Arbeitslosengeld für deutsch-niederländische Grenzgänger

Ein arbeitslos gewordener Grenzgänger kann Arbeitslosenunterstützung nur in seinem Wohnmitgliedstaat beziehen. Dies gilt auch dann, wenn der Arbeitnehmer zum Staat seiner letzten Beschäftigung besonders enge Bindungen beibehalten hat.

Arbeitslosengeld für deutsch-niederländische Grenzgänger

Die Verordnung Nr. 883/20041 koordiniert die nationalen Systeme der sozialen Sicherheit in der Europäischen Union u. a. in Bezug auf Grenzgänger. Sie ersetzt die frühere Verordnung 1408/712 und sieht vor, dass sich vollarbeitslose Grenzgänger der Arbeitsverwaltung ihres Wohnstaats zur Verfügung stellen. Zusätzlich können sie sich der Arbeitsverwaltung des Landes zur Verfügung stellen, in dem sie zuletzt beschäftigt waren.

Zudem ist in der neuen Verordnung für die allgemeinen Regeln zur Bestimmung der anwendbaren Rechtsvorschriften eine Übergangsklausel vorgesehen, die aber nicht ausdrücklich auch für die besonderen Vorschriften über Leistungen bei Arbeitslosigkeit gilt.
Herr Jeltes, Frau Peeters und Herr Arnold sind Grenzgänger niederländischer Staatsangehörigkeit, die in den Niederlanden beschäftigt waren, aber in Belgien oder in Deutschland wohnten. Sie alle haben zu den Niederlanden besonders enge Bindungen beibehalten. Herr Jeltes wurde 2010, also nach Inkrafttreten der Verordnung von 2004, arbeitslos. Sein bei den niederländischen Behörden gestellter Antrag auf eine Leistung bei Arbeitslosigkeit wurde unter Berufung auf die Verordnung 883/2004 abgelehnt.

Frau Peeters und Herr Arnold verloren ihren Arbeitsplatz vor Inkrafttreten der neuen Verordnung und erhielten von den niederländischen Behörden Leistungen bei Arbeitslosigkeit. Sie nahmen beide nach Inkrafttreten dieser Verordnung eine neue Tätigkeit auf und wurden dann wieder arbeitslos. Die niederländischen Behörden weigerten sich unter Berufung auf das Inkrafttreten der Verordnung, die Zahlung der Leistungen an sie wiederaufleben zu lassen.

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Diese drei Personen erhoben gegen die fraglichen Bescheide Klage bei der Rechtbank Amsterdam (erstinstanzliches Gericht von Amsterdam, Niederlande), die den Gerichtshof der Europäischen Union in einem Vorabentscheidungsersuchen um Auslegung der neuen Verordnung ersucht. Zu der Regelung in der früheren Verordnung 1408/71 hatte der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften nämlich die Auffassung vertreten, dass ein atypischer Grenzgänger, der im Mitgliedstaat seiner letzten Beschäftigung besonders enge persönliche und berufliche Bindungen beibehalten hat, in diesem Staat die besten Aussichten auf berufliche Wiedereingliederung hat3. Daher konnte er den Mitgliedstaat wählen, in dem er sich der Arbeitsverwaltung zur Verfügung stellen und von dem er eine Leistung bei Arbeitslosigkeit beziehen wollte.

In seinem Urteil stellt der Gerichtshof der Europäischen Union nun fest, dass die Bestimmungen der neuen Verordnung nicht im Licht seiner früheren Rechtsprechung auszulegen sind. Er führt aus, dass die fehlende ausdrückliche Erwähnung der Möglichkeit, im Mitgliedstaat der letzten Beschäftigung Arbeitslosenunterstützung zu erhalten, den Willen des Verordnungsgebers widerspiegelt, die
Berücksichtigung der früheren Rechtsprechung des Gerichtshofs zu begrenzen. Folglich gilt die Regel, wonach Arbeitslosenunterstützung durch den Wohnmitgliedstaat gewährt wird, auch für vollarbeitslose Grenzgänger, die zum Staat ihrer letzten Beschäftigung besonders enge Bindungen beibehalten haben. Die Möglichkeit, sich zusätzlich der Arbeitsverwaltung dieses Staates zur Verfügung zu stellen, bezieht sich nicht auf die Gewährung von Arbeitslosenunterstützung durch diesen Staat, sondern nur auf die Inanspruchnahme seiner Wiedereingliederungsleistungen.

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Zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer stellt der EuGH fest, dass der AEU-Vertrag eine Koordinierung und keine Harmonisierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit vorsieht.

Die Bestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer sind dahin auszulegen, dass sie den EU-Mitgliedstaat der letzten Beschäftigung nicht daran hindern, im Einklang mit seinem nationalen Recht einem vollarbeitslosen Grenzgänger, der in diesem Mitgliedstaat die besten Aussichten auf berufliche Wiedereingliederung hat, eine Arbeitslosenunterstützung zu versagen, weil er nicht im Inland wohnt, sofern nach den Bestimmungen der Verordnung die Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats zur Anwendung kommen.

Das Fehlen einer Übergangsbestimmung für Arbeitnehmer wie Frau Peeters und Herrn Arnold führt der Gerichtshof der Europäischen Union auf ein Versäumnis während des Rechtsetzungsverfahrens zurück. Die Übergangsbestimmung der neuen Verordnung ist daher auch auf vollarbeitslose Grenzgänger anzuwenden, die wegen der im Mitgliedstaat ihrer letzten Beschäftigung beibehaltenen Bindungen von diesem auf der Grundlage seiner Rechtsvorschriften Arbeitslosenunterstützung erhalten, solange sich der bis dahin vorherrschende Sachverhalt nicht ändert. Der Begriff des unverändert gebliebenen Sachverhalts im Sinne der Übergangsbestimmung der Verordnung ist anhand der nationalen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit zu beurteilen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob Arbeitnehmer wie Frau Peeters und Herr Arnold die in diesen Rechtsvorschriften vorgesehenen Voraussetzungen für ein Wiederaufleben der Zahlung von Arbeitslosenunterstützung erfüllen.

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Der Gerichtshof der Europäischen Union kommt daher zu dem Ergebnis, dass ein vollarbeitsloser Grenzgänger eine Arbeitslosenunterstützung nur in seinem Wohnstaat beantragen kann, es sei denn, die Übergangsregelung der Verordnung von 2004 ist auf ihn anwendbar.

Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 11. April 2013 – C-443/11 [Jeltes u. a. / Raad van bestuur van het Uitvoeringsinstituut werknemersverzekeringen]

  1. Verordnung Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166, S. 1) in der durch die Verordnung Nr. 988/2009 vom 16. September 2009 geänderten Fassung (in Kraft getreten am 31. Oktober 2009).[]
  2. Verordnung Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2).[]
  3. EuGH, Urteil vom 12.06.1986 – C-1/85 [Miethe][]