Für die Zuerkennung des Merkzeichens aG und damit die Nutzung von Behindertenparkplätzen ist die Gehfähigkeit im öffentlichen Verkehrsraum maßgeblich.

Kann der schwerbehinderte Mensch sich dort dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen, steht ihm -wenn auch die weiteren Voraussetzungen erfüllt sind- das Merkzeichen aG zu. Eine bessere Gehfähigkeit in anderen Lebenslagen, etwa unter idealen räumlichen Bedingungen oder allein in vertrauter Umgebung und Situation, ist für dessen Zuerkennung grundsätzlich ohne Bedeutung.
Dies entschied jetzt das Bundessozialgericht in zwei bei ihm anhängigen Fällen:
- Im ersten Fall1 streiten die Beteiligten über die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG (außergewöhnliche Gehbehinderung).
Der 1972 geborene Kläger leidet an einer fortschreitenden Muskelschwunderkrankung (Muskeldystrophie Typ Becker-Kiener) und einer Herzmuskelschwäche, die mit einem Defibrillator und Herzschrittmacher versorgt ist. 2017 beantragte er die Feststellung eines höheren als des bisher festgestellten Grads der Behinderung (GdB) von 60 und die Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen aG. Daraufhin stellte der Landkreis Zwickau den GdB mit 80 und den Fortbestand der bereits zuvor festgestellten Voraussetzungen des Merkzeichens G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) fest. Dabei bewertete der Landkreis die Muskeldystrophie mit einem Einzel-GdB von 60 und die Herzerkrankung mit einem Einzel-GdB von 50. Die Feststellung der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG lehnte er ab. Der hinsichtlich des Merkzeichens aG eingelegte Widerspruch des Klägers wurde zurückgewiesen.
Die Klage hat das Sozialgericht Chemnitz nach Befragung der behandelnden Ärzte und Einholung eines Gutachtens abgewiesen2. Auf die Berufung des Klägers hat das Sächsische Landessozialgericht den Landkreis Zwickau verpflichtet, zugunsten des Klägers ab 12. Februar 2020 die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG festzustellen3. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Voraussetzungen für das Merkzeichen aG seien ab dem Tag einer weiteren Begutachtung des Klägers im Berufungsverfahren festzustellen. Bei dem Kläger liege eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung vor, die einem GdB von mindestens 80 entspreche. Eine freie Gehfähigkeit im maßgeblichen normalen, mit Unebenheiten versehenen Lebensumfeld ohne Selbstverletzungsgefahr bestehe nicht mehr. Die Fähigkeit, im idealen Umfeld eines Krankenhausflures zu gehen, sei insoweit unschädlich. Die progrediente Muskelschwunderkrankung sei beim Kläger mit mittelgradigen Auswirkungen verbunden, die wegen der fehlenden Möglichkeit, die Arme zur Gleichgewichtskoordination oder zum Gebrauch einer Gehhilfe oder eines Rollators zu nutzen, mit einem Einzel-GdB von 80 zu bewerten seien.
Das Bundessozialgericht hat in diesem Fall die erste Voraussetzung für das Merkzeichen aG, eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung, als erfüllt angesehen. Da das Bundessozialgericht nicht abschließend entscheiden konnte, ob auch die zweite Voraussetzung erfüllt ist, wonach gerade die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung einem Grad der Behinderung von 80 entsprechen muss, wurde der Rechtsstreit auf die Revision des Landkreises Zwickau an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
- Der 2009 geborene Kläger des zweiten Verfahrens4 leidet an einem angeborenen Gendefekt mit globaler Entwicklungsstörung. Diese äußert sich unter anderem in einer Störung der Körpermotorik und des Verhaltens sowie einer mittelschweren Intelligenzminderung. Frei gehen kann der Kläger nur in vertrauten Situationen in der Schule oder im häuslichen Bereich, nicht jedoch in unbekannter Umgebung. Dort benötigt er beim Gehen wegen seiner psychischen Beeinträchtigung die Hilfe einer ihm bekannten Begleitperson, auf deren Unterarm er sich abstützen oder mit deren Hilfe er im Rollstuhl oder Reha-Buggy transportiert werden muss. Das Land Baden-Württemberg hat bei ihm zuletzt einen GdB von 80 festgestellt und ihm die Merkzeichen G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr), B (Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson) und H (Hilflosigkeit) zuerkannt, das Merkzeichen aG aber abgelehnt.
Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Ulm nach medizinischer Beweiserhebung das Land Baden-Württemberg verpflichtet, zugunsten des Klägers ab 11. Dezember 2018 – dem Tag seiner Begutachtung im Klageverfahren – die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG festzustellen5. Das Landessozialgericht Baden-Württemberg hat die dagegen gerichtete Berufung des Landes zurückgewiesen6. Die Parkvergünstigung durch dieses Merkzeichen sei gerade auf eine fremde Umgebung ausgerichtet. Sie solle dem behinderten Menschen die Erledigung alltäglicher Angelegenheiten erleichtern und damit seine Integration in die Gesellschaft fördern. Die geistige Behinderung des Klägers behindere seine Mobilität wesentlich. Behinderungsbedingt könne er sein motorisches Potenzial nur in vertrauter Umgebung und Situation ausschöpfen.
Gegenstand der beiden verhandelten Verfahren waren die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG (außergewöhnliche Gehbehinderung), das unter anderem zur Nutzung von sogenannten „Behindertenparkplätzen“ berechtigt. Voraussetzung für die Zuerkennung des Merkzeichens ist eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung, die einem Grad der Behinderung von mindestens 80 entspricht. Eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung liegt gemäß § 229 Absatz 3 Satz 2 SGB IX vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können.
Das Bundessozialgericht hat entschieden, dass für die Prüfung einer mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung in räumlicher Hinsicht die Gehfähigkeit im öffentlichen Verkehrsraum maßgeblich ist. Dies folgt aus dem Wortlaut des § 229 Absatz 3 Satz 2 SGB IX, der Regelungsgeschichte und dem Zweck des Merkzeichens aG, der vor allem darin besteht, mittels der gewährten Parkerleichterungen die stark eingeschränkte Gehfähigkeit durch Verkürzung der neben der Kraftfahrzeugbenutzung unausweichlichen Wegstrecke auszugleichen. Schließlich erfordern es auch die mit dem SGB IX verfolgten Ziele, dem Gehvermögen auf dem Weg zu Schule, Arbeitsstätte oder Arzt, beim Einkaufen und generell beim Besuch von Einrichtungen des sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens, besonderes Gewicht zuzumessen. Denn gerade das Aufsuchen solcher Einrichtungen fördert eine volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft.
- Im ersten Fall war dementsprechend die Revision des beklagten Landkreises Zwickau erfolglos. Der Kläger hat, so das Bundessozialgericht, Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG. Bei ihm besteht eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung infolge seiner psychomotorischen Entwicklungsstörung, die in ihren Auswirkungen einem Grad der Behinderung von 80 entspricht.
Die Gehunfähigkeit des Klägers bezieht sich auf den maßgeblichen öffentlichen (Verkehrs-)Raum. Dort benötigt er beim Gehen wegen seiner psychischen Beeinträchtigung die Hilfe einer ihm bekannten Begleitperson, auf deren Unterarm er sich abstützen oder von der er im Rollstuhl oder Reha-Buggy transportiert werden muss. Seine Gehfähigkeit in bestimmter vertrauter Umgebung und Situation, im schulischen oder häuslichen Bereich, schließt eine außergewöhnliche Gehbehinderung nicht aus. Der auf volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft gerichtete Sinn und Zweck des Schwerbehindertenrechts umfasst gerade auch das Aufsuchen veränderlicher und vollkommen unbekannter Einrichtungen des sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens.
In Bezug auf den so definierten räumlichen Bereich besteht die Teilhabebeeinträchtigung des Klägers in zeitlicher Hinsicht auch dauernd. Der Kläger leidet nicht an einer nur vorübergehenden Erkrankung, die seine Gehfähigkeit zeitweise beeinträchtigt. Vielmehr ist er nicht imstande, ohne fremde Hilfe frei zu gehen. Dass er ein größeres motorisches Potenzial wegen seiner geistigen Behinderung nicht abrufen kann, ist unerheblich. Wie die Neufassung der Voraussetzungen für das Merkzeichen aG in § 229 Absatz 3 SGB IX klarstellen sollte, kommt es nicht darauf an, aus welcher Diagnose oder Funktionseinschränkung die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung resultiert.
Diese erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung entspricht einem Grad der Behinderung von 80. Das folgt aus der zwischen den Beteiligten bindenden Regelung durch den Bescheid vom 4. Juli 2011. Sie berücksichtigt mit der psychomotorischen Entwicklungsstörung ausschließlich eine Funktionseinschränkung, die sich in relevanter Weise nachteilig auf die Gehfähigkeit des Klägers auswirkt.
- Im zweiten Fall führte die Revision des beklagten Landes Baden-Württemberg zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das Landessozialgericht. Das Bundessozialgericht konnte auf Grundlage der Tatsachenfeststellungen des Landessozialgerichts nicht abschließend entscheiden, ob dieses zu Recht den Anspruch des Klägers auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG bejaht hat.
Zwar besteht nach den Feststellungen des Berufungsgerichts beim Kläger eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung, weil er nicht mehr in der Lage ist, ohne Selbstverletzungsgefahr in einem Umfeld mit Bordsteinkanten, abfallenden oder ansteigenden Wegen und Bodenunebenheiten zu gehen. Die Gehfähigkeit lässt sich auch nicht durch Hilfsmittel wie Unterarmgehstützen oder einen Rollator verbessern. Denn der Kläger ist zu deren Nutzung nicht in der Lage. In einem solchen Umfeld ist er jedenfalls im Sinne des § 229 Absatz 3 Satz 2 SGB IX dauernd auf fremde Hilfe angewiesen.
Nicht abschließend entscheiden konnte das Bundessozialgericht jedoch, ob die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung des Klägers – wie vom Berufungsgericht angenommen – einem Grad der Behinderung von 80 entspricht. Dies aber fordert § 229 Absatz 3 Satz 1 SGB IX als zweite Voraussetzung für die Zuerkennung des Merkzeichens aG. Zwar werden die allgemeinen Regelungen zur Bestimmung des Grades der Behinderung durch diese Regelung dahingehend modifiziert, dass anstelle des Gesamt-Grades der Behinderung der Grad der Behinderung nur in Bezug auf die mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigungen zu ermitteln ist. Dabei sind alle Beeinträchtigungen zu berücksichtigen, die sich nachteilig auf die Gehfähigkeit auswirken. Das Berufungsgericht hat sich bei der Bewertung der die Gehfähigkeit des Klägers beeinträchtigenden Muskelschwunderkrankung zwar zutreffend an Teil B Nummer 18.6 der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (Versorgungsmedizinische Grundsätze) orientiert. Es hat aber zu den dort für die Feststellung einer Muskelschwäche mit mittelgradigen Auswirkungen genannten Voraussetzungen keine ausreichenden Feststellungen getroffen. Dies wäre jedoch erforderlich gewesen, um die Beeinträchtigungen des Klägers unter den genannten Tatbestand der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu subsumieren.
Bundessozialgericht, Urteile vom 9. März 2023 – B 9 SB 1/22 R