Die Grundsätze der Arzneimittelzulassung gelten auch bei Risiken in der Schwangerschaft.

Das Bundessozialgericht hatte zu entscheiden, wann schwangere Frauen ausnahmsweise Anspruch auf ein für die konkrete Behandlung nicht zugelassenes Arzneimittel haben, um ihr ungeborenes Kind vor einer gefährlichen Infektion zu schützen. Dafür ist erforderlich, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit für einen tödlichen oder besonders schweren Verlauf spricht.
In dem vom Bundessozialgericht entschiedenen Fall ist die Schwangere bei der beklagten Krankenkasse gesetzlich krankenversichert. Bei ihr wurde im Jahr 2015 eine Infektion mit dem humanen Zytomegalievirus festgestellt. Zu diesem Zeitpunkt befand sie sich in der neunten Schwangerschaftswoche. Sie beantragte bei der Krankenkasse die Versorgung mit dem verschreibungspflichtigen Fertigarzneimittel Cytotect CP Biotest. Dieses ist in Deutschland nur zur Prophylaxe einer Virusinfektion im Rahmen einer immunsuppressiven Therapie zugelassen. Eine europäische Arzneimittelzulassung liegt nicht vor. Die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit bei Schwangerschaft sind nicht abschließend erforscht. Die Krankenkasse lehnte den Antrag ab. Die Schwangere ließ sich auf eigene Kosten dreimal ambulant mit dem Arzneimittel behandeln und wendete hierfür insgesamt 8753,55 Euro auf.
Das erstinstanzlich hiermit berfasste Sozialgericht München hat die Krankenkasse zur Erstattung dieser Kosten nebst Zinsen verurteilt1. Auf die Berufung der Krankenkasse hat das Bayerische Landessozialgericht das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen2. Die Schwangere habe keinen Anspruch auf Erstattung der Therapiekosten. Das Fertigarzneimittel sei nicht für den gewählten Anwendungsbereich zugelassen, auch die Voraussetzungen für eine zulassungsüberschreitende Versorgung im Rahmen eines Off-Label-Use lägen nicht vor. Ein Anspruch der Schwangeren habe auch nicht nach § 2 Absatz 1a SGB V bestanden. Zwar habe eine Krankheit vorgelegen. Diese sei jedoch nicht lebensbedrohlich oder regelmäßig tödlich oder wertungsmäßig vergleichbar. Die Wahrscheinlichkeit, dass das ungeborene Kind durch die Infektion keinen schweren Schaden erleiden würde, sei mit etwa 84 Prozent deutlich höher gewesen als die Wahrscheinlichkeit einer schweren oder gar tödlichen Schädigung. Auch habe es an einer auf Indizien gestützten, nicht ganz fernliegenden Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf gefehlt.
Das Bundessozialgerichts hat diese Entscheidungen nun bestätigt und die Revision der Schwangeren als unbegründet zurückgewiesen. Der Staat muss das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Versicherten schützen. Diese Schutzpflicht erstreckt sich bei schwangeren Frauen auch auf das ungeborene Kind. Die Ausgestaltung des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung obliegt aber dem Gesetzgeber. Nur in extremen, nunmehr einfachgesetzlich geregelten Ausnahmefällen haben Versicherte außerhalb des jeweils maßgeblichen Qualitätsgebots weitergehende Ansprüche, wenn sie sich in einer notstandsähnlichen Situation befinden. Dabei muss eine hohe Wahrscheinlichkeit für einen tödlichen oder besonders schweren Krankheitsverlauf sprechen. Das war nach der hier allein möglichen statistischen Betrachtung nicht der Fall.
Die Schwangere litt zwar an einer behandlungsbedürftigen Krankheit. Dafür genügt auch das hier vorliegende Risiko einer Schädigung des bislang nicht infizierten ungeborenen Kindes durch eine mögliche Übertragung der Infektion im Mutterleib. Der Anspruch auf Krankenbehandlung scheitert aber daran, dass das Arzneimittel Cytotect CP Biotest für die Behandlung einer Infektion mit dem Zytomegalievirus während der Schwangerschaft nicht zugelassen ist und die durch Gesetz und Rechtsprechung anerkannten Ausnahmen nicht vorlagen. Der für einen Off-Label-Use erforderliche Nachweis der Wirksamkeit ist nicht geführt.
Die Schwangere hatte auch keinen Anspruch auf das Arzneimittel nach § 2 Absatz 1a SGB V. Sie und ihr ungeborenes Kind litten nicht an einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen oder wertungsmäßig hiermit vergleichbaren Erkrankung. Hierzu muss nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen, dass sich mit großer Wahrscheinlichkeit der voraussichtlich tödliche oder hiermit gleichgestellte Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums verwirklichen wird. Dies gilt auch für die Behandlung von Schwangeren zum Schutz des ungeborenen Lebens. Im Falle einer für das ungeborene Kind gefährlichen Infektion der Schwangeren liegt aber jedenfalls dann keine notstandsähnliche Lage in dem vorbeschriebenen Sinne vor, wenn die Wahrscheinlichkeit der Geburt eines gesunden Kindes deutlich überwiegt. Dies ergibt sich aus Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte des § 2 Absatz 1a SGB V. Die Schutzwirkungen der Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip führen nicht zu einer erweiternden Auslegung.
Nach den Feststellungen des Bayerischen Landessozialgerichts bestand hier keine hohe Wahrscheinlichkeit, dass das ungeborene Kind der Schwangeren durch die Infektion sterben oder eine wertungsmäßig vergleichbare dauerhafte Schädigung erleiden würde.
Bundessozialgericht, Urteil vom 24. Januar 2023 – B 1 KR 7/22 R
- SG München, Urteil vom 21.03.2018 – S 7 KR 1723/15[↩]
- BayLSG, Urteil vom 25.11.2021 – L 4 KR 318/18[↩]
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- Bundessozialgericht: Dirk Felmeden