Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts und Elternrecht

Das den Eltern gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verfassungsrechtlich gegenüber dem Staat gewährleistete Freiheitsrecht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder dient in erster Linie dem Kindeswohl, das zugleich oberste Richtschnur für die Ausübung der Elternverantwortung ist1. Der Schutz des Elternrechts, das Vater und Mutter gleichermaßen zukommt, erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts2. Für den Fall, dass die Voraussetzungen für eine gemeinsame Wahrnehmung der Sorge fehlen, bedarf das Elternrecht der gesetzlichen Ausgestaltung3. Dem dient § 1671 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 2 BGB, der bestimmt, dass einem Elternteil auf Antrag die elterliche Sorge oder ein Teil der elterlichen Sorge – beispielsweise das Aufenthaltsbestimmungsrecht – allein zu übertragen ist, wenn zu erwarten ist, dass die Aufhebung der gemeinsamen Sorge und die Übertragung auf den Antragsteller dem Wohl des Kindes am besten entspricht4.

Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts und Elternrecht

Aus der grundrechtlichen Gewährleistung des Elternrechts wie auch aus der Verpflichtung des Staates, über dessen Ausübung im Interesse des Kindeswohls zu wachen, ergeben sich auch Folgerungen für das Prozessrecht und seine Handhabung in Sorgerechtsverfahren5. Eine dem Elternrecht genügende Entscheidung kann nur aufgrund der Abwägung aller Umstände des Einzelfalls getroffen werden6, bei der allerdings auch zu berücksichtigen ist, dass die Abwägung nicht an einer Sanktion des Fehlverhaltens eines Elternteils, sondern vorrangig am Kindeswohl zu orientieren ist7.

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Der Wille des Kindes ist zu berücksichtigen, soweit das mit seinem Wohl vereinbar ist. Voraussetzung hierfür ist, dass das Kind in dem gerichtlichen Verfahren die Möglichkeit erhält, seine persönlichen Beziehungen zu den Eltern erkennbar werden zu lassen. Die Gerichte müssen ihr Verfahren deshalb so gestalten, dass sie möglichst zuverlässig die Grundlage einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung erkennen können5. Mit der Kundgabe seines Willens macht das Kind zum einen von seinem Recht zur Selbstbestimmung Gebrauch. Denn jede gerichtliche Lösung eines Konflikts zwischen den Eltern, die sich auf die Zukunft des Kindes auswirkt, muss nicht nur auf das Wohl des Kindes ausgerichtet sein, sondern das Kind auch in seiner Individualität als Grundrechtsträger berücksichtigen, weil die sorgerechtliche Regelung entscheidenden Einfluss auf das weitere Leben des Kindes nimmt und es daher unmittelbar betrifft8. Hat der unter diesem Aspekt gesehene Kindeswille bei einem Kleinkind noch eher geringes Gewicht, so kommt ihm im zunehmenden Alter des Kindes vermehrt Bedeutung zu9. Nur dadurch, dass Eltern die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis ihres Kindes zu selbständigem verantwortungsvollem Handeln berücksichtigen (vgl. § 1626 Abs. 2 Satz 1 BGB), können sie das Ziel, ihr Kind zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu erziehen (vgl. § 1 Abs. 1 SGB VIII), erreichen. Die Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG entspringende Pflicht der Eltern, ihrem Kind Schutz und Hilfe angedeihen zu lassen, damit es sich zu einer solchen eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft entwickeln kann, wie sie dem Menschenbild des Grundgesetzes entspricht10, bezieht sich nicht nur auf das Kind, sondern obliegt den Eltern von Verfassungs wegen unmittelbar ihrem Kind gegenüber11.

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Ein vom Kind kundgetaner Wille kann Ausdruck von Bindungen zu einem Elternteil sein, die es geboten erscheinen lassen können, ihn in dieser Hinsicht zu berücksichtigen12. Hat ein Kind zu einem Elternteil eine stärkere innere Beziehung entwickelt, so muss das bei der Sorgerechtsentscheidung berücksichtigt werden.

Zwar muss in Verfahren mit Amtsermittlungsgrundsatz dem erkennenden Gericht überlassen bleiben, welchen Weg es im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften für geeignet hält, um zu den für seine Entscheidung notwendigen Erkenntnissen zu gelangen13. Das Verfahren muss aber grundsätzlich geeignet sein, eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu erlangen. Die Fachgerichte sind danach verfassungsrechtlich nicht stets gehalten, ein Sachverständigengutachten einzuholen14. Wenn sie aber von der Beiziehung eines Sachverständigen absehen, müssen sie anderweit über eine möglichst zuverlässige Entscheidungsgrundlage verfügen15.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 18. Mai 2009 -1 BvR 142/09

  1. vgl.BVerfGE 61, 358 <371 f.>; 75, 201 <218 f.>[]
  2. vgl.BVerfGE 84, 168 <180>; 107, 150 <173>[]
  3. vgl.BVerfGE 92, 158 <178 f.>; 107, 150 <169, 173>[]
  4. vgl. BVerfGK 2, 185 <188>[]
  5. vgl.BVerfGE 55, 171 <182>[][]
  6. vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 18. Dezember 1995 – 1 BvR 1208/92 -, juris[]
  7. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 12. Juni 2007 – 1 BvR 1426/07 -, juris[]
  8. vgl.BVerfGE 37, 217 <252>; 55, 171 <179>[]
  9. vgl. BVerfGK 9, 274 <281>; 10, 519 <524>[]
  10. BVerfGE 24, 119 <144>[]
  11. vgl. BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 1. April 2008 – 1 BvR 1620/04 -, juris[]
  12. vgl.BVerfGE 55, 171 <180, 182 f.> ; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 5. September 2007 – 1 BvR 1426/07 -, juris[]
  13. vgl. BVerfGE 79, 51 <62>[]
  14. vgl. BVerfGE 55, 171 <182>[]
  15. vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 18. Januar 2006 – 1 BvR 526/04 -, juris; BVerfGK 9, 274 <279>[]
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