Sorgerecht und die Menschenrechte

Auch wenn ein Vater keine Möglichkeit hat, ohne die Zustimmung der Kindesmutter das alleinige oder gemeinsame Sorgerecht zu erlangen, verstößt eine derartige Regelung nicht gegen Artikel 8 und 14 EMRK, wenn die innerstaatlichen Gerichte bei ihrer Entscheidung das Augenmerk auf eine Übertragung der elterlichen Sorge zum Wohl des Kindes gerichtet haben. Darüberhinaus ist auch nicht das Recht des Vaters auf Achtung seines Familienlebens durch den innerstaatlichen Verfahrensausgang nach Artikel 8 EMRK verletzt worden, wenn unter Berücksichtigung eines großen Beurteilungsspielraums der innerstaatlichen Gerichte in dem Sorgerechtsverfahren ein ge­rechter Ausgleich zwischen dem Wohl des Kindes und den Interessen der Eltern hergestellt worden ist.

Sorgerecht und die Menschenrechte

Mit dieser Begründung hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Beschwerde eines Vaters, Herrn D., nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und Abs. 4 EMRK zurückgewiesen. Der Beschwerdeführer mit deutscher Staatsangehörigkeit rügte nach Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 14 der Konvention, dass die Tatsache, dass ihm das Sorgerecht für seinen Sohn nur deshalb verwehrt worden sei, weil er mit der Kindesmutter nicht verheiratet gewesen sei, einen Verstoß gegen sein Recht auf Achtung seines Familienlebens und eine ungerechtfertigte Diskriminierung wegen des Ge­schlechts darstelle. Ferner rügte er, dass die innerstaatlichen Gerichte seinen Antrag auf Über­tragung der alleinigen elterlichen Sorge, hilfsweise der gemeinsamen Sorge für seinen Sohn gemäß § 1666 BGB sowie Art. 224 § 2 Buchstabe a [sic] EGBGB abgelehnt hätten.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellt fest, dass die elterliche Sorge für ein nichteheliches Kind nach § 1626a BGB zunächst der Mutter zukommt, es sei denn, die beiden Elternteile einigen sich darauf, die gemeinsame elterliche Sorge zu beantragen. Die einschlägigen Bestimmungen schließen zwar nicht kategorisch aus, dass der Vater künftig das gemeinsame Sorgerecht erlangen kann, doch nach §§ 1666 und 1672 BGB kann das Familiengericht das Sorgerecht nur dann auf den Vater übertragen, wenn das Wohl des Kindes durch Vernachlässigung seitens der Mutter gefährdet ist oder wenn ein Elternteil mit Zustimmung des anderen Elternteils einen entsprechenden An­trag stellt. Lagen diese Voraussetzungen nicht vor, d.h. war das Wohl des Kindes nicht gefähr­det und stimmte die Mutter einer Übertragung des Sorgerechts nicht zu, wie im vorliegenden Fall festgestellt wurde, sah das zur Zeit des hier in Rede stehenden Verfahrens geltende deut­sche Recht grundsätzlich keine gerichtliche Überprüfung der Frage vor, ob dem Kindeswohl mit der Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge auf den Vater oder mit der Einrichtung der ge­meinsamen Sorge beider Elternteile gedient wäre.

Das Amtsgericht S. hat in seinem Beschluss vom 23. August 2006 mithin festgestellt, dass der Antrag des Beschwerdeführers auf Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge oder eines Teilbereichs davon, sofern er nach § 1672 Abs. 1 BGB gestellt sei, als unzulässig zurück­zuweisen sei, da eine solche Übertragung nur mit Zustimmung der Mutter möglich sei. Dabei sei leider hinzunehmen, dass in dieser Hinsicht nach wie vor keine Gleichstellung von Vätern nichtehelicher Kinder mit den Vätern ehelicher Kinder erreicht sei.

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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellt fest, dass der Beschwerdeführer im Rahmen seiner Beschwerde ge­gen den genannten Beschluss des Amtsgerichts S. und in seiner anschließenden Verfas­sungsbeschwerde lediglich das Ergebnis der Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte in seinem besonderen Fall angefochten hat, nämlich deren Ablehnung seines Antrags auf Über­tragung der alleinigen elterlichen Sorge gemäß § 1666 BGB, hilfsweise der gemeinsamen Sorge gemäß Artikel 224 § 2 Buchstabe a [sic] EGBGB. Er hat anscheinend nicht gerügt, dass er im Vergleich zur Mutter insoweit diskriminiert wurde, dass ihm nach §§ 1626a und 1672 BGB die Möglichkeit verwehrt war, das alleinige Sorgerecht oder die gemeinsame Sorge ohne die Zustimmung der Mutter zu erlangen oder die Übertragung des alleinigen Sorgerechts auf die Mutter gerichtlich überprüfen zu lassen.

Selbst unter der Annahme, der innerstaatliche Rechtsweg wäre diesbezüglich erschöpft, weist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte darauf hin, dass er bereits die Frage geprüft hat, ob die Bestimmungen des BGB, nach denen die alleinige Sorge für ein nichtehelich geborenes Kind der Mutter zu­steht und eine Übertragung des Sorgerechts oder eines Teilbereichs davon auf den Vater ihrer Zustimmung bedarf, ohne dass eine gerichtliche Überprüfung für den Fall einer Verweigerung der Zustimmung vorgesehen ist, mit Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 14 der Konvention ver­einbar sind1. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ließ zwar gelten, dass die ursprüngliche Zuweisung der Alleinsorge für ein nichteheliches Kind an die Mutter zum Schutz des Kindeswohls gerechtfertigt war, stellte aber fest, dass der grundsätzli­che Ausschluss einer gerichtlichen Überprüfung der ursprünglichen Zuweisung des alleinigen Sorgerechts an die Mutter hingegen nicht in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten Ziel stand, nämlich dem Schutz des Wohls eines nichtehelichen Kindes. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte folglich fest, dass Artikel 14 i. V. m. Artikel 8 EMRK verletzt wurde2. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nimmt in diesem Zusammenhang zur Kenntnis, dass das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 21. Juli 2010 u. a. unter Bezugnahme auf das Urteil Z. die Verfassungswidrigkeit der einschlägigen Bestimmungen des BGB (§§ 1626a Abs. 1 Nr. 1 und 1672 Abs. 1) festgestellt hat. Das Bundesverfassungsgericht erließ bis zum Inkrafttreten der erforderlichen gesetzlichen Neuregelung eine verbindliche Übergangs­regelung, nach der die genannten Bestimmungen mit der Maßgabe anzuwenden waren, dass das Familiengericht auf Antrag eines Elternteils die elterliche Sorge für ein nichteheliches Kind gemeinsam oder allein überträgt, soweit zu erwarten ist, dass dies dem Kindeswohl entspricht.

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Im Hinblick auf die besonderen Umstände der vorliegenden Rechtssache weist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte allerdings darauf hin, dass bereits zur Zeit des hier in Rede stehenden Verfahrens nach der Übergangsbestimmung in Artikel 224 § 2 Buchstabe a EGBGB eine Ausnahme vom Aus­schluss der gerichtlichen Überprüfung der ursprünglichen Zuweisung der Alleinsorge an die Mutter einen nichtehelichen Kindes gegeben war. Nach dieser Bestimmung kann das Familien­gericht die gemeinsame elterliche Sorge anordnen und bei nicht miteinander verheirateten El­tern, die sich vor Inkrafttreten des Kindschaftsrechtsreformgesetzes am 1. Juli 1998 getrennt und vor ihrer Trennung mindestens sechs Monate ohne Unterbrechung mit dem Kind zusam­mengelebt haben, die diesbezügliche Zustimmung der Mutter ersetzen, wenn die gemeinsame elterliche Sorge dem Kindeswohl dient. Während sich die Eltern im Fall Z. nach dem 1. Juli 1998 getrennt hatten und die Übergangsregelung somit nicht galt, haben sich die Eltern in der vorliegenden Rechtssache im Dezember 1997 getrennt und die innerstaatlichen Gerichte konnten somit – anders als im Sorgerechtsverfahren im Fall Z. – auf Antrag des Be­schwerdeführers in vollem Umfang überprüfen, ob die gemeinsame elterliche Sorge dem Wohl des Sohnes des Beschwerdeführers dienen würde.

Nach alledem stellt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fest, dass dieser Teil der Beschwerde offensichtlich un­begründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und Abs. 4 EMRK zurückzuweisen ist.

Der Beschwerdeführer rügte ferner, dass der Verfahrensausgang sein Recht auf Achtung seines Familienlebens verletzt habe. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist der Ansicht, dass diese Rüge allein nach Artikel 8 der Konvention zu prüfen ist. Er erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass die Rüge des Beschwerdeführers wegen der Dauer des Sorgerechtsverfahrens sowie seine Rügen in Bezug auf das Umgangsrechtsverfahren bereits im Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 8. Juli 20103 behandelt wurden und nicht Gegenstand der vorlie­genden Beschwerde sind. In der vorliegenden Rechtssache hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu entscheiden, ob die innerstaatlichen Gerichte bei ihren Entscheidungen in dem Sorgerechtsverfahren das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Familienlebens beachtet haben.

DerEuropäische Gerichtshof für Menschenrechte weist in diesem Zusammenhang erneut darauf hin, dass für einen Elternteil und sein Kind das Zusammensein einen grundlegenden Bestandteil des Familienlebens dar­stellt, selbst wenn die Beziehung zwischen den Eltern zerbrochen ist, und innerstaatliche Maß­nahmen, welche die Betroffenen an diesem Zusammensein hindern, einen Eingriff in das durch Artikel 8 der Konvention geschützte Recht bedeuten4.

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Die angegriffenen Maßnahmen im vorliegenden Fall, nämlich die Entscheidungen der inner­staatlichen Gerichte, mit denen die Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge auf den Be­schwerdeführer, hilfsweise die Erstellung der gemeinsamen Sorge, die das Recht auf Ausübung der elterlichen Sorge u. a. in Bezug auf die Erziehung und Betreuung seines Sohnes sowie die Bestimmung seines Aufenthalts einschließt, abgelehnt wurde, waren einen Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Familienlebens. Ein solcher Eingriff stellt eine Ver­letzung von Artikel 8 dar, es sei denn, er ist „gesetzlich vorgesehen“, verfolgt ein oder mehrere Ziele, die nach Absatz 2 dieser Bestimmung legitim sind, und kann als „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ angesehen werden.

Die maßgeblichen Entscheidungen des Amtsgerichts S., mit denen dieses ablehnte, der Mutter das alleinige Sorgerecht zu entziehen und es dem Beschwerdeführer zu übertragen bzw. die gemeinsame elterliche Sorge für seinen Sohn herzustellen, beruhten auf innerstaatlichem Recht, nämlich auf § 1666 BGB bzw. Artikel 224 § 2 Buchstabe a [sic] EGBGB. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist ferner überzeugt, dass die angegriffenen Gerichtsentscheidungen den Schutz des Kindes­wohls zum Ziel hatten und somit ein legitimes Ziel im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 EMRK verfolgten.

Bei der Entscheidung darüber, ob die angegriffenen Maßnahmen „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ waren, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu prüfen, ob die zur Rechtfertigung dieser Maßnahmen angeführten Gründe in Anbetracht der Rechtssache insgesamt im Sinne von Arti­kel 8 Abs. 2 EMRK zutreffend und ausreichend waren. Von entscheidender Bedeutung ist bei jeder Rechtssache dieser Art zweifellos die Überlegung, was dem Kindeswohl am besten dient. Dar­über hinaus ist zu bedenken, dass die nationalen Behörden insoweit im Vorteil sind, als sie un­mittelbaren Kontakt zu allen Beteiligten haben. Die Aufgabe des Europäische Gerichtshof für Menschenrechte besteht demnach nicht darin, an Stelle der nationalen Behörden deren Aufgaben in Fragen des Sorge- und Um­gangsrechts wahrzunehmen, sondern er hat vielmehr im Lichte der Konvention die Entschei­dungen zu überprüfen, die diese Behörden im Rahmen ihres Beurteilungsspielraums getroffen haben5.

Welcher Beurteilungsspielraum den zuständigen innerstaatlichen Behörden dabei einzuräu­men ist, hängt von der Art der streitigen Fragen und der Bedeutung der betroffenen Interessen ab. Insbesondere bei Sorgerechtsentscheidungen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte anerkannt, dass die Be­hörden insofern einen großen Spielraum haben. Einer genaueren Kontrolle bedarf es jedoch bei weitergehenden Beschränkungen, wie beispielsweise bei Einschränkungen des Umgangsrechts der Eltern durch diese Behörden, sowie bei allen gesetzlichen Maßnahmen, die einen wirksa­men Schutz des Rechts von Eltern und Kindern auf Achtung ihres Familienlebens gewährleis­ten sollen. Solche weitergehenden Beschränkungen bergen die Gefahr, dass die Familienbe­ziehungen zwischen einem kleinen Kind und einem oder beiden Elternteilen endgültig abge­schnitten werden6.

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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte weist insoweit erneut darauf hin, dass die innerstaatlichen Behörden nach Artikel 8 EMRK einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen des Kindes und denen der Eltern herbei­zuführen und dabei dem Wohl des Kindes, das je nach seiner Art und Bedeutung den Interes­sen der Eltern vorgehen kann, besonderes Gewicht beizumessen haben. Insbesondere kann ein Elternteil nach Artikel 8 EMRK nicht beanspruchen, dass Maßnahmen getroffen werden, die der Gesundheit und der Entwicklung des Kindes schaden würden7. In diesem Zusammenhang hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gelten lassen, dass es triftige Gründe dafür geben kann, einem nicht verheirateten Vater die Teilhabe an der elterlichen Sorge zu versagen; wenn Streitigkeiten oder mangelnde Kommunikation zwischen den Eltern das Kindeswohl gefährden können8.

Im Hinblick auf die Umstände der vorliegenden Rechtssache stellt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fest, dass die innerstaatlichen Gerichte insbesondere unter Bezugnahme auf die Feststellungen des psy­chologischen Sachverständigen vom 12. November 2004, die in der mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht am 19. Juni 2006 ergänzt wurden, zu dem Schluss kamen, dass es keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass das Wohl des Kindes durch die aktuelle Sorgerechtsregelung gefährdet sei, und deshalb auch keine Veranlassung bestehe, der Mutter nach § 1666 BGB das alleinige Sorgerecht zu entziehen und es dem Vater zu übertragen. In Anbetracht der anhalten­den Spannungen zwischen den Eltern und der Versuche des Vaters, die Erziehungsarbeit der Mutter zu untergraben, waren die Gerichte der Auffassung, dass vielmehr eine Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge auf den Vater dem Kindeswohl abträglich wäre. Die Feststellungen des Sachverständigen deckten sich mit der Einschätzung der für das Kind bestellten Verfah­renspflegerin. Die innerstaatlichen Gerichte trugen dem Umstand, dass sich das Kind nach sei­nem letzten Aufenthalt bei seinem Vater in B. im Jahr 2006 dahingehend geäußert hatte, nun bei seinem Vater leben und seine Mutter nur besuchen zu wollen, zwar Rechnung, waren aber gleichwohl von der Einschätzung des Sachverständigen überzeugt, dass das Kind auf­grund seines jungen Alters nicht fähig sei, sich die Konsequenzen einer solchen Entscheidung vorzustellen, und sich deshalb durch eine entsprechende Äußerung des Kindes eine Änderung der Einschätzung der Situation nicht ergeben könne. In seinem Beschluss vom 23. August 2006 führte das Amtsgericht S. auch aus, warum Zweifel an der Fachkompetenz des Sachver­ständigen oder der Richtigkeit seiner Schlussfolgerungen nicht veranlasst seien.

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Insbesondere in Anbetracht der anhaltenden und unüberbrückbaren Differenzen zwischen den Eltern sowie der mangelnden Einigung in Fragen der Erziehung, der Betreuung und des Aufenthaltsortes ihres Sohnes kamen die innerstaatlichen Gerichte zu dem Schluss, dass die gemeinsame elterliche Sorge dem Kindeswohl auch nicht dienlich wäre, und wiesen deshalb den Antrag des Beschwerdeführers, die diesbezügliche Zustimmung der Mutter nach Arti­kel 224 § 2 Buchstabe a [sic] EGBGB zu ersetzen, zurück.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist der Auffassung, dass die innerstaatlichen Gerichte die Begründung ihrer Beschlüsse auf Erwägungen gestützt haben, die auf eine Übertragung der elterlichen Sorge zum Wohl des Kindes gerichtet waren, und dass diese Gründe daher im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 zutreffend und ausreichend waren.

Darüber hinaus gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass der erforderliche Schutz der Interes­sen des Beschwerdeführers im Entscheidungsprozess der innerstaatlichen Gerichte nicht ge­währleistet war. Das Amtsgericht S. hörte die Eltern an und berücksichtigte Äußerungen und Berichte der Verfahrenspflegerin und des zuständigen Jugendamts sowie die Feststellun­gen des psychologischen Sachverständigen. Der Beschwerdeführer konnte in den Verfahren vor dem Amtsgericht und dem Oberlandesgericht alle Argumente für eine Übertragung des Sorgerechts für seinen Sohn auf ihn vorbringen. Es wurde ihm insbesondere Gelegenheit ge­geben, den Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung am 19. Juni 2006 zu befragen, und er hatte auch Zugang zu allen maßgeblichen Informationen, auf die sich die Gerichte ge­stützt haben.

Im Hinblick auf den Antrag des Beschwerdeführers, den Sachverständigen von einem Päda­gogen befragen zu lassen, stellte das Amtsgericht S. in seinem Beschluss vom 25. Juli 2005 fest, dass die beantragte Maßnahme im innerstaatlichen Recht regelmäßig nicht vorgese­hen sei, und führte schlüssig begründet aus, dass im Fall des Beschwerdeführers keine beson­deren Umständen vorlägen, die eine Abweichung von dieser Regel rechtfertigen würden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass es generell Sache der nationalen Gerichte ist, die ihnen vorliegenden Beweise zu würdigen; dies gilt auch für die Mittel zur Fest­stellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts9.

Hinsichtlich des Problems, dass das Kind vom Amtsgericht zuletzt im Jahr 2004, d.h. zwei Jahre vor dessen Beschluss vom 23. August 2006, angehört worden war, stellt der Gerichtshof fest, dass die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte, das Sorgerecht für den Sohn allein bei der Mutter zu belassen, auf ihrer Einschätzung beruhte, dass eine Übertragung des Sorge­rechts bzw. die Herstellung der gemeinsamen elterlichen Sorge dem Wohl des Kindes nicht dienlich sei, weil die Eltern offensichtlich und unbestritten keine Kooperationsbereitschaft zeig­ten. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die Verfahrenspflegerin, die an der Gerichtsver­handlung am 19. Juni 2006 teilnahm, erst kurz vor diesem Termin mit dem Kind gesprochen hatte. Unter diesen Umständen durften das Amtsgericht und das Oberlandesgericht zu der Ein­schätzung gelangen, dass eine erneute Anhörung des Kindes für die Entscheidung über eine Sorgerechtsübertragung nicht nötig war und es keines weiteren psychologischen Sachverstän­digengutachtens bedurfte.

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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erinnert außerdem daran, dass der Wunsch des Kindes, bei seinem Vater zu wohnen, im Rahmen des früheren Umgangsrechtsverfahrens berücksichtigt worden war. Mit Beschluss des Amtsgerichts S. vom 5. November 2002 war dem Beschwerdeführer im Wege der einstweiligen Anordnung ein Recht auf betreuten Umgang mit seinem Sohn einge­räumt worden; dieses Recht wurde mit Beschluss des Oberlandesgerichts Zweibrücken vom 15. Juli 2005 durch ein Recht auf regelmäßigen nicht betreuten Umgang mit seinem Sohn er­setzt. Der Gerichtshof ist der Meinung, dass diese Entscheidungen darauf gerichtet waren, eine übermäßige Einschränkung des Verhältnisses zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Sohn zu vermeiden.

Aus den vorstehenden Erwägungen und unter Berücksichtigung des großen Beurteilungs­spielraums, der den innerstaatlichen Behörden in Sorgerechtsfragen zusteht, ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte überzeugt, dass die Verfahrensweise der deutschen Gerichte unter den gegebenen Umständen angemessen war und dass sie mit ihren Beschlüssen in dem Sorgerechtsverfahren einen ge­rechten Ausgleich zwischen dem Wohl des Kindes und den Interessen der Eltern hergestellt haben.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellt daher fest, dass dieser Teil der Beschwerde ebenfalls offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und Abs. 4 der Konvention zurückzuwei­sen ist. Aus diesen Gründen erklärte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Individualbeschwerde mit Stimmenmehrheit für unzulässig.

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 21. Februar 2012 – 50216/09, D. gegen Deutschland

  1. siehe EGMR, Z. ./. Deutschland, a. a. O., Rdnrn. 42 ff, und S. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 38102/04, 7. Dezember 2010[]
  2. siehe Z., a. a. O., Rdnrn. 55 und 63[]
  3. EGMR, Urteil vom 08.07.2010 – 40014/05[]
  4. siehe u. a. E. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 25735/94, Rdnr. 43, ECHR 2000-VIII[]
  5. siehe S. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 30943/96, Rdnr. 64, EGMR 2003-VIII[]
  6. siehe N. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 39741/02, Rdnr. 64, 12. Juli 2007[]
  7. siehe S. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 31871/96, Rdnr. 64, ECHR 2003?VIII[]
  8. siehe Z., a. a. O., Rdnr. 56[]
  9. Vidal ./. Belgien, vom 22.04.1992, Rdnr. 33, Serie A Band 235-B[]