassung auch im Fall der Fortsetzungsfeststellungsklage Anwendung findet1, setzt die Zulässigkeit der Klage voraus, dass der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt zu sein. Dies ist gegeben, wenn die Möglichkeit der von dem Kläger behaupteten Rechtsverletzung besteht. Mit der Anordnung der Inobhutnahme ging eine solche mögliche Rechtsverletzung einher, nämlich eine solche des Aufenthaltsbestimmungsrechts der Mutter aus § 1626 Abs. 1 und § 1631 Abs. 1 BGB. Denn mit der Inobhutnahme ist dieses Recht gemäß § 42 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII durch die Befugnis des Jugendamtes überlagert, über den Aufenthalt des Kindes zu bestimmen.

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Die Mutter kann auch mit Erfolg das gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO notwendige Feststellungsinteresse geltend machen. Ein solches Interesse liegt u. a. in einer durch die Feststellung begehrten Rehabilitierung nach tiefgreifendem Grundrechtseingriff. Mit dem tatsächlichen Verlust des Aufenthaltsbestimmungsrechts der Mutter durch die Inobhutnahme war ein Eingriff in das Elterngrundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG erfolgt. Allein darin kann das berechtigte Rehabilitierungsinteresse gesehen werden2.

Die Klage ist jedoch unzulässig, soweit sie sich auf den Zeitraum nach Bekanntgabe des familiengerichtlichen Beschlusses des Amtsgerichts Rostock bezieht, weil die Mutter ab diesem Zeitpunkt nicht mehr klagebefugt war.

Die angeordnete Inobhutnahme konnte nicht mehr in das Aufenthaltsbestimmungsrecht der Mutter eingreifen, nachdem ihr dieses Recht durch die Entscheidung des Familiengerichts entzogen und diese Entscheidung wirksam geworden war (§ 40 Abs. 1 FamFG).

Schon der Verlust des Aufenthaltsbestimmungsrechts führt zum Verlust der Klagebefugnis gegen die angeordnete Inobhutnahme. Die Inobhutnahme betraf keine darüber hinaus gehenden Rechte der Mutter. Soweit das Jugendamt über die Bestimmung des Aufenthalts hinaus auch zur Sicherung des Wohls des Kindes und zu allen notwendigen Rechtshandlungen befugt ist (§ 42 Abs. 2 Satz 3 und 4 SGB VIII), betrifft dies nur solche Fragen, die notwendig mit der Unterbringung durch das Jugendamt verbunden sind. Einschränkungen der Ausübung der elterlichen Sorge sind mit dem rechtmäßigen gewöhnlichen oder tatsächlichen Aufenthalt des Kindes an einem anderen Ort stets verbunden (§ 1687 Abs. 1 Satz 2 und Satz 4 BGB). Das Gleiche gilt für tatsächliche Einschränkungen des der Mutter gemäß § 1684 Abs. 1 Halbs. 2 BGB zukommenden Umgangsrechts. Das Verwaltungsgericht verkennt nicht, dass die Mutter auch nach dem Verlust des Aufenthaltsbestimmungsrechts stark unter der Trennung von ihrem Kind gelitten hat. Rechtlich betroffen war sie damit jedoch nicht mehr, sondern stand dem so gegenüber wie jeder Elternteil, bei dem sich das Kind rechtmäßig nicht aufhält.

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Soweit die Mutter meint, dadurch keinen ausreichenden Rechtsschutz erhalten zu können (Art.19 Abs. 4 GG), ist darauf hinzuweisen, dass das Gesetz gegen die familiengerichtliche Entscheidung die Beschwerde zum Oberlandesgericht gemäß § 57 Satz 2 Nr. 1, § 58 Abs. 1 FamFG, § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a GVG, möglicherweise nach Antrag auf (weitere) mündliche Verhandlung gemäß § 54 Abs. 2 FamFG (a. A. für den hier gegebenen Fall der Erörterung: OLG Zweibrücken, Beschluss vom 2.03.2011 – 6 WF 222/10 – Leits. und Rn. 2)) vorsieht und außerdem den Antrag gemäß § 55 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 FamFG auf Aussetzung der Vollstreckung und die Einleitung des Hauptsacheverfahrens gemäß § 52 FamFG einschließlich Rechtsmittelverfahren.

Soweit die Klage zulässig ist, ist sie auch begründet. Die durch das Jugendamt am 24.04.2012 angeordnete Inobhutnahme war rechtswidrig (§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO).

Das Jugendamt ist gemäß § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b SGB VIII – der alleine in Betracht kommenden Variante – berechtigt und verpflichtet, ein Kind in seine Obhut zu nehmen, wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes dies erfordert und eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann. Beide Voraussetzungen lagen nicht vor.

Eine familiengerichtliche Entscheidung war nicht uneinholbar. Die Kompetenz des Jugendamtes nach § 42 SGB VIII ist nach der gesetzlichen Konzeption in Abs. 3 der Vorschrift, die entweder unverzügliche familiengerichtliche Entscheidung (Satz 2 bis 4) oder unverzügliches Verfahren zur Gewährung von Hilfen (Satz 5, §§ 36 ff. SGB VIII) verlangt, eine enge „Notkompetenz“3 bzw. „Befugnis … in Eil- und Notfällen“4. Wenn möglich, soll gemäß § 8a Abs. 2 Satz 1 und § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b SGB VIII das in erster Linie zum Eingriff in die elterliche Sorge berufene Familiengericht tätig werden. Nur wenn dies ausgeschlossen ist und seine Entscheidung wegen der Dringlichkeit der Gefahr nicht abgewartet werden kann (§ 8a Abs. 2 Satz 2 SGB VIII), darf das Jugendamt entscheiden und tätig werden. Ein solcher Fall lag hier nicht vor.

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Das Familiengericht war zur Zeit der (endgültigen) Entscheidung des AJS über die Inobhutnahme gerade mit dem Fall befasst und hätte ohne Weiteres die Voraussetzungen für eine Abwendung der durch das AJS angenommenen Gefahr ohne Inobhutnahme schaffen können. Einen entsprechenden Antrag hat das AJS jedoch nicht gestellt. Die Ankündigung, er werde gestellt werden, konnte den Versuch nicht ersetzen, das Familiengericht vor Ausübung der eigenen Kompetenz mit der Frage der Abwendung einer Kindeswohlgefährdung zu befassen.

Eine Entscheidung ist auch nicht deshalb uneinholbar gewesen, weil das Familiengericht auch von Amts wegen hätte tätig werden können und es dies in der Anhörung vom 24.04.2012 nicht getan hat. Denn dies heißt nicht, dass das Gericht sich auf Antrag oder auch nur auf ausdrückliche Anregung (§ 24 FamFG) nicht dazu hätte verhalten können und müssen, ob und inwiefern es Maßnahmen zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung für geboten erachtet und hierfür die Voraussetzungen schafft.

Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass die von dem AJS angenommene Gefahr für das Kindeswohl gerade durch die familiengerichtliche Entscheidung zum Umgangsrecht bedingt war. Auch wenn dieser – offen zu Tage getretene – Umstand eine Entscheidung des Familiengerichts auch im Hinblick auf weitere Maßnahmen zum Wohl des Kindes nahe gelegt hat, heißt dies nicht, dass der Versuch, eine Entscheidung herbeizuführen, entbehrlich war. Denn entweder hätte das Familiengericht seinen Beschluss zur Umgangspflegschaft selbst durch geeignete Sorgerechtseingriffe begleiten oder – unter Zurückweisung der Gefahrenprognose des AJS – davon absehen können. Jedenfalls hätte aber eine gerichtliche Entscheidung eingeholt werden können.

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Auch der Hinweis des Familiengerichts auf die Inobhutnahme in seinem Beschluss vom 25.04.2012 kann diese Entscheidung nicht ersetzen. Denn zum einen ist eine damit wohl verbundene inhaltliche Zustimmung keine „Entscheidung“ und zum anderen kommt es auf eine Zustimmung in der Sache insoweit nicht an, weil es bei der gemäß § 8a Abs. 2 Satz 1, § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b SGB VIII einzuholenden Entscheidung des Familiengerichts ebenso wenig wie bei der gemäß § 42 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SGB VIII nachträglich einzuholenden Entscheidung um die Kontrolle einer jugendamtlichen Entscheidung oder Maßnahme geht, sondern um die eigenständige Regelung einer Gefahrensituation durch die Schaffung der personensorgerechtlichen Voraussetzungen für die Abwendung der Gefahr.

Es lag keine dringende Gefahr im Sinne von § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII vor.

Eine dringende Gefahr im Sinne von § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII bedeutet eine Sachlage, die bei ungehindertem Ablauf des Geschehens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit das Wohl des Kindes gefährden wird, wobei der Schadenseintritt nicht unmittelbar bevorstehen muss und an die Gefahr des Eintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der Schaden ist5. Dabei kann jedoch ein denkbar großer Schaden wie der hier befürchtete Tod von Mutter und Kind nicht dazu führen, dass die Anforderungen für die Beurteilung der Eintrittsgefahr so abgesenkt werden, dass sie praktisch entfallen. Die Annahme einer Gefährdung des Kindes setzt vielmehr voraus, dass bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder sich eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt6. Jedenfalls müssen danach die Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung konkret und objektiv erkennbar sein. Gemessen daran lag hier eine dringende Gefahr nicht vor.

Das Leben des Kindes war nicht gefährdet. Eine hinreichende Tatsachengrundlage für die Annahme eines bevorstehenden (erweiterten) Suizids war nicht gegeben. Sie ergab sich insbesondere nicht aus einer psychologischen Begutachtung der Mutter auf der Grundlage mit ihr geführter, anerkannten Standards entsprechender Gespräche.

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Die Mutter hatte im Übrigen Selbstmordabsichten oder gar Tötungsabsichten betreffend ihr Kind im Sinne eines sog. erweiterten Suizids nie auch nur angedeutet. Im Gegenteil weisen alle dokumentieren Verhaltensweisen der Mutter auf ihr Bedürfnis nach größtmöglichem Schutz ihres Kindes hin. Dies konnte im Hinblick auf das Umgangsrecht des Kindesvaters möglicherweise als übermäßiges Bedürfnis verstanden werden. Hinreichende Anhaltspunkte für eine drohende körperliche Beeinträchtigung des Kindes gab es jedoch nicht.

Aus der Aussage der Mutter, sie werde „alles in ihrer Macht stehende“ unternehmen, damit das Kind nicht zu seinem Vater müsse, konnte nichts anderes gefolgert werden. Denn nachdem sie jahrelang gerichtlich und im Kinder- und Jugendhilfeverfahren gegen das Umgangsrecht des Kindesvaters gearbeitet hatte, wies nichts darauf hin, dass sie nunmehr neben dieser rechtlich-tatsächlichen Verhinderung des Kontakts auch körperlich auf das Kind einwirken wolle und es gar verletzen oder töten könnte. Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil die Mutter den Kontakt zu dem Kindesvater stets wegen dessen angeblicher Gefährlichkeit abgelehnt hat. Für diese Gefährlichkeit hat sie auch konkrete Anhaltspunkte genannt. Dass sie außerdem dem Kindesvater den Kontakt zu dem Kind dermaßen missgönnt hätte, dass sie ihn auch auf Kosten des Lebens des Kindes zu verhindern gesucht hätte, lag eher fern.

Nichts anderes gilt vor dem Hintergrund der Annahme eines möglichen „Impulsdurchbruchs“ der Mutter oder von deren „Affektinstabilität“. Denn auch wenn durch die bevorstehende Umgangspflegschaft eine ganz erhebliche zusätzliche Belastung für die Mutter zu erwarten war, so sprach nach allem nichts dafür, dass entgegen dem Vorstehenden sich ihre Stellung zu dem Kind grundsätzlich ändern würde. Dass die Realisierung der aufgeworfenen Befürchtung „nicht auszuschließen“ sei, kann demgegenüber nicht genügen.

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Der hier – seit Längerem – als mögliche Gefahr benannte Suizid konnte zwar nicht völlig ausgeschlossen, aber auch nicht positiv als bevorstehend angenommen werden. Soweit die Vertreterin des AJS in der familiengerichtlichen Anhörung vom 24.04.2012 aus dem Verhalten der Mutter zu der Einschätzung gelangt sein sollte, dass sich die Befürchtung eines Impulsdurchbruchs nunmehr in dieser Weise realisiere, so beruhte schon die Grundannahme nicht auf einer tragfähigen Grundlage.

Das Kind war auch nicht im Sinne einer dringenden Gefahr durch eine Zerrissenheit zwischen den Interessen der Mutter und des Kindesvaters gefährdet. Zwar lagen psychische Beeinträchtigungen auf der Hand. Auch war der Umgang mit dem Kindesvater nachhaltig gehindert, obwohl dieser normativ zum Kindeswohl gehört (§ 1684 Abs. 1 Halbs. 1 BGB). Diese Gefährdungsaspekte lagen jedoch bereits seit Jahren vor. Ihrer Begegnung diente gerade der (im Zeitpunkt der Gefahrenprognose bevorstehende) Beschluss zur Umgangspflegschaft. Selbst bei dessen ausbleibender Umsetzung – was in der Tat möglich erscheinen musste – war eine nach dem eingangs genannten Maßstab erhebliche Schädigung des Kindes nicht mit ziemlicher Sicherheit zu befürchten. Denn gegebenenfalls anzuordnende Ordnungsmittel gemäß § 88 Abs. 1 FamFG hätten das Potenzial gehabt, die Stellung des Kindesvaters zu bessern.

Verwaltungsgericht Schwerin, Urteil vom 3. Juni 2015 – 6 A 719/12

  1. Kopp/Schenke, VwGO, 21. Aufl., § 42 Rn. 62, § 113 Rn. 125 m. w. Nachw.[]
  2. vgl. VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 28.12 2011 – 2 K 2503/11 – Rn. 54[]
  3. Trenczeck, in: Münder u. a., Frankf. Komm. SGB VIII, 7. Aufl., § 42 Rn. 35 m. w. Nachw.[]
  4. Wiesner, SGB VIII, 4. Aufl., § 42 Rn. 1[]
  5. Trenczeck, a. a. O. Rn. 12 m. w. Nachw.[]
  6. s. nur BVerfG, Beschluss vom 19.11.2014 – 1 BvR 1178/14 –, Rn. 23 m. vielen w. Nachw. aus der jüngeren Rspr.[]