Sorgerechtsentziehung – wegen des Verdachts der Kindesmisshandlung

Das Bundesverfassungsgericht hat eine Verfassungsbeschwerde von Eltern nicht zur Entscheidung angenommen, denen wegen des Verdachts erheblicher Misshandlungen ihres zu den Vorfallzeitpunkten nur wenige Monate alten Kindes weite Teile des Sorgerechts entzogen wurden. Das als Beschwerdegericht zuständige Oberlandesgericht Frnakfurt am Main hat sich zuvor nach Einholung mehrerer medizinischer Gutachten und weiterer ärztlicher Stellungnahmen auf der Grundlage einer ausführlichen Beweiswürdigung die Überzeugung verschafft, dass sowohl der bei dem Kind festgestellte Spiralbruch eines Oberschenkels als auch der im Verhältnis zum Gesichtsschädel überdimensionierte Gehirnschädel auf körperlichen Misshandlungen im elterlichen Haushalt und nicht auf einem Unfallgeschehen oder einer Erkrankung des Kindes beruhen. Aus den in der Vergangenheit zugefügten Misshandlungen leitete das Oberlandesgericht Frankfurt ab, dass das Kindeswohl im elterlichen Haushalt auch zukünftig erheblich gefährdet sein werde und entzog deshalb den Eltern insbesondere das Aufenthaltsbestimmungsrecht mit einer Folge einer Fremdunterbringung des Kindes1.

Sorgerechtsentziehung – wegen des Verdachts der Kindesmisshandlung

Die Eltern sahen sich dadurch vor allem in ihrem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt, blieben mit ihrer auch darauf gestützten Verfassungsbeschwerde aber erfolglos:

Der Ausgangssachverhalt

DieEltern sind die miteinander verheirateten Eltern ihres am 29.08.2017 geborenen Kindes. Im September 2017 kam es in ihrem Haushalt zu einem nicht genau aufklärbaren Vorfall, aufgrund dessen das Kind einen Spiralbruch des rechten Oberschenkels erlitt, der operativ versorgt werden musste. Die Mutter rief deshalb einen Rettungswagen, der das Kind in ein Krankenhaus brachte. Dort wurden der Oberschenkelbruch sowie drei Hämatome am Unterschenkel festgestellt, die nach Einschätzung der behandelnden Ärzte zu Griffmarken passten. Nachdem zunächst von sorgerechtlichen Maßnahmen abgesehen worden war, wurde im November 2017 bei einer Untersuchung des Kindes festgestellt, dass der Gehirnschädel im Verhältnis zum Gesichtsschädel überdimensional war (Macrocephalie) und dass die Fontanelle vorgewölbt und gespannt war. Der Kopfumfang war bis dahin fortlaufend gemessen worden. Die Ärzte vermuteten ein Schütteltrauma und eine Misshandlung des Kindes durch die Eltern. Sie informierten das Jugendamt, das das Kind im Einverständnis mit den Eltern in Obhut nahm. Auch nach einer Untersuchung mittels Ultraschall und Magnetresonanztomographie (MRT) nahmen die Ärzte ein Schütteltrauma und die Einlagerung von Blut im Kopfbereich des Kindes an. Die Eltern erklärten, sich keinerlei Handlungen bewusst zu sein, die zu einem Schütteltrauma hätten führen können.

Die Entscheidung der Familiengerichte

Das Amtsgericht Michelstadt hatte daraufhin den Eltern weite Teil des Sorgerechts, insbesondere das Aufenthaltsbestimmungsrecht, entzogen2.

Die dagegen gerichtete Beschwerde der Eltern wies das Oberlandesgericht Frankfurt am Main zurück1. Nach seiner Prognose würde es für den Fall der Rückkehr des Kindes zu den Eltern mit hoher Wahrscheinlichkeit in überschaubarer Zeit aufgrund eines Erziehungsversagens eines Elternteils oder beider Elternteile zu einer erheblichen Schädigung der körperlichen Unversehrtheit des Kindes kommen. Die Prognose beruhe darauf, dass innerhalb der ersten drei Lebensmonate des Kindes zwei separate erhebliche Verletzungen entstanden seien, die beide Anlass für Rückschlüsse auf für die Zukunft relevante Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit der Eltern gäben. Der Vater habe im September 2017 aufgrund groben Erziehungsversagens den rechten Oberschenkel des Kindes mit massiver Gewalt verdreht und gebrochen. Zudem sei es zwischen dem 2.10.und dem 14.11.2017 zu einer Einblutung zwischen harter und weicher Hirnhaut und einem Subduralhämatom gekommen. Das ursächliche Ereignis sei entweder eine massive zielgerichtete gewalttätige Einwirkung eines der Elternteile auf den Körper des Kindes oder zumindest ein Sturz des Kindes aus einer Höhe von mindestens 90 cm mit Aufprallen auf dem Kopf, den die Eltern jedenfalls bemerkt hätten, ohne die erforderliche medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Auf welche Beweismittel und sonstigen Umstände das Oberlandesgericht seine Überzeugung von den vorgenannten Vorfällen stützt, hat es im von den die Verfassungsbeschwerde führenden Eltern angegriffenen Beschluss ausführlich dargelegt.

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Eine Anhörungsrüge der Eltern wies das Oberlandesgericht Frankfurt als unbegründet zurück3

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde machen die Eltern eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 6 Abs. 2 und aus Art. 103 Abs. 1 GG geltend.

Das Bundesverfassungsgericht nahm die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an, , weil sie weder grundsätzliche Bedeutung habe noch ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte der Eltern angezeigt sei (§ 93a Abs. 2 BVerfGG). Sie sei insgesamt aus unterschiedlichen Gründen unzulässig:

  • Soweit sie sich gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 11.05.2018 richtet, ist sie unzulässig, weil diese Entscheidung durch die Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts prozessual überholt ist und eine isoliert verbleibende Grundrechtsverletzung weder vorgetragen noch ersichtlich ist4. Es mangelt daher insoweit an dem erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis.
  • Die Verfassungsbeschwerde gegen den die Anhörungsrüge der Eltern zurückweisenden Beschluss des Oberlandesgerichts vom 16.06.2020 ist unzulässig, weil sich aus ihrem Vortrag keine eigenständige Beschwer durch diese Entscheidung ergibt5.
  • Soweit die Verfassungsbeschwerde gegen die Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts vom 09.03.2020 gerichtet ist, genügt ihre Begründung nicht den daran nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG zu stellenden Anforderungen. Die Eltern zeigen weder die Möglichkeit einer Verletzung ihres grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 103 Abs. 1 GG noch eine solche ihres Elternrechts (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) in der gebotenen substantiierten Weise auf.

Die Möglichkeit einer Verletzung des Rechts der Eltern auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG ergibt sich aus der Begründung der Verfassungsbeschwerde nicht.

Die pauschale Bezugnahme auf im Verfahren eingereichte Schriftsätze genügt nicht für die Benennung von übergangenem Vortrag. Es ist insoweit nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts, auf der Grundlage pauschaler Inbezugnahmen aus den vorgelegten Unterlagen des vorangegangenen Gerichtsverfahrens selbst Anhaltspunkte für Verfassungsverstöße herauszufinden6.

Ebenso wenig ergeben sich aus der Begründung der Verfassungsbeschwerde Anhaltspunkte für eine unzulässige Überraschungsentscheidung. Nach ihrem eigenen Vortrag hatten die Eltern  keinen Anlass, mit der Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens zu rechnen, nachdem das Oberlandesgericht sie schriftlich und im Termin darauf hingewiesen hatte, dass es nicht mehr beabsichtigt, ein solches Gutachten einzuholen. Im Übrigen ergibt sich aus der Verfassungsbeschwerde nicht, dass dieEltern bei einem entsprechenden Hinweis entscheidungserheblichen Vortrag vorgebracht hätten7.

Die Begründung der Verfassungsbeschwerde zeigt auch die Möglichkeit einer Verletzung des Elternrechts der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG nicht auf.

Das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Der Schutz des Elternrechts erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts8. Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt eine räumliche Trennung des Kindes von seinen Eltern nur unter der strengen Voraussetzung, dass das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreicht, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre9. Eine solche Gefährdung des Kindes ist dann anzunehmen, wenn bei ihm bereits ein Schaden eingetreten ist oder sich eine erhebliche Gefährdung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt10. Die negativen Folgen einer Trennung des Kindes von den Eltern und einer Fremdunterbringung sind dabei zu berücksichtigen11, und diese Folgen müssen durch die hinreichend gewisse Aussicht auf Beseitigung der festgestellten Gefahr aufgewogen werden, so dass sich die Situation des Kindes in der Gesamtbetrachtung verbessert12. Zudem darf eine Trennung des Kindes von seinen Eltern nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen13.

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Dem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG kann der verfassungsrechtliche Anspruch des Kindes aus Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG auf Schutz durch den Staat gegenüberstehen, wenn die Eltern ihrer Pflege- und Erziehungsverantwortung nicht gerecht werden und wenn sie ihrem Kind den erforderlichen Schutz und die notwendige Hilfe aus anderen Gründen nicht bieten können14. Ist das Kindeswohl nachhaltig gefährdet, kann der Staat verfassungsrechtlich verpflichtet sein, die räumliche Trennung des Kindes von den Eltern zu veranlassen oder aufrechtzuerhalten15. Bestehen Anhaltspunkte, dass dem Kind durch eine Misshandlung erhebliche, unumkehrbare Schäden drohen, insbesondere weil es in der Vergangenheit bereits zu einer solchen Misshandlung kam und die Eltern hierfür auf die ein oder andere Art als verantwortlich anzusehen sind, so verlangt ein Absehen von einer Trennung des Kindes von der Familie ein hohes Maß an Prognosesicherheit, dass dieser Schaden nicht eintreten wird. Dies schlägt sich in hohen Begründungsanforderungen einer Entscheidung nieder16.

Ob eine Trennung des Kindes von der Familie verfassungsrechtlich zulässig und zum Schutz der Grundrechte des Kindes verfassungsrechtlich geboten ist, hängt danach regelmäßig von einer Gefahrenprognose ab. Dem muss die Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens Rechnung tragen. Das gerichtliche Verfahren muss geeignet und angemessen sein, eine möglichst zuverlässige Grundlage für die vom Gericht anzustellende Prognose über die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu erlangen. Ob etwa Psychologen als Sachverständige hinzuzuziehen sind, um die für die Prognose notwendigen Erkenntnisse zu erlangen, muss das Gericht im Lichte seiner grundrechtlichen Schutzpflicht nach den Umständen des Einzelfalls beurteilen17.

Bei dieser Prognose, ob eine solche erhebliche Gefährdung vorauszusehen ist, muss von Verfassungs wegen die drohende Schwere der Beeinträchtigung des Kindeswohls berücksichtigt werden. Je gewichtiger der zu erwartende Schaden für das Kind oder je weitreichender mit einer Beeinträchtigung des Kindeswohls zu rechnen ist, desto geringere Anforderungen müssen an den Grad der Wahrscheinlichkeit gestellt werden, mit der auf eine drohende oder erfolgte Verletzung geschlossen werden kann18, und desto weniger belastbar muss die Tatsachengrundlage sein, von der auf die Gefährdung des Kindeswohl geschlossen wird19.

Die fachgerichtlichen Annahmen zu der Frage, ob diese Voraussetzungen im Einzelfall erfüllt sind, unterliegen wegen des besonderen Eingriffsgewichts einer strengen verfassungsgerichtlichen Überprüfung. Sie beschränkt sich nicht darauf, ob eine angegriffene Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts beruht20, sondern erstreckt sich auch auf einzelne Auslegungsfehler21 sowie auf deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts22.

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Aus der Begründung der Verfassungsbeschwerde und den – allerdings nicht vollständig – vorgelegten Unterlagen ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 09.03.2020 diesen Anforderungen nicht genügt. Weder werden deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts aufgezeigt noch lässt die darauf aufbauende Auslegung und Anwendung des Fachrechts, insbesondere von §§ 1666, 1666a BGB, verfassungsrechtlich relevante Auslegungsfehler erkennen.

Das Oberlandesgericht hat ohne erkennbare verfassungsrechtlich relevante Fehler festgestellt, dass das Kind durch ein schweres Erziehungsversagen und eine bewusst gesteuerte Handlung des Vaters am 17.09.2017 einen Spiralbruch des Oberschenkels und dass es durch einen weiteren Vorfall zwischen dem 2.10.und dem 14.11.2017 ein Subduralhämatom erlitten hat. Die Eltern legen auch nicht dar, dass eine weitere Sachverhaltsaufklärung, insbesondere durch Einholung eines familienpsychologischen Gutachtens, erfolgversprechend gewesen wäre.

Die Feststellung, dass der Vater am 17.09.2017 durch ein bewusst gesteuertes Verhalten einen Spiralbruch des rechten Oberschenkels des Kindes verursacht hat, weist bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts keine deutlichen Fehler auf, aus denen eine Verletzung des Elternrechts der Eltern folgen könnte.

Das vom Oberlandesgericht hierbei herangezogene Beweismaß ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Es hat in Übereinstimmung mit der fachrechtlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auf die Grundsätze der freien Beweiswürdigung nach § 286 ZPO auch im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit zurückgegriffen23 und als Maß für den Beweis einen Grad von Gewissheit ausreichen lassen, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen24. Die hier vorzunehmende strenge verfassungsrechtliche Prüfung der Sachverhaltsfeststellung und -würdigung des Beschwerdegerichts gebietet keinen höheren Grad der Gewissheit. Dies liefe auf die Notwendigkeit einer in jeder Hinsicht unumstößlichen Sicherheit hinaus, die im Ergebnis praktisch unerfüllbare Anforderungen an den Beweis stellte24. Angesichts der drohenden erheblichen Schädigungen des Kindeswohls sind keine erhöhten Anforderungen an die richterliche Überzeugung im Rahmen der Beweiswürdigung zu stellen. Die verfassungsrechtliche Überprüfung der Beweiswürdigung erstreckt sich auch im Fall einer nach Art. 6 Abs. 3 GG zu beurteilenden Trennung des Kindes von seinen Eltern trotz der intensiveren Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich nur darauf, ob die Feststellungen auf einer tragfähigen Grundlage beruhen und ob sie nachvollziehbar begründet sind25.

Das Oberlandesgericht hat in nachvollziehbarer Weise angenommen, dass sich die Verletzung ereignete, als der Vater alleine mit dem Kind in einem Raum der Familienwohnung war, während sich die Mutter im Bade- oder im Schlafzimmer aufhielt. Insoweit stimmen die ansonsten in vielen Punkten widersprüchlichen Aussagen derEltern überein.

Ferner hat das Oberlandesgericht aufgrund der notwendigen Begehungsweise ohne erkennbare Rechtsfehler in der Beweiswürdigung festgestellt, dass der Vater zumindest in dem Bewusstsein gehandelt haben muss, dem Kind Schmerzen zuzufügen und es womöglich schwer zu verletzen, und es schließt einen bloßen ungeschickten Umgang mit dem Kind als Ursache der Verletzung nachvollziehbar aus. Es hat sich mit Hilfe der Behandlungsunterlagen, der Berichte der behandelnden Ärzte und rechtsmedizinischer Sachverständigengutachten davon überzeugt, dass es sich bei der Verletzung um einen Spiralbruch des Oberschenkels handelt, dessen Entstehung sowohl eine Drehbewegung als auch eine starke Beugung des Oberschenkels und insbesondere eine massive Gewalteinwirkung erfordert. Weiterhin schließt das Oberlandesgericht mit Hilfe der auf ihrer wissenschaftlichen Sachkunde beruhenden Ausführungen der rechtsmedizinischen Sachverständigen die von denEltern vorgebrachten alternativen Geschehensabläufe wie eine Eigenbewegung des Kindes oder einen Sturz, nachdem das Kind aus den Armen gerutscht ist, in nicht zu beanstandender Weise aus. Entgegen der Behauptung derEltern ist insoweit nicht erkennbar, dass die Ausführungen der Sachverständigen auf Vermutungen beruhen. Vielmehr stützen sich die Ausführungen ausweislich der Darstellung der Sachverständigengutachten auf die vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse über die notwendige Entstehungsweise der Verletzung, aus der die Sachverständigen – und ihnen folgend das Oberlandesgericht – auf die dazu erforderlichen Vorgänge schließen.

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Ebenso stellt das Oberlandesgericht ohne erkennbare Fehler fest, dass das Kind durch einen weiteren Vorfall zwischen dem 2.10.und dem 14.11.2017 ein Subduralhämatom erlitten hat und dass mindestens ein Elternteil das Verletzungsgeschehen zumindest mitbekommen haben muss. Weder die Feststellung, dass das Kind ein Suburalhämatom erlitten hat noch die Feststellung, dass diese Verletzung zwischen dem 2.10.2017 und dem 14.11.2017 erfolgt ist, und dass sie durch ein Geschehen entstanden sein muss, das zumindest ein Elternteil bemerkt hat, ist verfassungsrechtlich zu beanstanden. Deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts sind auch insoweit in der Verfassungsbeschwerde weder substantiiert dargelegt noch aus den beigefügten Unterlagen sonst ersichtlich.

Das Oberlandesgericht hat in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise festgestellt, dass das Kind ein Subduralhämatom erlitten hat. Es hat nachvollziehbar und unter Bezugnahme auf die verschiedenen medizinischen Sachverständigengutachten dargelegt, dass bei einer MRT-Untersuchung am 15.11.2017 ein subdurales Hygrom erkannt worden sei. Zwar hat die radiologische Sachverständige insoweit erklärt, dass aufgrund einer rein radiologischen Beurteilung nicht auf ein Subduralhämatom geschlossen werden könne, weil lediglich eine Ansammlung einer anderen Flüssigkeit als Hirnflüssigkeit radiologisch festzustellen sei. Entgegen der Ansicht derEltern stützt das Oberlandesgericht seine Feststellung aber nicht alleine hierauf, sondern insbesondere auf die Ausführungen der rechtsmedizinischen Sachverständigen Dr. B. Aufgrund dieser Ausführungen hat das Oberlandesgericht sämtliche anderen möglichen Ursachen des subduralen Hygroms als eine vorangegangene Subduralblutung ausgeschlossen. Es hat ausführlich dargelegt, warum es eine Stoffwechselerkrankung als mögliche Ursache dieser Flüssigkeitsansammlung ausschließt. Nicht zu beanstanden ist insoweit, dass das Oberlandesgericht auf eine aufwändige, nur durch ein Labor im Ausland mögliche Untersuchung zum vollständigen Ausschluss dieser Krankheit verzichtet hat, nachdem sonstige typische Symptome dieser Krankheit nicht erkennbar sind, sowohl ein Neugeborenenscreening als auch eine molekulargenetische Untersuchung keine Hinweise auf das Vorliegen dieser Krankheit ergeben haben und die Sachverständige Dr. B. unter Bewertung aller Faktoren das Vorliegen dieser Krankheit als medizinisch ausgeschlossen angesehen hat. Mit den hier maßgeblichen strengen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Feststellung und Würdigung ist es vereinbar, dass das Oberlandesgericht sich nicht veranlasst gesehen hat, einem behaupteten alternativen Ursachenzusammenhang nachzugehen, für dessen Vorliegen die sonstigen beanstandungsfrei gewonnenen Beweisergebnisse keine konkreten Anhaltspunkte ergeben haben.

Ebenso weist die Feststellung, dass die Subduralblutung erst nach dem 2.10.2017 aufgetreten ist, keine verfassungsrechtlich relevanten Fehler auf. Die Würdigung, dass eine vorhergehende entsprechende Verletzung ausgeschlossen ist, hat das Oberlandesgericht nachvollziehbar begründet. Es hat darauf abgestellt, dass das Kind zuvor im Krankenhaus wegen des Verdachts einer Misshandlung ausführlich untersucht worden ist, ohne dass Anzeichen für eine solche Verletzung festgestellt werden konnten, und es hat auch andere mögliche Ursachen nach Beratung durch die medizinischen Sachverständigen mit umfassender Begründung verneint. Ebenso hat es nachvollziehbar dargelegt, warum trotz der erfolgten Familienhilfe und der ärztlichen Untersuchungen in der Zwischenzeit nicht ausgeschlossen ist, dass es zu einer entsprechenden Verletzung kam, die vom Fachpersonal nicht erkannt wurde. Das findet in der tatsachengestützten Erwägung, es hätten mehrfach Zeiträume von mehreren Tagen vorgelegen, in denen weder eine ärztliche Untersuchung noch ein Besuch der – ohnehin nicht medizinisch ausgebildeten – Familienhelferin erfolgte, eine ausreichende Grundlage.

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Auch die Feststellung, dass die Subduralblutung – wenn nicht durch eine Misshandlung des Kindes durch starkes Schütteln – zumindest durch einen schweren Unfall, insbesondere durch ein Sturzereignis aus einer Höhe von mindestens 90 cm, verursacht wurde, ist nachvollziehbar begründet und beruht auf einer hinreichenden Grundlage. Insofern hat das Oberlandesgericht mit Hilfe der medizinischen Sachverständigen die möglichen Verletzungsursachen überzeugend auf diese Möglichkeiten eingegrenzt. Angesichts dieses Hergangs der Verletzungen ist auch die Schlussfolgerung überzeugend, dass mindestens ein Elternteil das Geschehen zumindest mitbekommen hat, ohne medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Anhaltspunkte, dass die Sachverhaltsaufklärung durch das Oberlandesgericht im Übrigen unzureichend gewesen sein könnte, ergeben sich nicht aus der Begründung der Verfassungsbeschwerde. Sie sind auch sonst nicht ersichtlich. Nachvollziehbar hat das Oberlandesgericht insbesondere begründet, dass angesichts der fehlenden Angaben zum Geschehen durch die Eltern für ein familienpsychologisches Gutachten kaum hinreichende Anknüpfungspunkte vorliegen, auf denen eine psychologische Empfehlung überhaupt aufgebaut werden könnte. Dass dieEltern sich in einer Begutachtung weiter geöffnet und mehr Einblick in ihr Leben, insbesondere die Umstände der Verletzungen gegeben hätten, ist nicht ersichtlich. Etwas Anderes legen dieEltern in der Verfassungsbeschwerde auch nicht dar.

Einzelne Fehler des Oberlandesgerichts bei Auslegung und Anwendung der §§ 1666, 1666a BGB, auf die es die getroffene Sorgerechtsentscheidung gestützt hat, zeigt die Verfassungsbeschwerde ebenfalls nicht auf.

Es begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass das Oberlandesgericht eine nachhaltige Kindeswohlgefährdung durch mögliche zukünftige Misshandlungen oder erhebliche körperliche Verletzungen des Kindes festgestellt hat, obwohl es keine konkreteren Feststellungen zu den einzelnen Verletzungshandlungen oder Versäumnissen derEltern als die erfolgten treffen konnte. Wegen des auf beanstandungsfrei gewonnener tatsächlicher Grundlage prognostizierten schweren gesundheitlichen Schadens für das Kind ist der Schluss aus den festgestellten Tatsachen darauf, dass bei der Betreuung durch dieEltern mit ziemlicher Sicherheit mit weiteren ähnlichen Verletzungen des Kindes zu rechnen ist, verfassungsrechtlich unbedenklich. Nach den nicht zu beanstandenden Feststellungen geht das Oberlandesgericht davon aus, dass das Kind aufgrund eines schwerwiegenden Erziehungsversagens des Vaters durch dessen bewusstes und gesteuertes Verhalten einen Beinbruch erlitt sowie, dass durch ein hiervon unabhängiges Geschehen eine Subduralblutung entstand und die Eltern die notwendige ärztliche Versorgung nach dieser Verletzung nicht sicherstellten. Es hat somit zwei erhebliche Verletzungen des Kindes festgestellt, die innerhalb der ersten drei Lebensmonate des Kindes und während der Betreuung durch dieEltern erfolgten. Solche während der Betreuung durch die Eltern entstandenen Verletzungen sind hinreichende Anhaltspunkte für die Annahme der Gefahr weiterer Verletzungen des Kindes, wenn es weiterhin von den Eltern betreut wird26. DieEltern haben dabei widersprüchliche Erklärungen zu den Verletzungen abgegeben. Bei beiden Verletzungen handelt es sich um erhebliche Verletzungen, letztere ist potentiell lebensbedrohlich. Angesichts der Schwere der durch weitere Verletzungen drohenden Schäden sind verfassungsrechtlich keine weitergehenden Feststellungen zum Grad der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts und auch keine weitergehende Konkretisierung möglicher Verletzungshandlungen geboten.

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Die Verfassungsbeschwerde zeigt auch nicht substantiiert auf, dass die Entscheidung des Oberlandesgerichts dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht gerecht wird. Es begründet nachvollziehbar, warum mildere Mittel als die Fremdunterbringung des Kindes nicht geeignet sind, die Gefahr für das Kindeswohl in gleicher Weise abzuwehren. DieEltern bringen hiergegen keine durchgreifenden Einwände vor. Angesichts der drohenden erheblichen Verletzungen des Kindes ist die Fremdunterbringung auch im Übrigen verhältnismäßig.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 16. September 2022 – 1 BvR 1807/20

  1. OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 09.03.2020 – 6 UF 131/18[][]
  2. AG Michelstadt, Beschluss vom 11.05.2018 – 44 F 635/17 SO[]
  3. OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 16.06.2020 – 6 UF 131/18[]
  4. vgl. BVerfG, Beschluss vom 27.11.2020 – 1 BvR 836/20, Rn. 13 m.w.N.[]
  5. vgl. BVerfG, Beschluss vom 20.11.2019 – 2 BvR 31/19, 2 BvR 886/19, Rn. 43 m.w.N.[]
  6. vgl. BVerfGE 83, 216 <228>[]
  7. vgl. BVerfGE 28, 17 <20> 72, 122 <132> 91, 1 <25 f.> 112, 185 <206>[]
  8. vgl. BVerfGE 84, 168 <180> 107, 150 <173> BVerfG, Beschluss vom 21.07.2022 – 1 BvR 469/20 u.a., Rn. 68[]
  9. vgl. BVerfGE 60, 79 <91> 136, 382 <391 Rn. 28 f.> stRspr[]
  10. vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 10.06.2020 – 1 BvR 572/20, Rn. 22 m.w.N.; und vom 21.09.2020 – 1 BvR 528/19, Rn. 30[]
  11. vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.06.2020 – 1 BvR 572/20, Rn. 23 m.w.N.[]
  12. vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.04.2018 – 1 BvR 383/18, Rn. 15 ff.; Beschluss vom 21.09.2020 – 1 BvR 528/19, Rn. 30 m.w.N.[]
  13. vgl. BVerfGE 60, 79 <89> stRspr[]
  14. vgl. BVerfG, Beschluss vom 03.02.2017 – 1 BvR 2569/16, Rn. 39[]
  15. vgl. BVerfGE 60, 79 <91> 72, 122 <140> 136, 382 <391 Rn. 28> stRspr[]
  16. vgl. BVerfG, Beschluss vom 03.02.2017 – 1 BvR 2569/16, Rn. 54[]
  17. vgl. BVerfGE 55, 171 <182> BVerfG, Beschlüsse vom 03.02.2017 – 1 BvR 2569/16, Rn. 46 und vom 12.02.2021 – 1 BvR 1780/20, Rn. 28[]
  18. vgl. BVerfG, Beschluss vom 21.09.2020 – 1 BvR 528/19, Rn. 30[]
  19. vgl. zu den allgemeinen Grundsätzen der Gefahrenabwehr BVerfGE 100, 313 <392> 113, 348 <385>[]
  20. vgl. BVerfGE 18, 85 <93>[]
  21. vgl. BVerfGE 60, 79 <91>[]
  22. vgl. BVerfGE 136, 382 <391 Rn. 28>[]
  23. vgl. BGHZ 184, 269 <280 f. Rn. 34>[]
  24. vgl. BGH, Urteil vom 19.07.2019 – V ZR 255/17, Rn. 27[][]
  25. vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.02.2021 – 1 BvR 1780/20, Rn. 29, 31[]
  26. vgl. BVerfGK 17, 212 <219> BVerfG, Beschluss vom 03.02.2017 – 1 BvR 2569/16, Rn. 54[]

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