Übergang des Unterhaltsanspruchs bei behinderten volljährigen Kindern

Nach § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB XII geht der zivilrechtliche Unterhaltsanspruch eines Sozialhilfeberechtigten bis zur Höhe der geleisteten Aufwendungen mit dem unterhaltsrechtlichen Auskunftsanspruch auf den Träger der Sozialhilfe über. § 94 Abs. 2 Satz 1 SGB XII sieht eine Ausnahme von diesem generellen Anspruchsübergang für die Eltern behinderter oder pflegebedürftiger Kinder vor. Der Anspruch einer volljährigen unterhaltsberechtigten Person, die behindert im Sinne von § 53 SGB XII oder pflegebedürftig im Sinne von § 61 SGB XII ist, gegenüber ihren Eltern geht wegen geleisteter Eingliederungshilfe für behinderte Menschen (§§ 53 bis 60 SGB XII) und Hilfe zur Pflege (§§ 61 bis 66 SGB XII) nur bis zur Höhe von 26,00 € monatlich, wegen Hilfe zum Lebensunterhalt (§§ 27 bis 40 SGB XII) nur bis zur Höhe von 20,00 € monatlich auf den Träger der Sozialhilfe über. Allerdings wird nach § 94 Abs. 2 Satz 2 SGB XII widerlegbar vermutet, dass der Anspruch in dieser Höhe übergeht und mehrere Unterhaltspflichtige, wie hier die Beklagten als Eltern, zu gleichen Teilen haften.

Übergang des Unterhaltsanspruchs bei behinderten volljährigen Kindern

Dabei handelt es sich um eine Pauschalabgeltung des auf den Sozialhilfeträger übergehenden Unterhalts1. Der allgemeine Anspruchsübergang aus § 94 Abs. 1 SGB XII ist aber nur dann auf diese Pauschalbeträge nach § 94 Abs. 2 SGB XII begrenzt, wenn die Eltern eines volljährigen Leistungsempfängers in Anspruch genommen werden, der Leistungsempfänger behindert oder pflegebedürftig ist und Leistungen nach dem dritten, sechsten oder siebten Kapitel des SGB XII erbracht werden2.

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Zur Höhe geht die Pauschalierung wegen geleisteter Eingliederungshilfe für behinderte Menschen und wegen Hilfe zur Pflege auf monatlich 26,00 € auf die zum 1. Januar 2002 eingeführte frühere Regelung in § 91 Abs. 2 BSHG zurück3. Diese Regelung bezog sich allerdings nur auf Leistungen, die in vollstationären Einrichtungen erbracht wurden. Weil dadurch die Eltern benachteiligt wurden, deren Kinder ambulant oder teilstationär Hilfe erhielten, wurde die Pauschalierung auch auf solche Leistungen erstreckt4. Der Betrag von 26,00 € belief sich bei Inkrafttreten zum 1. Januar 2002 bis einschließlich 2008 auf rund 1/6 des für das erste bis dritte Kind gezahlten Kindergeldes5. Mit der Neuregelung durch das SGB XII zum 1. Januar 2005 ist die weitere Pauschalierung für Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem dritten Kapitel des SGB XII in Höhe von monatlich bis zu 20,00 € hinzugefügt worden. Seitdem beläuft sich die Summe der Inanspruchnahme der Eltern für Leistungen an behinderte oder pflegebedürftige volljährige Kinder auf monatlich 46,00 €.

Die gesetzliche Vermutung in § 94 Abs. 2 Satz 2 SGB XII, wonach der Unterhaltsanspruch des Kindes in Höhe der genannten Beträge übergeht und mehrere Unterhaltspflichtige zu gleichen Teilen haften, ist ausdrücklich widerlegbar. Dies setzt allerdings einen Vortrag der unterhaltspflichtigen Eltern zur Leistungsunfähigkeit oder zur abweichenden anteiligen Haftung voraus6. Daran fehlt es hier.

Keine Abhängigkeit von Kindergeldbezug

Der Anspruchsübergang nach § 94 Abs. 2 SGB XII ist nicht davon abhängig, dass die unterhaltspflichtigen Eltern für das behinderte oder pflegebedürftige Kind Kindergeld erhalten.

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Schon der Wortlaut der Vorschrift spricht nicht für einen notwendigen Zusammenhang zwischen dem – ohnehin sehr begrenzten – Anspruchsübergang und einer Kindergeldberechtigung. Denn nach § 94 Abs. 2 Satz 1 SGB XII ist der privilegierte Anspruchsübergang allein an die genannten Voraussetzungen geknüpft. § 94 Abs. 2 Satz 2 SGB XII stellt lediglich die Vermutung der Leistungsfähigkeit und der gleich hohen Unterhaltspflicht mehrerer Unterhaltspflichtiger auf, die von ihnen widerlegt werden kann. Auch insoweit lässt sich dem Gesetz kein Bezug zur Kindergeldberechtigung entnehmen.

Soweit § 94 Abs. 2 Satz 3 SGB XII regelt, dass sich die genannten Pauschalbeträge zum gleichen Zeitpunkt und um denselben vom Hundersatz verändern, um den sich das Kindergeld verändert, kann dem die von der Revision geltend gemachte Abhängigkeit des Anspruchsübergangs von einem Kindergeldbezug nicht entnommen werden. Denn die Vorschrift beschränkt sich allein auf die Höhe des übergegangenen Anspruchs und orientiert sich im Rahmen der Zumutbarkeit nur insoweit an der Entwicklung des Kindergeldes. Ein zwingender Zusammenhang zwischen Anspruchsübergang und Kindergeldbezug lässt sich daraus nicht herleiten. Auch der Gesetzesbegründung lässt sich solches nicht entnehmen7.

Die Gesetzessystematik spricht sogar gegen eine solche Auffassung. Denn § 94 Abs. 2 SGB XII sieht aus sozialstaatlichen Erwägungen eine Ausnahme vom allgemeinen Anspruchsübergang nach § 94 Abs. 1 SGB XII vor. Sinn dieser Regelung ist eine Privilegierung der Eltern behinderter oder pflegebedürftiger volljähriger Kinder. Dem liegt der Schutzgedanke zugrunde, dass die durch die Behinderung ihres erwachsenen Kindes ohnehin schwer getroffenen Eltern nicht auch noch mit hohen Pflegekosten belastet werden sollen8. § 94 Abs. 2 SGB XII beinhaltet für die dort genannten Fälle also eine Ausnahme von dem umfassenden Anspruchsübergang nach § 94 Abs. 1 SGB XII. Wenn die Voraussetzungen der Privilegierung nach § 94 Abs. 2 SGB XII nicht vorlägen, würde der gesamte Unterhaltsanspruch nach § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB XII auf den Träger der Sozialhilfe übergehen. Würde die Privilegierung den Bezug von Kindergeld voraussetzen, liefe dies dem Gesetzeszweck zuwider. Die Bedeu-tung der Privilegierung des § 94 Abs. 2 SGB XII erschöpft sich mithin in der sozialstaatlichen Zielsetzung der Vorschrift9.

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Die Zahlung des Kindergeldes ist mithin nicht Voraussetzung für die Anwendung des § 94 Abs. 2 SGB XII. Auch wenn kein Kindergeld gewährt wird, etwa weil bei getrennt lebenden oder geschiedenen Ehegatten der andere Elternteil das Kindergeld erhält oder – wie hier – die Behinderung oder Pflegebedürftigkeit erst nach Wegfall des Kindergeldes einsetzt, greift der privilegierte Anspruchsübergang ein10.

Keine unbillige Härte

Die Vorschrift des § 94 Abs. 3 Nr. 2 SGB XII schließt einen Übergang des Unterhaltsanspruchs auf den Sozialhilfeträger aus, wenn dies eine unbillige Härte für die Unterhaltspflichtigen bedeuten würde. Der unbestimmte Rechtsbegriff der unbilligen Härte belässt dem Sozialhilfeträger keinen Ermessensspielraum, sondern unterliegt der vollen gerichtlichen Nachprüfung11. Der Begriff ist durch das Gesetz zur Umsetzung des föderalen Konsolidierungsprogramms12 in das Überleitungsrecht eingeführt worden. Nach den damaligen Gesetzesmaterialien sollte eine Anpassung an die Sprachregelung des Unterhaltsrechts, etwa an die Vorschriften der §§ 1577 Abs. 3 und 1611 Abs. 1 Satz 2 BGB, bewirkt werden13. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kommen Umstände, die bereits nach bürgerlichem Recht ganz oder teilweise einer Geltendmachung eines Unterhaltsanspruchs entgegenstehen, nicht als Härtegrund im Sinne des § 94 Abs. 3 Nr. 2 SGB XII in Betracht. Denn soweit ein Unterhaltsanspruch nicht besteht, kann er auch nicht auf den Träger der Sozialhilfe übergehen14. Die Bedeutung der unbilligen Härte im Sinne der Übergangsvorschrift muss deswegen darüber hinausgehen.

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Das Verständnis der unbilligen Härte im Sinne des § 94 Abs. 3 Nr. 2 SGB XII hängt von den sich wandelnden Anschauungen der Gesellschaft ab. Die Härte kann in materieller oder immaterieller Hinsicht bestehen und entweder in der Person des Unterhaltspflichtigen oder des Unterhaltsberechtigten vorliegen. Bei der Auslegung ist in erster Linie die Zielsetzung der Hilfe zu berücksichtigen; daneben sind aber auch die allgemeinen Grundsätze der Sozialhilfe, die Belange der Familie und die wirtschaftlichen und persönlichen Beziehungen sowie die soziale Lage der Beteiligten heranzuziehen. Entscheidend ist allerdings stets, ob durch den Anspruchsübergang soziale Belange vernachlässigt werden15.

Eine unbillige Härte liegt insbesondere vor,16

  • wenn und soweit der Grundsatz der familiengerechten Hilfe, nach dem u.a. auf die Belange und Beziehungen in der Familie Rücksicht zu nehmen ist (vgl. § 16 SGB XII), ein Absehen von der Heranziehung gebietet,
  • wenn die laufende Heranziehung in Anbetracht der sozialen und wirtschaftlichen Lage des Unterhaltspflichtigen mit Rücksicht auf die Höhe und Dauer des Bedarfs zu einer nachhaltigen und unzumutbaren Beeinträchtigung des Unterhaltspflichtigen und der übrigen Familienmitglieder führen würde,
  • wenn die Zielsetzung der Hilfe in der Gewährung von Schutz und Zuflucht, etwa in einem Frauenhaus, besteht und dies durch die Mitteilung der Hilfe an den Unterhaltspflichtigen gefährdet erscheint oder
  • wenn der Unterhaltspflichtige den Sozialhilfeempfänger bereits vor Eintritt der Sozialhilfe über das Maß einer zumutbaren Unterhaltsverpflichtung hinaus betreut oder gepflegt hat.
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Allerdings sind diese Fallgruppen nicht abschließend, weil die gebotene Billigkeitsprüfung stets eine umfassende Abwägung aller relevanten Umstände voraussetzt17.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 23. Juni 2010 – XII ZR 170/08

  1. Wendl/Scholz aaO § 8 Rdn. 86; Schnitz-ler/Günther, MAH Familienrecht 2. Aufl. § 12 Rdn. 75 f.[]
  2. vgl. Schellhorn/Schellhorn/Hohm SGB XII 17. Aufl. § 94 Rdn. 84 ff.; Oestreicher/Decker SGB II/SGB XII Stand: Februar 2010 § 94 SGB XII Rdn. 179 ff.; LPK-SGB XII/Münder 8. Aufl. § 94 Rdn. 35; Grube/Warendorf SGB XII 3. Aufl. § 94 Rdn. 24; Mergler/Zink Handbuch der Grundsicherung und Sozialhilfe Teil II 4. Aufl.; vgl. auch BT-Drs. 15/1514 S. 66 f.[]
  3. dort 50 DM, vgl. BT-Drs. 14/5786 S. 151 und BGBl. I 2001 S. 1046, 1112[]
  4. Schellhorn/Schellhorn/Hohm aaO § 94 Rdn. 90[]
  5. LPK-SGB XII/Münder aaO § 94 Rdn. 37[]
  6. vgl. Schellhorn/Schellhorn/Hohm aaO § 94 Rdn. 92 f.; Oestreicher/Decker aaO § 94 SGB XII Rdn. 186; LPK-SGB XII/Münder aaO § 94 Rdn. 36; Grube/Warendorf aaO § 94 Rdn. 24; Wendl/Scholz aaO § 8 Rdn. 76; Schnitzler/Günther aaO § 12 Rdn. 76[]
  7. vgl. BT-Drs. 15/1514 S. 66 f. und 14/5786 S. 151[]
  8. BVerwGE 92, 330; Oestreicher/Decker aaO § 94 SGB XII Rdn. 177[]
  9. BVerwG, NJW 1993, 150; Oestrei-cher/Decker aaO § 94 SGB XII Rdn. 177[]
  10. so auch Schellhorn/Schellhorn/Hohm aaO § 94 Rdn. 91[]
  11. Schellhorn/Schellhorn/Hohm aaO § 94 Rdn. 101[]
  12. FKPG vom 23.06.1993 – BGBl. I S. 944, 952[]
  13. Grube/Warendorf aaO § 94 Rdn. 28[]
  14. BGH, Urteil vom 21.04.2004 – XII ZR 251/01, FamRZ 2004, 1097, 1098[]
  15. BGH, Urteil vom 21.04.2004 – XII ZR 251/01, FamRZ 2004, 1097, 1098 mit Anm. Klinkhammer FamRZ 2004, 1283 f.; und vom 23.06.2003 – XII ZR 339/00, FamRZ 2003, 1468, 1470 mit Anm. Klinkhammer FamRZ 2004, 266, 268 f.; Wendl/Scholz aaO § 8 Rdn. 88 f.; BVerwGE 29, 229, 235 und 58, 209, 211[]
  16. BGH, Urteile vom 21.04.2004 – XII ZR 251/01, FamRZ 2004, 1097, 1098; und vom 23.07.2003 – XII ZR 339/00, FamRZ 2003, 1468, 1470; BVerwGE 58, 209, 212; Oestreicher/Decker aaO § 94 SGB XII Rdn. 168; Wendl/Scholz aaO § 8 Rdn. 89[]
  17. vgl. auch die Empfehlungen für die Heranziehung Unterhaltspflichtiger in der Sozialhilfe [SGB XII] vom Deutschen Verein für öffentliche und private Vorsorge Stand: 1. Juli 2005 FamRZ 2005, 1387, 1388 Nr. 16 ff.[]
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