Berechnung der Altersrente für Wanderarbeitnehmer

Das europäische Unionsrecht steht einer Regelung über die Berechnungsmodalitäten für die Altersrente entgegen, die dem Umstand, dass der Betroffene auch in einem anderen EU-Mitgliedstaat gearbeitet hat, nicht hinreichend Rechnung tragen.

Berechnung der Altersrente für Wanderarbeitnehmer

Anlass für dieses Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union waren die spanischen Regelungen zur gesetzlichen Altersrente: Die spanischen Rechtsvorschriften – Artt. 161 und 162 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (Ley General de la Seguridad Social) – gewähren Anspruch auf eine beitragsabhängige Altersrente, sofern u. a. mindestens Beitragszeiten von insgesamt 15 Jahren zurückgelegt wurden. Die „Berechnungsgrundlage“ dieser Leistung wird durch Addition der Beitragsbemessungsgrundlagen des Erwerbstätigen während der 15 Jahre unmittelbar vor der Entrichtung des letzten in Spanien geleisteten Beitrags und Teilung dieses Ergebnisses durch 210 ermittelt. Dieser Teiler 210 soll der Gesamtzahl der während eines Zeitraums von 15 Jahren jährlich geleisteten zwölf ordentlichen und zwei außerordentlichen Beitragszahlungen entsprechen.

Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, Frau Salgado González, entrichtete in Spanien vom 1. Februar 1989 bis zum 31. März 1999 Beiträge zum Sondersystem für Selbständige und vom 1. März 2000 bis zum 31. Dezember 2005 Beiträge in Portugal. Sie beantragte eine Altersrente in Spanien, die ihr vom Nationalen Sozialversicherungsträger (Instituto Nacional de la Seguridad Social, INSS) mit Wirkung ab 1. Januar 2006 unter Zugrundelegung einer Berechnungsgrundlage von 336,86 € monatlich gewährt wurde.

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Bei der Prüfung, ob sie während des Mindestzeitraums von 15 Jahren Beiträge gezahlt hatte, berücksichtigte das INSS im Einklang mit dem Unionsrecht sowohl die in Spanien als auch die in Portugal zurückgelegten Zeiten. Für die Ermittlung der Berechnungsgrundlage addierte das INSS jedoch die spanischen Beitragsbemessungsgrundlagen vom 1. April 1984 bis zum 31. März 1999 – d. h. in den 15 Jahren vor Entrichtung des letzten von Frau Salgado González in Spanien geleisteten Beitrags – und dividierte sie durch 210. Da Frau Salgado González erst am 1. Februar 1989 begonnen hatte, Beiträge an die spanische Sozialversicherung zu entrichten, wurden die Beiträge zwischen dem 1. April 1984 und dem 31. Januar 1989 mit 0 angesetzt.

Frau Salgado González vertrat die Auffassung, dass in die Berechnung der Altersleistungen auch die von ihr in Portugal gezahlten Beiträge einzubeziehen seien, und beantragte, diese Berechnungsgrundlage zu überprüfen und auf 864,14 € monatlich festzusetzen. Da das INSS ihren Antrag ablehnte, wandte sich Frau Salgado González an die spanischen Gerichte.

Das mit dem Rechtsstreit befasste Tribunal Superior de Justicia de Galicia, das Berufungsgericht Galizien, legte in daraufhin dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen zur Auslegung einiger einschlägiger Vorschriften des Unionsrechts vor. Das Tribunal Superior de Justicia de Galicia weist darauf hin, dass es keine Zweifel habe, dass die in Portugal entrichteten Beiträge nicht in die Berechnung der von Spanien auszuzahlenden Altersrente einbezogen werden können. Es möchte jedoch vom Gerichtshof der Europäischen Union wissen, ob die spanische Regelung, die weder eine Anpassung der zugrunde gelegten Dauer des Beitragszeitraums noch des verwendeten Teilers ermöglicht, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der Erwerbstätige sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, mit dem Unionsrecht in Einklang steht, insbesondere, ob sie der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern1 sowie der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit2 entspricht.

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Im Wege eines solchen Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen nach der Auslegung des europäischen Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Europäischen Union vorlegen. Der Europäische Gerichtshof entscheidet dabei nur über die vorgelegte Rechtsfrage, nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist und bleibt Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.

Die spanische Regelung schaffe nämlich, so das galizische Gericht, eine Ungleichbehandlung zwischen Nichtwandererwerbstätigen und Wandererwerbstätigen. Zum einen falle bei gleichen Beitragszahlungen die Berechnungsgrundlage eines Wandererwerbstätigen aus der Union geringer aus als die eines Nichtwandererwerbstätigen, der nur in Spanien Beiträge entrichtet habe. Zum anderen bleibe einem Erwerbstätigen, je mehr er in einem anderen Mitgliedstaat als Spanien Beiträge zahle, umso weniger Zeit während seiner beruflichen Laufbahn, um seine Beiträge in Spanien – die als einzige für die Berechnung der Rente berücksichtigt werden könnten – zu entrichten.

In seinem jetzt verkündeten Urteil weist der Gerichtshof der Europäischen Union einleitend darauf hin, dass das Unionsrecht kein gemeinsames System der sozialen Sicherheit geschaffen hat, sondern eigene nationale Systeme bestehen lässt und einzig und allein bezweckt, diese zu koordinieren. So sind die Mitgliedstaaten weiterhin für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit zuständig. Gleichwohl müssen die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht und insbesondere die jedem Unionsbürger zuerkannte Freiheit beachten, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Daher dürfen die Wandererwerbstätigen nicht dadurch, dass sie ihr Recht auf Freizügigkeit ausgeübt haben, eine Verminderung des Betrags der Sozialversicherungsleistungen erleiden.

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Der Europäische Gerichtshof führt sodann aus, dass das Unionsrecht in Fällen, in denen nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats bei der Berechnung der Leistungen eine durchschnittliche Beitragsbemessungsgrundlage heranzuziehen ist – wie etwa in Spanien –, vorsieht, dass die durchschnittliche Beitragsbemessungsgrundlage ausschließlich nach Maßgabe der Höhe der tatsächlich entrichteten Beiträge zu berechnen ist. Dagegen hat das INSS für die Ermittlung der Berechnungsgrundlage für die Leistung für Frau Salgado González offensichtlich nicht nur die tatsächlich in Spanien entrichteten Beiträge berücksichtigt, sondern auch fiktive Beitragszeiträume vom 1. April 1984 bis zum 30. Januar 1989, um die 15 Jahre vor der Entrichtung des letzten Beitrags der Betroffenen in Spanien zu vervollständigen. Da diese Zeiträume zwangsläufig mit 0 angesetzt wurden, hatte ihre Einbeziehung eine Verminderung der durchschnittlichen Beitragsbemessungsgrundlage zur Folge. Fest steht, dass eine solche Verminderung nicht erfolgt wäre, wenn Frau Salgado González nur in Spanien Beiträge entrichtet hätte, ohne ihr Recht auf Freizügigkeit auszuüben. Dieses Ergebnis steht im Widerspruch zum Unionsrecht.

Der Gerichtshof der Europäischen Union fügt hinzu, dass es sich anders verhalten würde, wenn die spanischen Rechtsvorschriften Mechanismen vorsähen, mit denen die Ermittlung der Berechnungsgrundlage für die Altersrente angepasst werden könnte, indem berücksichtigt würde, dass der Erwerbstätige sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat. Im vorliegenden Fall könnte der Teiler angepasst werden, um der Zahl der Beitragszahlungen für ordentliche und außerordentliche Entgelte, die der Versicherte tatsächlich geleistet hat, Rechnung zu tragen.

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Daher antwortet der Gerichtshof der Europäischen Union, dass das Unionsrecht einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach die Berechnungsgrundlage für die Altersrente des Selbständigen unabhängig davon, ob er Wandererwerbstätiger ist oder nicht, unveränderlich auf Basis der durch einen festen Teiler dividierten Beitragsbemessungsgrundlagen dieses Erwerbstätigen während eines fixen Referenzzeitraums vor der Entrichtung seines letzten Beitrags in diesem Mitgliedstaat berechnet wird, wobei weder die Dauer dieses Zeitraums noch dieser Teiler angepasst werden können, um den Umstand zu berücksichtigen, dass der betroffene Erwerbstätige sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat.

Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 21. Februar 2012 – C-282/11 [Salgado González / INSS, TGSS]

  1. in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996, ABl.EG 1997, L 28, S. 1, geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 629/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2006,ABl. L 114, S. 1[]
  2. ABl.EU L 166, S. 1, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 988/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009, ABl.EU L 284, S. 43[]