Eine Schwangere, für die ärztlicherseits zur Vermeidung einer Fehlgeburt ein Beschäftigungsverbot bis zum Beginn des Mutterschutzes angeordnet worden ist, kann nach einem Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen auch dann Anspruch auf Leistungen der Arbeitsagentur haben, wenn sie nicht arbeitsunfähig ist. Besteht bei einer arbeitslosen Schwangeren trotz Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs. 1 MuSchG keine Arbeitsunfähigkeit, ist die für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld erforderliche Verfügbarkeit zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Lücke nach Art. 6 Abs. 4 GG im Wege der verfassungskonformen Auslegung zu fingieren1.

In dem jetzt vom Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen entschiedenen Fall hatte sich die Klägerin hatte sich wegen der Erziehung und Betreuung ihrer damals dreijährigen Tochter mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 20 Stunden dem Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellt. Sie erhielt im Anschluss an die Gewährung von Arbeitslosengeld ab April 2004 Arbeitslosenhilfe. Im August 2004 bescheinigte ihre behandelnde Ärztin ihr, dass nach § 3 Abs. 1 MuSchuG ein Beschäftigungsverbot bestehe. Die beklagte Bundesagentur für Arbeit hatte daraufhin die Bewilligung von Arbeitslosenhilfe aufgehoben, da die Klägerin nicht mehr arbeitslos sei, weil sie wegen ihres Beschäftigungsverbots nicht mehr arbeiten dürfe und daher dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehe. Die zweite Tochter der Klägerin kam im Februar 2005 zur Welt.
Das Widerspruchsverfahren der Klägerin gegen die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosenhilfe blieben erfolglos, ebenso erstinstanzlich vor dem Sozialgericht Lüneburg die hiergegen erhobene Klage2. Demgegenüber hat nun auf die Berufung der Klägerin das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen das sozialgerichtliche Urteil aufgehoben und den Anspruch der Klägerin auf Weitergewährung von Leistungen der Arbeitsagentur bis zum Beginn der Mutterschutzfrist (§ 3 Abs. 2 MuSchuG) trotz bestehenden Beschäftigungsverbots bestätigt.
Nach Ansicht des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen steht das Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs. 1 MuSchuG (ohne gleichzeitige Arbeitsunfähigkeit) einer Verfügbarkeit der Klägerin nicht entgegen. Diese war vielmehr im Wege einer verfassungskonformen Auslegung von § 119 Abs. 3 Nr. 1 SGB III a.F. (jetzt § 119 Abs. 5 Nr. 1 SGB III) zu fingieren. Ein Leistungsausschluss wäre gemäß Art. 6 Abs. 4 GG wegen des sich daraus ergebenden Schutzgebotes für die werdende Mutter verfassungsrechtlich nicht haltbar. Der werdenden Mutter stand damit ein Anspruch auf Arbeitslosenhilfe bis zum Beginn der Mutterschutzfrist zu. Gleiches gälte nach dieser Rechtsprechung im Übrigen auch bei einem Anspruch auf Arbeitslosengeld.
Dieses Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs. 1 MuSchG (ohne gleichzeitige Arbeitsunfähigkeit) steht einer Verfügbarkeit des Arbeitslosen im Sinne des § 119 Abs. 3 SGB III aF nicht entgegen. Vielmehr ist die Verfügbarkeit im Wege einer verfassungskonformen Auslegung des § 119 Abs. 3 Nr. 1 SGB III aF (nunmehr: § 119 Abs. 5 Nr. 1 SGB III) für diesen Zeitraum zu fingieren. Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen folgt insoweit der Rechtsprechung der Landessozialgerichte Hessen und Baden-Württemberg, wonach die fehlende objektive Verfügbarkeit entsprechend dem Rechtsgedanken der §§ 120, 125,126 SGB III sowie des § 11 Abs. 1 MuSchG zu fingieren ist3. Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass eine Schwangere bei einem Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs. 1 MuSchG, das nicht gleichzeitig mit Arbeitsunfähigkeit einhergeht, weder einen Anspruch auf Arbeitslosengeld (bzw. bis 31. Dezember 2004 auch auf Arbeitslosenhilfe) noch auf Krankengeld hat. Dieser Leistungsausschluss ist gemäß Art. 6 Abs. 4 GG und des sich daraus ergebenden Schutzgebotes für die werdende Mutter verfassungsrechtlich nicht haltbar4. Vielmehr ist diese Gesetzeslücke dahingehend zu schließen, dass die Agentur für Arbeit – entsprechend dem nach § 11 Abs. 1 MuSchG vom Arbeitgeber zu tragenden „Mutterschutzlohn“ – Arbeitslosengeld bei einem reinen Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs. 1 MuSchG weiterzuzahlen hat5.
Es besteht eine (einfachgesetzliche) Regelungslücke, weil ein gegenüber einer schwangeren Arbeitslosen ausgesprochenes Beschäftigungsverbot nur bei gleichzeitiger Arbeitsunfähigkeit zur Weiterzahlung des Arbeitslosengeldes gemäß § 126 Abs. 1 SGB III für insgesamt sechs Wochen führt. Anschließend ist die Schwangere in diesen Fällen (d.h. bei gleichzeitiger Arbeitsunfähigkeit) durch einen Anspruch auf Krankengeld (§ 44 SGB V) hinreichend geschützt. Für eine schwangere Arbeitslose mit einem Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs. 1 MuSchG (ohne dass gleichzeitig Arbeitsunfähigkeit vorliegt) kommt nach dem Wortlaut von § 119 Abs. 3 Nr. 1 SGB III aF mangels Verfügbarkeit dagegen weder die Fortzahlung von Arbeitslosengeld noch – mangels gleichzeitig vorliegender Arbeitsunfähigkeit – die Zahlung von Krankengeld in Betracht. Demgegenüber hat eine schwangere Arbeitnehmerin bei einem Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs. 1 MuSchG (ohne gleichzeitige Arbeitsunfähigkeit) Anspruch auf Mutterschutzlohn gemäß § 11 MuSchG gegen ihren Arbeitgeber.
Diese sich aus der einfachgesetzlichen Regelung ergebende Ungleichbehandlung von arbeitslosen Schwangeren mit einem Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs. 1 MuSchG (ohne gleichzeitige Arbeitsunfähigkeit) gegenüber vergleichbaren abhängig beschäftigten Schwangeren verstößt gegen Art 6 Abs. 4 GG, wonach jede Mutter Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der staatlichen Gemeinschaft hat. Diesem Schutzauftrag ist auch bei der Auslegung der einfachgesetzlichen Bestimmungen Rechnung zu tragen. Zwar ergibt sich daraus nicht, dass der Gesetzgeber gehalten wäre, jede mit der Mutterschaft zusammenhängende wirtschaftliche Belastung auszugleichen. Untersagt er aber einer Frau für eine bestimmte Zeit die Fortsetzung oder Wiederaufnahme ihrer versicherungspflichtigen Beschäftigung, so ist er auf Grund seines Schutzauftrages aus Art 6 Abs. 4 GG gehalten, die sich aus diesem Verbot unmittelbar ergebenden sozialrechtlichen Nachteile soweit wie möglich auszugleichen, weil sonst der angestrebte Schutz von Mutter und Kind unvollständig bliebe6. Die ausschließlich von einem Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs. 1 MuSchG betroffene arbeitslose Mutter (ohne gleichzeitige Arbeitsunfähigkeit) verliert hingegen nach dem Wortlaut von § 119 Abs. 3 Nr. 1 SGB III aF (nunmehr: § 119 Abs. 5 Nr. 1 SGB III) allein wegen dieses Beschäftigungsverbots ihren Anspruch auf Zahlung von Arbeitslosengeld. Damit wird auf sie ein unzulässiger Druck ausgeübt, sich entgegen dem ärztlichen Beschäftigungsverbot weiterhin dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen und entweder Vorstellungsgespräche zu führen oder an Maßnahmen teilzunehmen, während die damit eigentlich angestrebte Aufnahme einer Arbeit wegen des dann den Arbeitgeber treffenden Beschäftigungsverbots ohnehin nicht in Betracht kommen dürfte7.
Die fehlende (einfachgesetzliche) Regelung zum hinreichenden Schutz von arbeitslosen Schwangeren, die bei einem Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs. 1 MuSchG nicht gleichzeitig arbeitsunfähig sind, stellt eine planwidrige und unbeabsichtigte Regelungslücke dar. Denn es ist nicht erkennbar, dass der Gesetzgeber den Schutz von schwangeren Arbeitslosen bewusst geringer gestalten wollte als den von schwangeren Arbeitnehmerinnen. Ebenso wenig kann angenommen werden, dass der Gesetzgeber den eher selteneren Fall des generellen Beschäftigungsverbots ohne gleichzeitige Arbeitsunfähigkeit bewusst ungeregelt hat lassen wollen. Schließlich hätte der Gesetzgeber damit bewusst seinen sich aus Art 6 Abs. 4 GG ergebenden Schutzauftrag verletzt8. Für eine unbeabsichtigte Lücke sprechen letztlich auch die Ausführungen des Bundessozialgerichts, wonach ein generelles Beschäftigungsverbot ohne eine die Verfügbarkeit ausschließende Arbeitsunfähigkeit nicht denkbar sein dürfte9. Denn dabei wurde offensichtlich nicht der Fall einer Risikoschwangerschaft ohne aktuelle Erkrankung bedacht10.
Die planwidrige und unbeabsichtigte Gesetzeslücke im sozialversicherungsrechtlichen Schutz von arbeitslosen Schwangeren mit einem Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs. 1 MuSchG (ohne gleichzeitige Arbeitsunfähigkeit) ist im Wege der verfassungskonformen Auslegung von § 119 Abs. 3 Nr. 1 SGB III aF (nunmehr: § 119 Abs. 5 Nr. 1 SGB III) unter Heranziehung der Rechtsgedanken der §§ 120 Abs. 1, 125, 126 SGB III zu schließen. Der Gesetzgeber hat in den genannten Vorschriften bei einer tatsächlich fehlenden Verfügbarkeit diese kraft gesetzlicher Regelung fingiert und damit verdeutlicht, dass eine solche Fiktion der Verfügbarkeit im Rahmen der Arbeitslosenversicherung zulässig ist. Die aufgezeigte Lücke im verfassungsrechtlich gebotenen Schutz von Mutter und Kind bei einem Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs. 1 MuSchG (ohne dass gleichzeitig Arbeitsunfähigkeit vorliegt) ist dadurch zu schließen, dass die Beklagte – vergleichbar dem nach § 11 Abs. 1 MuSchG zur Entgeltfortzahlung verpflichteten Arbeitgeber – bis zum Beginn des Mutterschutzes gem. § 3 Abs. 2 MuSchG zur Zahlung der bisherigen Entgeltersatzleistung (hier: Alhi) verpflichtet bleibt11. Aufgrund des beim Bundessozialgerichts anhängigen Revisionsverfahrens12 hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales zwischenzeitlich die Bundesagentur für Arbeit „gebeten“, in den Fällen eines absoluten Beschäftigungsverbots ohne gleichzeitige Arbeitsunfähigkeit der Schwangeren bis zur Entscheidung des Bundessozialgerichts vorläufig Arbeitslosengeld weiterzuzahlen13.
Für die Zeit ab Beginn des Mutterschutzes besteht keine ausfüllungsbedürftige Gesetzeslücke mehr, da die Ansprüche der Klägerin für diese Zeit in § 13 MuSchG geregelt sind.
Aufgrund des beim Bundessozialgericht zu einem gleichgelagerten Verfahren bereits anhängigen Revisionsverfahrens12 hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales zwischenzeitlich die Bundesagentur für Arbeit „gebeten“, in den Fällen eines absoluten Beschäftigungsverbots ohne gleichzeitige Arbeitsunfähigkeit der Schwangeren bis zur Entscheidung des Bundessozialgerichts vorläufig Arbeitslosengeld weiterzuzahlen.
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 25. Oktober 2010 – L 11 AL 149/07
- Anschluss an LSG Hessen, Urteil vom 20.08.2007 – L 9 AL 35/04; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.06.2010 – L 13 AL 4524/09 (Revision anhängig: BSG – B 7 AL 26/10 R) [↩]
- SG Lüneburg – S 7 AL 472/04[↩]
- LSG Hessen, Urteil vom 20.08.2007 – L 9 AL 35/04; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.06.2010 – L 13 AL 4524/09, Revision anhängig beim BSG – B 7 AL 26/10 R[↩]
- vgl. Hessisches LSG, a.a.O.; LSG Baden-Württemberg, a.a.O.[↩]
- im Ergebnis ebenso: Hessisches LSG, a.a.O.; LSG Baden-Württemberg, a.a.O.; Loose, ZFSH SGB 2010, 516, 522; Mutschler in: Kreikebohm/Spellbrink/Watermann, Kommentar zum Sozialrecht, 1. Auflage 2009, § 119 Rdnr. 43[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 28.03.2006 – 1 BvL 10/01, SozR 4-4300 § 123 Nr. 3; sowie BVerfGE 115, 259[↩]
- vgl. hierzu Loose, a.a.O., S. 522[↩]
- vgl. hierzu: BVerfG, Beschluss vom 28.03.2006, a.a.O.[↩]
- BSG, Urteil vom 09.09.1999 – B 11 AL 77/98 R[↩]
- vgl. LSG Hessen, a.a.O; Loose, a.a.O., S. 521[↩]
- ebenso: LSG Hessen, a.a.O.; LSG Baden-Württemberg, a.a.O.; Loose, a.a.O.; Mutschler, a.a.O; anderer Auffassung hingegen: Gutzler in: Mutschler/Bartz/Schmidt-De Caluwe, NomosKommentar zum SGB III, 3. Auflage 2008, § 119 Rdnr. 127, wobei allerdings eine Auseinandersetzung mit dem Beschluss des BVerfG vom 28. März 2006, a.a.O., nicht stattfindet[↩]
- BSG – B 7 AL 26/10 R[↩][↩]
- BT-Drs. 17/3008, S. 37f.[↩]