Aufstockende Grundsicherung – und das Trinkgeld

Trinkgeld kann sich bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes II auf die Leistungshöhe grundsätzlich nur dann mindernd auswirken, wenn es 10% des maßgebenden Regelbedarfs übersteigt.

Aufstockende Grundsicherung – und das Trinkgeld

Dies entschied jetzt das Bundessozialgericht in dem Fall einer in der Gastronomie tätigen Servicekraft, die neben ihrem Erwerbseinkommen aus dieser Tätigkeit Trinkgeld in Höhe von 25 € monatlich erhielt. Das Jobcenter Deggendorf bewilligte ihr in den Jahren 2014 und 2015 Arbeitslosengeld II jeweils unter Berücksichtigung der Trinkgelder als sonstigem Einkommen. Zeitweilig bezog die Servicekraft zudem Arbeitslosengeld nach dem SGB III

Auf einen Überprüfungsantrag der Servicekraft aus September 2015 erhöhte der Jobcenter unter Änderung der vorhergehenden Bescheide die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Der Jobcenter berücksichtigte bei seiner Berechnung Erwerbseinkommen aus der Tätigkeit als Servicekraft sowie die Trinkgelder, gemindert um den Grundfreibetrag bei Erwerbstätigkeit. In die Berechnung bezog er zudem das Arbeitslosengeld nach dem SGB III ein, reduziert um die Kosten für eine Haftpflichtversicherung, einen Riester-Sparvertrag und eine anteilige Versicherungspauschale.

Vor dem Sozialgericht Landshut ist die Servicekraft mit dem Begehren nach höherem Arbeitslosengeld II unter anderem wegen der Nichtberücksichtigung der Trinkgelder als Einkommen erfolglos geblieben1. Das Bayerische Landessozialgericht hat den Jobcenter zwar verurteilt, der Servicekraft höheres Arbeitslosengeld II zu gewähren, im Hinblick auf die Trinkgelder hat es jedoch ausgeführt, bei ihnen handele es sich um Erwerbseinkommen, das nicht nach § 11a Abs 5 SGB II von der Berücksichtigung ausgenommen sei2. Danach sind Zuwendungen, die ein anderer erbringt, ohne hierzu eine rechtliche oder sittliche Pflicht zu haben, nicht als Einkommen zu berücksichtigen, soweit ihre Berücksichtigung für die Leistungsberechtigten grob unbillig wäre (Nr 1) oder (Nr 2) soweit sie die Lage der Leistungsberechtigten nicht so günstig beeinflussen, dass daneben Leistungen nach diesem Buch nicht gerechtfertigt wären. Das Bayerische Landessozialgericht führt insoweit insbesondere an, es fehle vorliegend an der seiner Ansicht von § 11a Abs 5 Nr 2 SGB II geforderten Nähebeziehung zwischen Gebendem und Nehmender.

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Mit ihrer vom Bundessozialgericht zugelassenen Revision macht die Servicekraft eine Verletzung des § 11a Abs 5 SGB II geltend und erhielt nun vom Bundesozialgericht Recht; anders als vom beklagten Jobcenter und dem Bayerischen Landessozialgericht  angenommen, handelt es sich bei diesem Trinkgeld nicht um Erwerbseinkommen. Das Trinkgeld ist vielmehr eine Zuwendung, die Dritte erbringen, ohne dass hierfür eine rechtliche oder sittliche Verpflichtung besteht. Hieraus folgt, dass es erst dann als Einkommen bei der Berechnung der Leistung zu berücksichtigen ist, wenn es die Lage der Leistungsberechtigten so günstig beeinflusst, dass daneben Leistungen nach dem SGB II nicht gerechtfertigt wäre. Dies war vorliegend nicht der Fall.

Die Servicekraft hat dem Grunde nach Anspruch auf höheres Arbeitslosengeld II für Dezember 2014 bis April 2015. Das zugeflossene Trinkgeld ist bei der Berechnung des Arbeitslosengeld II nicht als Einkommen zu berücksichtigen und vom Arbeitslosengeld nach dem SGB III sind weitere Absetzungen als vom LSG befunden vorzunehmen.

Nach § 11 Abs 1 Satz 1 SGB II sind als Einkommen zu berücksichtigen Einnahmen in Geld (oder Geldeswert) abzüglich der nach § 11b SGB II abzusetzenden Beträge und mit Ausnahme der in § 11a SGB II genannten Einnahmen. Trinkgeld ist Einkommen in diesem Sinne. Es ist allerdings gleichwohl hier nicht als Einnahme bei der Berechnung des Arbeitslosengeld II zugrunde zu legen. Denn es handelt sich bei Trinkgeld um eine nicht zu berücksichtigende Zuwendung iS des § 11a Abs 5 SGB II. 

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Nach § 11a Abs 5 SGB II sind Zuwendungen, die ein anderer erbringt, ohne hierzu eine rechtliche oder sittliche Pflicht zu haben, nicht als Einkommen zu berücksichtigen, soweit ihre Berücksichtigung für die Leistungsberechtigten grob unbillig wäre (Nr 1) oder (Nr 2) soweit sie die Lage der Leistungsberechtigten nicht so günstig beeinflussen, dass daneben Leistungen nach diesem Buch nicht gerechtfertigt wären. Trinkgeld ist hier eine Zuwendung im vorbenannten Sinne; es wird freiwillig und ohne Rechtspflicht gegeben. Der Trinkgeldzahlung lag auch keine vertragliche oder konkludente Vereinbarung zu Grunde, wie zB im Zusammenhang mit einem Austauschvertrag im Sinne einer synallagmatischen Verknüpfung gegenseitiger Verpflichtungen – etwa ein Arbeitsvertrag.

Zwar wäre die Berücksichtigung des Trinkgeldes bei der Berechnung des Arbeitslosengeld II nach Auffassung des Senats nicht grob unbillig iS des § 11a Abs 5 Nr 1 SGB II. Letzteres ist nur dann der Fall, wenn die Berücksichtigung des zugewendeten Betrages – ohne Rücksicht auf dessen Höhe – nicht akzeptabel wäre und die Zuwendung erkennbar nicht auch zur Deckung des physischen Existenzminimums verwendet werden soll. Vorausgesetzt wird dabei, dass ein anderer objektivierbarer Zuwendungszweck gegeben ist, der konterkariert würde, wenn die Zuwendung zugleich zur Sicherung des Lebensunterhalts eingesetzt werden müsste. Dies ist beim Trinkgeld nicht der Fall.

Allerdings beeinflusst die Trinkgeldgabe im vorliegenden Fall die Lage der Servicekraft nicht so günstig iS des § 11 Abs 5 Nr 2 SGB II, dass daneben die Erbringung von Arbeitslosengeld II nicht mehr gerechtfertigt wäre. Anders als bei der Regelung in § 11a Abs 5 Nr 1 SGB II stellt § 11a Abs 5 Nr 2 SGB II maßgeblich auf die Höhe der Zuwendung ab. Es soll eine Überkompensation der bestehenden Notlage durch das Zusammentreffen einer Zuwendung mit Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts der Gestalt vermieden werden, dass zumindest ein Teil des Arbeitslosengeld II nicht mehr zur Bedarfsdeckung benötigt wird. Ob dies der Fall ist, fordert eine wertende Entscheidung. Ausgangspunkt ist die Höhe der Zuwendung im Verhältnis zum Regelbedarf. Insoweit gilt es zu prüfen, ob die Nichtberücksichtigung der Zuwendung angesichts ihrer Höhe dem Nachranggrundsatz der SGB II-Leistungen (§ 2 Abs 2 SGB II) zuwiderlaufen würde. Dies ist regelmäßig dann nicht der Fall, wenn die Zuwendung 10% des maßgebenden Regelbedarfs nicht übersteigt. Diese Grenze wahrt den Abstand zu den Freibetragsregelungen des SGB II, die insbesondere mit der Erzielung von Erwerbseinkommen verbunden sind, und hält sich auch in dem Rahmen, in dem umgekehrt belastende Minderungen des Regelbedarfs von Leistungsberechtigten hinzunehmen sein können. Etwas anderes gilt nur dann, wenn besondere Umstände des Einzelfalls eine abweichende Beurteilung rechtfertigen, was hier keiner weiteren Prüfung bedurfte, da das monatliche Trinkgeld (nur) 25 Euro betrug.

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Für die abschließende Berechnung der Ansprüche der Servicekraft im streitgegenständlichen Zeitraum ist abweichend von der Auffassung des LSG, aber in Übereinstimmung mit dem Jobcenter, die Summe aller Absetzpositionen nach § 11b Abs 1 SGB II und der Arbeitslosengeld II-VO, die das zu berücksichtigende Einkommen aus Erwerbstätigkeit bzw den Erwerbstätigengrundfreibetrag nach § 11b Abs 2 Satz 1 SGB II im Zuflussmonat übersteigt, bedarfsmindernd beim Einkommen aus Arbeitslosengeld nach dem SGB III in Abzug zu bringen.

Bundessozialgericht, Urteil vom 13. Juli 2022 – B 7/14 AS 75/20 R

  1. SG Landshut, Urteil vom 27.09.2017 – S 11 AS 261/16[]
  2. BayLSG, Urteil vom 12.12.2019 – L 7 AS 755/17[]

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