Ein Recht des potentiellen biologischen Vaters zur Anfechtung der Vaterschaft besteht nach Ansicht des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen wegen der Sperrwirkung des § 1600 Abs. 2 BGB (Bestehen einer sozial-familiären Beziehung zwischen Kind und rechtlichem Vater) auch dann nicht, wenn zwischen Kind und potentiellem biologischen Vater bereits früher eine sozial-familiäre Beziehung begründet worden war. Das gilt jedenfalls dann, wenn diese sozial-familiäre Beziehung ihrer Qualität nach der zwischen Kind und rechtlichem Vater nunmehr bestehenden sozial-familiären Beziehung nicht zumindest gleichwertig ist.

Nach § 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB ist zur Vaterschaftsanfechtung der Mann berechtigt, der – wie hier der Antragsteller – an Eides statt versichert, der Mutter des Kindes während der Empfängniszeit beigewohnt zu haben. Sein Anfechtungsrecht setzt jedoch – im Sinne eines Erfordernisses der Begründetheit des Anfechtungsantrags [1] – nach § 1600 Abs. 2 BGB voraus, dass zwischen dem Kind und seinem rechtlichen Vater keine sozial-familiäre Beziehung besteht. Eine solche besteht, wenn der rechtliche Vater zum maßgeblichen Zeitpunkt – dies ist regelmäßig der Zeitpunkt der Entscheidung [2] – für das Kind tatsächliche Verantwortung trägt, § 1600 Abs. 4 S. 1 BGB. Für die Übernahme tatsächlicher Verantwortung spricht nach § 1600 Abs. 4 S. 2 BGB eine – widerlegliche – Vermutung, wenn der rechtliche Vater mit der Mutter des Kindes verheiratet ist oder mit dem Kind längere Zeit in häuslicher Gemeinschaft zusammengelebt hat.
Das Anfechtungsrecht des Antragstellers scheitert damit nach Ansicht des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen im vorliegenden Fall am Bestehen einer sozial-familiären Beziehung zwischen den Kindern einerseits und dem rechtlichen Vater andererseits. Der Antragsteller hat nicht nur das Nichtbestehen einer sozial-familiären Beziehung zwischen diesen Kindern und ihrem rechtlichen Vater nicht substantiiert dargelegt. Vielmehr ist positiv von deren Bestehen auszugehen. Hierfür spricht nicht nur die gesetzliche Vermutung des § 1600 Abs. 4 S. 2 BGB, die sowohl im Hinblick auf die bestehende Ehe zwischen dem rechtlichen Vater und der Kindesmutter als auch angesichts seines spätestens seit Oktober 2010 andauernden Zusammenlebens mit den Kindern in einem Haushalt greift.
Dem Ausschluss des Anfechtungsrechts steht nicht entgegen, dass nach dem Vortrag sowohl des Antragstellers als auch der Kindesmutter sowie nach den Stellungnahmen des Jugendamtes die Kinder den Antragsteller zumindest in ihren ersten sechs bis sieben Lebensjahren als Teil der Familie erlebt haben dürften, so dass nicht auszuschließen ist, dass zwischen ihnen und dem Antragsteller zu einem früheren Zeitpunkt eine sozial-familiäre Beziehung begründet worden ist. Dass nach § 1600 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 BGB die Anfechtung der Vaterschaft durch einen mutmaßlichen leiblichen Vater eines Kindes dann ausgeschlossen ist, wenn zwischen dem rechtlichen Vater und dem Kind eine sozial-familiäre Beziehung besteht oder bestanden hat, begegnet aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts [3] keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Nach der Rechtsprechung des BGH [4] schließt zudem bereits das Bestehen einer sozialen Familie aus rechtlichem Vater und Kind ein Anfechtungsrecht des biologischen Vaters ausnahmslos aus, so dass eine Einzelabwägung zwischen dem dieser Familie gebührenden Schutz und dem damit in Konflikt stehenden Elternrecht des leiblichen Vaters gerade nicht mehr stattzufinden hat.
Zwar teilt das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen Bedenken, die in der Literatur gegen eine ausnahmslose Sperrwirkung der sozial-familiären Beziehung für solche Fälle erhoben werden, in denen eine sozial-familiäre Beziehung auch zum biologischen Vater bestanden hat. So hält etwa Rauscher [5] bereits die gesetzliche Fassung des zusätzlichen Begründetheitserfordernisses des Nichtbestehens einer sozial-familiären Beziehung für verfassungsrechtlich bedenklich, weil die biologische Familie ausnahmslos hinter das Bestehen einer sozialen Familie zurückgesetzt werde. Ein verfassungskonformes Ergebnis sei nur erzielbar, wenn nur eine soziale Familie der Anfechtung entgegenstehe, deren Qualität das Elternrecht des biologischen Vaters auf Grundlage von Art. 6 Abs. 2 GG zu verdrängen möge. In diese Abwägung müsse insbesondere die Frage einfließen, ob auch zum Anfechtenden eine sozial-familiäre Beziehung bestehe oder begründet worden sei [6], weil deren Erhalt die verfassungsrechtliche Stellung des biologischen Vaters gewichtig verstärke. Helms [7] hält es – jedenfalls für Fälle, in denen sich nach der Geburt des Kindes zunächst eine sozial-familiäre Beziehung zum leiblichen Vater entwickelt, diese jedoch durch die Mutter wieder unterbunden wird – für problematisch, dass das Gesetz die Möglichkeit eines Wechsels der sozial-familiären Beziehung vom biologischen zum rechtlichen Vater nicht in Rechnung stellt, und schlägt zur verfassungskonformen Lösung entsprechender Konstellationen eine teleologische Reduktion der Anfechtungssperre vor.
Jedoch schließt nach der oben bereits erwähnten eindeutigen Formulierung des Bundesgerichtshofs [4] das Bestehen einer sozialen Familie aus rechtlichem Vater und Kind ein Anfechtungsrecht des biologischen Vaters „ausnahmslos“ aus. In dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall ging es allerdings um ein Kind, das die mit dem rechtlichen Vater verheiratete Mutter erst nach Beendigung der nur wenige Monate langen außerehelichen Beziehung zum potentiellen biologischen Vater geboren hatte. Im vorliegenden Fall kann dahinstehen, ob in besonders gelagerten Fällen doch eine restriktive Gesetzesanwendung, etwa durch eine teleologische Reduktion der Anfechtungssperre des § 1600 Abs. 2 BGB, geboten sein kann.
Hier gibt es dafür aufgrund der besonderen Umstände des Falles jedenfalls keine Veranlassung. Aus den genannten Jugendamtsberichten ergibt sich unzweifelhaft, dass die Kinder ihrem rechtlichen Vater, den sie – im Gegensatz zum Antragsteller – auch als „Papa“ ansprechen, emotional deutlich zugewandter sind als dem Antragsteller, weshalb sie auch den Wunsch hatten, dass der rechtliche Vater auch ihr biologischer Vater sei. Demgegenüber sind konkrete Umstände, die für das Bestehen einer aktuellen sozial-familiären Beziehung der Zwillinge zum Antragsteller sprechen könnten, weder dargetan noch sonst ersichtlich. Die Art und Weise der in den Berichten des Jugendamtes geschilderten Kontaktaufnahmen des Antragstellers zu den Kindern verdeutlicht vielmehr, dass zwischen diesen und dem Antragsteller jedenfalls kein emotionales Verhältnis besteht, das der Beziehung der Kinder zu ihrem rechtlichen Vater auch nur annähernd gleichwertig ist.
Sofern eine Durchbrechung der Anfechtungssperre des § 1600 Abs. 2 BGB in besonders gelagerten Einzelfällen überhaupt in Betracht kommen kann, setzt dies nach Auffassung des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen aber voraus, dass die zum potentiellen biologischen Vater begründete sozial-familiäre Beziehung ihrer Qualität nach der zum rechtlichen Vater aktuell bestehenden sozial-familiären Beziehung mindestens gleichwertig ist, wovon hier aus den genannten Gründen nicht die Rede sein kann.
Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen, Beschluss vom 22. Januar 2013 – 5 UF 2/12
- vgl. BGH, FamRZ 2007, 538, 539[↩]
- vgl. BGH, a. a. O.[↩]
- BVerfG, FamRZ 2008, 2257[↩]
- BGH, a. a. O., 540[↩][↩]
- Rauscher, in: Staudinger, BGB, Neubearb.2011, § 1600 Rn. 40; kritisch gegenüber dem typisierenden Anfechtungsausschluss in der Auslegung des BGH, der eine Einzelfallabwägung zwischen dem Familienschutz und dem Elternrecht des leiblichen Vaters verhindert, auch Rixe, FPR 2008, 222, 225[↩]
- vgl. hierzu auch OLG Bremen, FamRZ 2010, 1822[↩]
- Helms, FamRZ 2010, 1, 5 f.[↩]