Tödlich verlaufende Erkrankungen sind egal – die Arzneimittelsicherheit geht vor!

Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung haben keinen Anspruch auf Arzneimittel, die auf Grundlage einer negativen Bewertung durch die für Arzneimittelsicherheit zuständige Behörde für die betreffende Indikation keine Zulassung erhalten haben. Dies gilt auch für den Einsatz bei regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheiten. Unerheblich ist hierbei, ob die negative Bewertung auf einer aussagekräftigen Studienlage beruht, oder der medizinische Nutzen des Arzneimittels wegen methodischer Probleme bei Auswahl und Analyse der vom Hersteller vorgelegten Daten nicht bestätigt werden konnte. 

Tödlich verlaufende Erkrankungen sind egal – die Arzneimittelsicherheit geht vor!

In dem hier vom Bundessozialgericht entschiedenen Fall leidet der 2004 geborene Kläger an einer genetisch bedingten fortschreitenden und typischerweise im frühen Erwachsenenalter tödlichen Erkrankung (Duchenne-Muskeldystrophie infolge Nonsense-Mutation des Dystrophin-Gens). Er ist seit 2015 gehunfähig. Die AOK Rheinland-Pfalz/Saarland hatte die Kostenübernahme für Translarna unter Hinweis darauf abgelehnt, dass dieses Arzneimittel nur für gehfähige Patienten zugelassen sei. Anträge des Herstellers auf Erweiterung der Zulassung auf nicht mehr gehfähige Patienten hätten wegen negativer Bewertungen durch die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) im Juni und nochmals im Oktober 2019 keinen Erfolg gehabt. Anders als in der Vorinstanz noch das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz1 hat das Bundessozialgericht diese Entscheidung der Krankenkasse jetzt bestätigt:

Der nicht mehr gehfähige Kläger hat – auch nach § 2 Absatz 1a SGB V – keinen Anspruch auf Versorgung mit dem Arzneimittel Translarna. Zwar leidet er an einer regelmäßig tödlichen Erkrankung, der Duchenne-Muskeldystrophie infolge Nonsense-Mutation des Dystrophin-Gens. Es fehlt jedoch an der hinreichenden Aussicht auf Heilung oder eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf. An dieser Voraussetzung fehlt es, wenn das Arzneimittel für die betreffende Indikation nicht zugelassen ist und Anträge des Herstellers auf Erweiterung der Zulassung auf diese Indikation aufgrund inhaltlicher Bewertung durch die zuständige Arzneimittelbehörde keinen Erfolg hatten. So liegt der Fall hier. Translarna erhielt auf Grundlage der negativen Bewertung des Nutzens des Arzneimittels durch den Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) für nicht mehr gehfähige Patienten keine Zulassung. Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest, nach der eine solche negativen Bewertung des Arzneimittels im Zulassungsverfahren eine Sperrwirkung für Ansprüche nach § 2 Absatz 1a SGB V entfaltet. Er verkennt dabei nicht, dass die Prüfmaßstäbe für einen Anspruch nach § 2 Absatz 1a SGB V und im Arzneimittelzulassungsverfahren nicht vollständig deckungsgleich sind. Es gibt indes gewichtige Gründe, an der Sperrwirkung festzuhalten. Hierfür spricht zunächst, dass durch § 2 Absatz 1a SGB V nach der Begründung des Gesetzentwurfs ausdrücklich keine über die in der Tomudex-Entscheidung des erkennenden Senats entwickelten Grundsätze hinausgehenden Leistungen eingeführt werden sollten (vergleiche Bundessozialgericht vom 4.4.2006 – B 1 KR 7/05 R – BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nummer 4). Zu diesen Grundsätzen gehört die Sperrwirkung ablehnender arzneimittelrechtlicher Entscheidungen. Das Arzneimittelrecht trägt dem sich aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG ergebenden staatlichen Schutzauftrag Rechnung, indem es Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Arzneimittel gewährleistet. Das dauerhafte Unterlaufen der arzneimittelrechtlichen Vorschriften kann daher – gerade auch bei schwerwiegenden Erkrankungen – zu Gefahren für Leben und körperliche Unversehrtheit führen. Dagegen bieten die Institutionalisierung des Zulassungsverfahrens und die hohe fachliche Expertise der Arzneimittelbehörden eine besonders hohe Gewähr für Wissenschaftlichkeit und Unabhängigkeit der Prüfung. Ebenso wie die gesetzliche Krankenversicherung bei neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sieht auch das Arzneimittelrecht ein eigenes strukturiertes Qualitätssicherungssystem vor. Außerdem erlaubt es erleichterte Zulassungen und in Härtefällen auch Ausnahmeentscheidungen. Die Sperrwirkung kann überwunden werden, wenn im Nachgang zu der negativen arzneimittelrechtlichen Bewertung neue wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden, die zumindest die Voraussetzungen einer vereinfachten, gegebenenfalls bedingten Zulassung erfüllen.

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Bundessozialgericht, Urteil vom 29. Juni 2022 – 3 – B 1 KR 35/21 R

  1. LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 04.02.2021 – L 5 KR 211/20[]

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