Die Ermessensbetätigung der Ämter für Ausbildungsförderung nach § 45 Abs. 1 und 4 SGB X ist auch in den Fällen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X nicht in dem Sinne vorgezeichnet, dass sie im Regelfall nur durch eine Entscheidung für die Rücknahme des Bewilligungsbescheides ausgeübt werden kann (sog. intendiertes Ermessen).

Die auf § 45 Abs. 1 und 4 SGB X gestützte Rücknahme eines von Anfang an rechtswidrigen Bewilligungsbescheides mit Wirkung für die Vergangenheit steht im Ermessen der Ämter für Ausbildungsförderung 1. Die Ermessensentscheidung erfordert eine sachgerechte Abwägung des öffentlichen Interesses an der Herstellung gesetzmäßiger Zustände mit dem privaten Interesse des Auszubildenden an der Aufrechterhaltung eines rechtswidrigen Bewilligungsbescheides 2. Die Prinzipien der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Bestandskraft von Verwaltungsakten stehen dabei gleichberechtigt nebeneinander. Dies gilt auch, wenn eine Berufung des Auszubildenden auf Vertrauensschutz nach § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X ausscheidet. Die für diese Fälle vom Oberverwaltungsgericht angenommene Begrenzung des Entscheidungsspielraums der Ämter für Ausbildungsförderung, lässt sich weder unmittelbar aus § 45 SGB X noch aus dem Bundesausbildungsförderungsrecht und seinen fachspezifischen Wertungen ableiten.
Die Auslegung der Ermessensvorschrift des § 45 Abs. 1 SGB X ergibt kein intendiertes Ermessen der Ämter für Ausbildungsförderung. Hiergegen sprechen neben dem Wortlaut vor allem systematische Erwägungen.
§ 45 Abs. 1 SGB X eröffnet Ermessen ("darf"), ohne danach zu unterscheiden, ob sich der Begünstigte gemäß § 45 Abs. 3 SGB X auf Vertrauensschutz berufen kann oder nicht.
Die binnensystematische Betrachtung des § 45 SGB X bestätigt diesen Befund. So verbietet § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X für den Fall, dass der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen schutzwürdig ist, die Rücknahme des rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes. Für den Fall, dass das Vertrauen des Begünstigten in die Bestandskraft des Verwaltungsakts gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X nicht schutzwürdig ist, fehlt eine vergleichbare Regelung. Dies wiegt um so schwerer, als § 48 Abs. 2 VwVfG, dem § 45 Abs. 2 SGB X weitgehend entspricht, in Satz 4 ausdrücklich bestimmt, dass der Verwaltungsakt in den Fällen des fehlenden Vertrauensschutzes nach § 48 Abs. 2 Satz 3 VwVfG in der Regel mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen wird, weshalb § 48 Abs. 2 Satz 4 VwVfG auch als ermessenslenkende Norm anzusehen ist 3.
In dieselbe Richtung weist der systematische Vergleich mit der Vorschrift des § 48 Abs. 1 SGB X, die in Satz 1 eine gebundene Aufhebungsentscheidung vorsieht und in Satz 2 ausdrücklich normiert, unter welchen Voraussetzungen ein Verwaltungsakt (mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse) aufgehoben werden "soll". Eine solche Differenzierung findet sich in § 45 SGB X nicht.
Ebenso wenig ist dem einschlägigen Fachrecht zu entnehmen 4, dass das Interesse an der Herstellung gesetzmäßiger Zustände in den Fällen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X in der Weise Vorrang genießt, dass die Rücknahme rechtswidriger Bewilligungsbescheide vorgegeben ist.
Eine entsprechende fachgesetzliche Intention lässt sich auch nicht aus dem in § 1 BAföG normierten Grundsatz des Nachrangs der staatlichen Ausbildungsförderung folgern. Durch diesen soll sichergestellt werden, dass die begrenzten staatlichen Förderungsmittel sinnvoll eingesetzt werden und für förderungsbedürftige Auszubildende zur Verfügung stehen. Auch wenn dies die Rücknahme rechtswidriger Bewilligungsbescheide und die Rückforderung zu Unrecht gezahlter Ausbildungsförderung nahe legt, ist § 1 BAföG keine ermessenslenkende Bedeutung für die hier in Rede stehende Konstellation beizumessen. Denn die Vorschrift unterscheidet nicht zwischen Auszubildenden, die die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X erfüllen, und solchen, die dies nicht tun. Sie beansprucht vielmehr für beide Fallgruppen Geltung. Infolgedessen fehlt es an einer hinreichend aussagekräftigen Grundlage für die Annahme, dass dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung in den Fällen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X im Regelfall Vorrang vor dem kollidierenden Prinzip der Bestandskraft von Verwaltungsakten zukommt. Der bloße Verstoß gegen den Nachranggrundsatz sagt für sich noch nichts darüber aus, mit welcher Gewichtigkeit diese Belange in die Abwägung einzustellen sind.
Gegen die Annahme eines durch das Bundesausbildungsförderungsgesetz intendierten Ermessens spricht in deutlicher Weise die Vorschrift des § 20 BAföG. Ihr ist eine differenzierte Regelung zu entnehmen, unter welchen Voraussetzungen die Aufhebung rechtswidriger Bewilligungsbescheide und die Erstattung zu Unrecht gewährter Leistungen der Ausbildungsförderung mit Wirkung für die Vergangenheit in Betracht kommt und welche Entscheidung die Ämter für Ausbildungsförderung dabei jeweils zu treffen haben.
Bis zum Inkrafttreten des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch vom 18.08.1980 5 mit Wirkung zum 1. Januar 1981 enthielt § 20 BAföG eine vollständige und abschließende Regelung über die Aufhebung rechtswidriger Bewilligungsbescheide und die Erstattung zu Unrecht gewährter Leistungen der Ausbildungsförderung. Mit dem Inkrafttreten des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch wurden die früheren Aufhebungs- und Erstattungstatbestände des § 20 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BAföG gestrichen, weil die von ihnen erfassten Sachverhalte durch die §§ 45, 48 und 50 SGB X abgedeckt sind. Durch diese Streichung und den ausdrücklichen Hinweis auf die §§ 44 bis 50 SGB X in § 20 Abs. 1 Satz 1 BAföG wurde klargestellt, dass die Aufhebung der Bewilligungsbescheide und die Erstattung der Förderungsleistungen in den von § 20 Abs. 1 Nr. 3 und 4 SGB X nicht erfassten Fällen fortan dem Regelungsregime des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch unterstehen und somit an die dort normierten Voraussetzungen und Grundsätze gebunden sind 6. Mit Rücksicht darauf besteht ein strikter Aufhebungszwang ("ist … aufzuheben") nur in den Fällen des § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und 4 BAföG. In den Fällen des § 48 SGB X ("soll") müssen die Ämter für Ausbildungsförderung die Bewilligungsbescheide nur im Regelfall zurücknehmen und sind nur bei einer atypischen Fallgestaltung zur Ausübung von Ermessen berechtigt und verpflichtet. In den Fällen des § 45 Abs. 1 und 4 SGB X ("darf") steht die Rücknahme stets im Ermessen der Ämter für Ausbildungsförderung 7. Diese klaren und eindeutigen gesetzlichen Vorgaben würden missachtet, wenn dem öffentlichen Interesse an der Herstellung rechtmäßiger Zustände von vornherein und unabhängig vom Einzelfall ein Vorrang eingeräumt und ein Regel-Ausnahme-Verhältnis begründet würde.
Nichts anderes folgt aus den Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts vom 17.09.1987 8. Die dort getroffene Aussage, "dass beim Vorliegen eines dieser Sachverhalte [gemeint sind die Sachverhalte des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 bis 3 SGB X] die Ermessensbetätigung der Behörde im Normalfall ebenfalls zur Rückgängigmachung des Verwaltungsaktes führen wird" 9, ist im Zusammenhang mit den beiden nachfolgenden Sätzen zu sehen, "f[F]ür die weiter in Betracht zu ziehenden Fälle des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und 4 SGB X folgt das gleiche kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung daraus, dass die Behörde die Aufhebung, wenn die Voraussetzungen dieser Regelungen erfüllt sind, vornehmen soll und damit, wie schon ausgeführt, zur Aufhebung im Regelfall verpflichtet ist. Hier wie dort sind demnach beim Gesetzesvollzug Ergebnisse zu erwarten, die bei typischer Fallgestaltung denen bei Anwendung des § 20 Abs. 1 Nrn. 3 und 4 BAföG entsprechen" 10.
Aufgrund dieses Kontextes ist die angeführte Erklärung als empirisch-prognostische Einschätzung des Senats zum Ergebnis des Gesetzesvollzugs zu verstehen. Eine weitergehende Aussage dahin, dass die Ermessensentscheidung nach § 45 Abs. 1 und 4 SGB X in den Fällen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X aus normativen Gründen, insbesondere des Bundesausbildungsförderungsgesetzes, in Richtung Rücknahme intendiert wäre, ist ihr nicht zu entnehmen.
Bei der Ausübung des Ermessens hat sich die Behörde gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch am Zweck der Ermächtigung zu orientieren. Sie hat das Interesse des Leistungsempfängers an der Beständigkeit der rechtswidrigen Bewilligungen mit dem öffentlichen Interesse an der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung abzuwiegen. Letzteres schließt die Einbeziehung fiskalischer Interessen nicht aus 11. Daher ist es nicht zu beanstanden, dass sich eine Behörde von dem Gedanken hat leiten lassen, das Interesse des Betroffenen, die zu Unrecht erhaltenen Mittel zu behalten, habe hinter das öffentliche Interesse an einer rechtmäßigen und effizienten Vergabe der nur beschränkt vorhandenen Förderungsmittel zurückzutreten. Sofern der Leistungsempfänger bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens keine für die Ermessensausübung relevanten Gesichtspunkte vorträgt, kann sich die Behörde auch auf diese knappe allgemeine Interessenabwägung beschränken.
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 14. März 2013 – 5 C 10.12
- vgl. BVerwG, Urteile vom 17.09.1987 – 5 C 26.84, BVerwGE 78, 101, 105 = Buchholz 436.36 § 20 BAföG Nr. 27 S. 13 und – 5 C 16.86, Buchholz 436.36 § 20 BAföG Nr. 29 S. 26; s.a. BSG, Urteil vom 17.10.1990 – 11 RAr 3/88 – SozR 3 – 1300 § 45 Nr. 5[↩]
- vgl. BVerwG, Urteile vom 27.06.1991 – 5 C 4.88, BVerwGE 88, 342, 347 = Buchholz 436.36 § 24 BAföG Nr. 16 S.20 und vom 08.06.1989 – 5 C 68.86, Buchholz 436.36 § 50 Nr. 5 S. 4; s.a. BSG, Urteil vom 11.04.2002 – B 3 P 8/01 R – juris Rn. 21[↩]
- vgl. BVerwG, Urteile vom 16.06.1997 – 3 C 22.96, BVerwGE 105, 55, 57 = Buchholz 316 § 39 VwVfG Nr. 25 S. 3; und vom 23.05.1996 – 3 C 13.94, Buchholz 451.513 Sonst. Marktordnungsrecht Nr. 1 S. 13[↩]
- vgl. zur Zulässigkeit, ein intendiertes Ermessen kraft Fachrechts anzunehmen z.B. BVerwG, Urteil vom 25.09.1992 – 8 C 68 u. 70.90, BVerwGE 91, 82, 90 f. = Buchholz 454.71 § 3 WoGG Nr. 6 S. 8 f.[↩]
- BGBl I S. 1469[↩]
- vgl. BVerwG, Urteile vom 17.09.1987 – 5 C 26.84 – a.a.O., 104 bzw. S. 12; und – 5 C 16.86 – a.a.O. S. 25[↩]
- vgl. BVerwG, Urteile vom 17.09.1987 – 5 C 26.84, BVerwGE 78, 101, 105 = Buchholz 436.36 § 20 BAföG Nr. 27 S. 13; und – 5 C 16.86, Buchholz 436.36 § 20 BAföG Nr. 29 S. 26[↩]
- BVerwG, Urteile vom 19.09.ö1987 – 5 C 26.84 und 5 C 16.86, jeweils a.a.O.[↩]
- vgl. BVerwG, a.a.O., 106 bzw. S. 13 und S. 26[↩]
- vgl. BVerwG, a.a.O.[↩]
- vgl. BVerwG, Urteile vom 19.02.2009 – 8 C 4.08; und vom 31.08.2006 – 7 C 16.05, Buchholz 428 § 31 VermG Nr. 12 Rn. 25[↩]